Mit Seelsorgern im Matsch von Wacken: "Die Leute sind dünnhäutiger"
Annika Woydack und Lars Wulff stapfen durch den Matsch des Rockfestivals in Wacken. Sie kreuzen den Weg eines Mannes mit Hörnerhelm. Woydack lobt seine zünftige Wikinger-Kluft. Erfreut gibt er das Kompliment an seine Begleiter weiter.
Regen ist das Publikum des am Mittwoch offiziell gestarteten "Wacken Open Air" gewohnt. Doch in diesem Jahr nahmen die Wassermassen zum Auftakt des weltweit bekannten Heavy-Metal-Festivals ungewohntes Ausmaß an. Die Campingplätze ersoffen im Regen. Erstmals verhängte die Festivalleitung einen Anreisestopp. Statt der erwarteten 85.000 Besucher sollen nun nur rund 50.000 auf dem Gelände sein. Mancher Fan musste draußen bleiben.
Eine Ausnahmesituation auch für das Seelsorgeteam, das in einem Zelt zwischen Sanitätsstation und Polizeiposten eine Anlaufstelle für Personen mit Sorgen und Problemen bietet. Die widrigen Verhältnisse wirkten sich aus, sagt Woydack. "Die Leute sind dünnhäutiger. Gerade, wenn sie lange, strapaziöse Anreisen hatten."
"Komfortabel ist das nicht"
Als Landesjugendpastorin der evangelischen Nordkirche obliegt Woydack die Koordination des Beratungsangebots. 20 Psychotherapeuten, Sozialpädagogen, Erzieher, Pastoren und Diakone bringen sich ein. Die Konfession ist nicht ausschlaggebend. Zu den erfahrensten Beratern zählt beispielsweise der katholische Diakon Lutz Neugebauer, der im Erzbistum Hamburg für Notfallseelsorge verantwortlich ist.
Das Engagement auf dem noch bis Samstag dauernden Metal-Festival passe in den Rahmen kirchlicher Tätigkeit, meint Woydack. "Gott stellt uns hin in die Welt, um da zu sein, wo Menschen sind, und ihnen zuzuhören." Alle Mitwirkenden arbeiten ehrenamtlich und übernachten in Schlafsälen. "Komfortabel ist das nicht", sagt Woydack und lacht. Und dennoch mangelte es nicht an Bewerbungen für die Beratungstätigkeit.
Vor 13 Jahren wurde die Seelsorge auf dem "Wacken Open Air" auf Initiative der Veranstalter ins Leben gerufen. Man hatte beobachtet, dass es unter den Besuchern immer wieder Menschen mit Gesprächsbedarf gibt. Dass Trost und Unterstützung gesucht werden in unmittelbaren Krisen oder weil die besonderen Umstände des Festivals bestehende Konflikte verschärfen.
Von Totenköpfen und Teufelshörnern – Religion auf dem Wacken Open Air
Morgen startet das weltgrößte Heavy-Metal-Festival im norddeutschen Wacken. Neben langen Haaren und schwarzer Kleidung gehören auch anti-religiöse Symbole zu den Erkennungszeichen der Fans. Wie ernst meinen sie es damit wirklich?
Die Erfahrungen zeigten, dass mehr Personal und eine umfassende Koordination erforderlich waren – ein Aufwand, den eine einzelne Kirchengemeinde nicht leisten kann. Die Aufgabe wurde der Jungen Nordkirche übertragen. Andere Festivals folgten dem Modell.
Die örtliche evangelische Gemeinde beteiligt sich mit einem eigenen Programm. Erstmals steht ihre Kirche den Gästen des zumeist lauten Festivals zu bestimmten Zeiten als Rückzugsort offen. Am Mittwochabend wurde sie bei einem besonderen Gottesdienst zur "Metal Church". Am Donnerstag heirateten zwei Festivalbesucher.
Die Seelsorger arbeiten in drei Schichten, jeweils zu sechst. Sie sind an ihrer blau-gelben Dienstkleidung erkennbar und kommen unter normalen Umständen leicht ins Gespräch. In diesem Jahr, berichtet Lars Wulff, richten viele Besucher ihre Blicke nach unten, auf der Suche nach dem besten Weg durch den Schlamm.
Bei aller Freude auch viel Not zu spüren
Unterhaltungen beginnen meist mit einer freundlichen Bemerkung oder einer kleinen Frotzelei. Scherze bieten eine Anknüpfungsmöglichkeit, über Probleme zu sprechen, für die Freunde und Bekannte kein Ohr haben – schon gar nicht, während sie auf einem Festival ihrer Feierlaune nachgeben. Manchmal wird die Begegnung im geschützten Beratungszelt fortgesetzt.
Besonders gefragt war die Festivalseelsorge im vergangenen Jahr. Beim ersten "Wacken Open Air" nach der Corona-Pandemie hatten die Seelsorge 350 Gespräche und Kontakte – doppelt so viele wie früher. "Nach Corona erstmals wieder mit so vielen Menschen auf so engem Raum, das hat bei manchen Panikattacken und Verstörungen ausgelöst", berichtet Leiterin Woydack. "Da war bei aller Freude auch viel Not zu spüren. Den meisten ging es aber relativ schnell wieder gut."
Im regennassen Jahr 2023 scheint es ähnlich zu sein. Als Annika Woydack und Lars Wulff ihre Runde drehen, scheint die Sonne. Sie schauen in fröhliche Gesichter. Die typische Wacken-Stimmung setzt sich langsam durch: eine besondere Mischung aus Feierlaune, Musikbegeisterung und Hilfsbereitschaft.