Warum Gläubige woanders in die Messe gehen
"Bei mir sitzt jeden Sonntag eine andere Pfarrei in der Messe", sagt Pfarrer Rainer Maria Schießler. Der umtriebige Münchner Priester, dem man die bayerische Herkunft bei jeder Silbe anhört, ist in der Kirche St. Maximilian am Isarufer zu Hause. Seine Sonntagsmessen sind ein Anziehungspunkt – vor allem für Menschen, die nicht dort wohnen. Schießler hat das mal erhoben: 85 Prozent seiner Messbesucher gehören nominell eigentlich zu einer anderen Pfarrei.
Etwas ähnliches erlebt Pfarrer Stephan Kessler. Würden bei ihm am Sonntag nur Pfarreimitglieder kommen, wäre die Kirche relativ leer. Denn seine Pfarrei Sankt Peter in der Kölner Innenstadt hat nur um die 300 Mitglieder – die Folge einer entvölkerten Stadtmitte, wie es sie in vielen deutschen Großstädten gibt. "Die Leute kommen wegen unseres besonderen Profils hierher – und das ganz bewusst auch von weiter weg", sagt er. Mit der angeschlossenen Kunst-Station ist die Kirche ein Unikum in der Stadt und sorgt mit Ausstellungen, Events und besonderen Konzerten auch überregional für Aufsehen. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wurde sie bewusst als Personalgemeinde wiederbelebt – sie hat also nicht in erster Linie ein Gebiet als seelsorgliche Grundlage, sondern geht von den Bedürfnissen der Gläubigen aus, die dort hinkommen.
Das wirft ein Schlaglicht auf die lange Tradition des Prinzips Pfarrei in der Kirche, das eigentlich immer territorial gedacht wurde. Schon seit Jahrhunderten gibt es Pfarreien im Christentum, heute hat die Kirche den Anspruch, dass alle Christen weltweit zu einer Pfarrei gehören. Besonders in den europäischen Ländern mit ihrem lange praktizierten Staatskirchensystem verschmolz nicht selten die kirchliche Mitgliedschaft mit der Zugehörigkeit zur weltlichen Kommune.
USA als Ursprung
"Das ist in den USA anders", erklärt der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack. "Dort wurden die Gemeinden nicht von oben her durch eine hierarchische Struktur geschaffen, sondern andersherum: Dort waren die Kirchen oft die ersten Gebäude, die in einer neu entstehenden Siedlung gebaut wurden." Daraus entwickelte sich ein völlig anderes Kirchenverständnis: Die US-Amerikaner suchen sich ihre Gemeinde nach ihren Bedürfnissen selbst aus – auch über Konfessionsgrenzen hinweg. Dort geht man nicht unbedingt in die Kirche um die Ecke, sondern dorthin, wo einem die Musik oder der Pfarrer am besten gefällt oder wo Leute mit einem ähnlichen Einkommen, familiären Hintergrund oder der gleichen Hautfarbe zur Messe gehen. Wohin man zum Gottesdienst geht, kann sich deshalb auch im Laufe des Lebens ändern: Wer im Job aufsteigt, kann das als Anlass nehmen, von der Mittelklasse-Gemeinde bei den Katholiken zu den besserverdienenden Evangelikalen zu wechseln – einfach, weil man sich dort nun mehr zugehörig fühlt.
Seit einigen Jahrzehnten gibt es dieses Phänomen ebenso in Europa und damit auch in Deutschland. Hierzulande hat das mit den gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne zu tun. "Wie in anderen Bereichen in unserer modernen Gesellschaft ist den Menschen auch in der Religion individuelle Entscheidungsfreiheit wichtig. Sie wollen auch die Herren ihres eigenen Glaubens sein", so Pollack. "Kirchliche Entscheidungen, christliche Lehren nehmen sie nicht so einfach hin, sondern hinterfragen sie." So kommt es, dass in manchen Kirchen sonntags nur 30 oder 40 Gläubige sitzen, in anderen aber 500. So zum Beispiel bei Pfarrer Schießler. "Als Innenstadtkirche ist es unsere Aufgabe, in den Gottesdiensten über das Viertel hinaus anschlussfähig zu sein", erklärt er. Das heißt für ihn: Keine speziellen Texte oder Lieder, mit denen außerhalb der Isarvorstadt niemand etwas anfangen kann. "Wir brauchen ein Angebot, das für alle zugänglich ist." Für ihn ist das ein im wahrsten Sinne des Wortes "katholischer" Ansatz: Die verschiedenen Menschen im Gottesdienst zusammenbringen. "Verschiedenheit ist keine Gefahr, sondern sie erfreut und wir sind froh, dass wir Leute von auswärts haben, die mit uns feiern." Auf die Kerngemeinde werden die Gottesdienste unter der Woche zugeschnitten.
Die "Laufgemeinde" sonntags komme auch, weil sie sich die Intensität des Kontakts selbst aussuchen dürfe, erzählt Schießler. "Die Leute sind froh, dass sie zu uns kommen können, ohne dass sie jemand gleich für ein Pfarreiamt abfangen will." Er selbst habe die Menschen mal gefragt, warum sie kommen: Predigten zu aktuellen Themen, unabhängig von der Ortsgemeinde, eine ansprechende Kirchenmusik und gemeinsames Beisammensein nach dem Gottesdienst sind ebenso Anziehungspunkte wie eine bedingte Anonymität. Die spielt neben dem kulturellen Programm auch in Köln eine Rolle. "Wir haben hier eine Sonntagsgemeinde. Die Leute kommen sonntags zur Messe, gehen danach aber auch wieder nach Hause und müssen die anderen Gläubigen nicht unter der Woche treffen. Da haben wir dann zwar auch Gottesdienste, die sind aber bei Weitem nicht so gut besucht", sagt Kessler.
Tradition des Konzils
Er sieht seine Gemeinde in der besten Tradition des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65). "Das Konzil hat in Ergänzung des Ortsprinzips ein personales Gemeindemodell gestärkt." Aus staatskirchenrechtlichen Gründen gibt es bisher in Deutschland kaum Personalpfarreien, prägnante Ausnahme ist etwa die Katholische Gehörlosengemeinde im Bistum Trier. "Da läge jedoch eine Chance", sagt er. Im Kirchenrecht heißt es: "Die Pfarrei hat in aller Regel territorial abgegrenzt zu sein und alle Gläubigen eines bestimmten Gebietes zu umfassen; wo es jedoch angezeigt ist, sind Personalpfarreien zu errichten, die nach Ritus, Sprache oder Nationalität der Gläubigen eines Gebietes oder auch unter einem anderen Gesichtspunkt bestimmt werden." (Can. 518 CIC) Kirchenrechtlich ist Sankt Peter mit ihrem kleinen Pfarreigebiet bislang lediglich eine Personalgemeinde. Als Personalpfarrei würde ihr Anspruch, Gläubige überregional durch besondere kulturelle und liturgische Angebote anzusprechen, deutlicher werden, so Kessler. "Die Bindungskraft einer Gemeinde in einer postmodernen Gesellschaft wächst stärker, wenn Kirche sich jenseits der bestehenden Blase bewegt, etwa wenn es um soziale oder kulturelle Schwerpunkte geht."
Doch hinter der bewussten Entscheidung für und gegen eine konkrete Kirchengemeinde steckt noch mehr, sagt Pollack. "Sie verrät auch etwas über die Bindung zur Kirche und zum Glauben insgesamt. Wer sich aus eigenem Antrieb einen neuen Gottesdienstort sucht, zeigt damit, dass ihm der Glaube wichtig ist." Diese Glaubensdynamik allerdings schwächt sich in Europa immer mehr ab. "Die Menschen verlassen die Kirche zwar oft in der Überzeugung, dass sie sie für ihren Glauben nicht benötigen. Aber es sind dann doch nicht sehr viele, die sich zum Glauben halten, nachdem sie erst einmal ausgetreten sind", so Pollack.
"In Europa stellt sich die Frage: Religion oder nicht Religion. Zwischen den Konfessionen wird nur wenig gewechselt", sagt er weiter. Auch das sei unter anderem eine Folge des Staatskirchensystems. In den USA hat dagegen fast die Hälfte aller Menschen (44 Prozent) schon einmal die Konfession in ihrem Leben gewechselt, ein knappes Drittel (28 Prozent) sogar die Religion. In Deutschland hält Pollack das für ein Randphänomen. "Religion spielt bei uns wie in vielen europäischen Ländern schlicht eine nachgeordnete Rolle. Das ist in den USA noch anders, wobei auch dort der Anteil der Konfessionslosen mit jedem Jahr weiter zunimmt."
Kritik an selbstständiger Auswahl
Doch es gibt durchaus Kritik an der selbstständigen Messauswahl der Gläubigen. Der Görlitzer Bischof Wolfgang Ipolt beklagte erst im Juli: "Was mir Sorgen macht, ist, dass manche Katholiken ihre Teilnahme an der Sonntagsmesse abhängig davon machen, ob ihnen der Pfarrer zusagt oder nicht." Er kritisiert, dass der Messbesuch wie andere Teile des Privatlebens persönlichen Vorlieben untergeordnet werden. Einen anderen Aspekt spricht der Paderborner Pastoraltheologe Herbert Haslinger in einem Interview an: "Die Verwurzelung des Seelsorge-Personals in den Lebenswirklichkeiten der Menschen ist aber die unabdingbare Grundlage für eine fundierte Seelsorgepraxis." Es soll also nicht nur darum gehen, sonntags in einen schönen Gottesdienst zu gehen – Kirche soll auch an den anderen sechs Wochentagen einen Platz im Leben haben. Dafür ist die Anwesenheit am Ort entscheidend.
Das zeigt auch eine gegenläufige Bewegung zu Gottesdienstwanderungen: Denn wo Leute zwar zur Kirche gehen wollen, aber nicht an ihrem Ort, gibt es auch Leute, die die Kirche am Ort wollen, ohne hinzugehen. Das Phänomen gibt es vor allem in Ostdeutschland, wo wegen der geringen Kirchenbindung gerade zahlreiche Dorfkirchen vor der Aufgabe stehen. Dort haben sich allerdings einige Kirchbauvereine gegründet, die die Gebäude als identitätsstiftende Orte erhalten wollen, ohne eine ausschließlich gottesdienstliche Nutzung anzustreben. Ihnen geht es nicht um den Gottesdienst, sondern um den Ort an sich.
An beiden Phänomenen wird klar, wie unterschiedlich die Rezeption von Religion in einer individueller werdenden Gesellschaft wie der deutschen ist. Neben der eigenen, selbstgewählten Bindung an einen Gottesdienstort steht die ortsgebundene Formung einer Identität. Beide zeigen, wie vielfältig Kirche und Gesellschaft in der Moderne zusammenspielen.