Experten von Misereor und missio fürchten "demokratischen Rückschritt"

Nach Putsch in Niger: Kirchliche Hilfswerke sehen äußerst heikle Lage

Veröffentlicht am 12.08.2023 um 12:09 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Berlin ‐ Mali, Guinea, Burkina Faso, Tschad – die Liste der Putsche in der Sahelzone wird seit Jahren immer länger. Nun fiel auch im Niger die demokratische Regierung einem Putsch zum Opfer. Die Hilfswerke Misereor und missio sind tief besorgt. Für katholisch.de haben sie die aktuelle Lage analysiert.

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Gut zwei Wochen nach dem Putsch im Niger beobachtet auch die katholische Kirche die Situation in dem westafrikanischen Land mit großer Sorge. "Der derzeitige Militärputsch bringt Niger und die Region in eine äußerst heikle Lage. Er könnte das Land in seiner politischen Entwicklung um Jahre zurückwerfen, den Terroristen in der Region in die Hände spielen, die Probleme der Staatsführung, die die Putschisten angeblich lösen wollen, verschärfen und den Zerfall Westafrikas herbeiführen", erklärte der für die Sahelzone zuständige Länderreferent des Entwicklungshilfswerks Misereor, Raoul Bagopha, am Freitag auf Anfrage von katholisch.de.

Ähnlich äußerte sich der Leiter der Auslandsabteilung des katholischen Hilfswerks missio, Frank Kraus. Seiner Ansicht nach wird die betroffene Region politisch jetzt noch instabiler und die Sicherheitslage prekärer. "Das hat Auswirkungen auf die humanitäre Lage der Menschen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Religion in stärkerem Maße machtpolitisch instrumentalisiert wird. Das polarisiert und spaltet einerseits die muslimischen Mehrheitsgesellschaften, andererseits hat das für Minderheiten wie die Christen unkalkulierbare Folgen", so Kraus.

Gefahr eines größeren militärischen Konflikts und Ernährungskrise

Ende Juli hatte das Militär im Niger unter General Abdourahmane Tchiani gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum geputscht und die Macht übernommen. Dadurch wurden das Land mit seinen rund 26 Millionen Einwohnern und die gesamte Region in eine besorgniserregende Krise gestürzt. Neben der Gefahr eines größeren militärischen Konflikts innerhalb des Niger sowie mit den Nachbarstaaten Mali und Burkina Faso droht mittlerweile auch eine Ernährungskrise, denn die Lebensmittelpreise im Niger sind seit dem Putsch bereits stark gestiegen.

„Kein Putsch hat die Sicherheitslage tatsächlich verbessert, im Gegenteil. Die Lage wird nur unübersichtlicher und ist kaum noch berechenbar.“

—  Zitat: Missio-Experte Frank Kraus über die Situation in der Sahelzone

Bagopha und Kraus verwiesen gegenüber katholisch.de darauf, dass der Putsch im Niger sich in eine ganze Reihe von Putschen in der Sahelzone in den vergangenen Jahren einreihe. Die Region erlebe einen "deutlichen demokratischen Rückschritt" und befinde sich in einer schweren politischen Instabilität, so Bagopha. Und weiter: "Mali und Burkina Faso haben zwischen 2020 und 2022 allein vier Staatsstreiche erlebt und befinden sich in politischen Übergangsprozessen, deren Ausgang völlig ungewiss ist." Kraus verwies zudem auf die fragwürdigen Begründungen der Militärs für ihre Interventionen. Die Putschisten in Burkina Faso, Mali und jetzt im Niger hätten für ihre jeweilige Machtübernahme auch die prekäre Sicherheitslage angeführt. "Aber kein Putsch hat die Sicherheitslage tatsächlich verbessert, im Gegenteil. Die Lage wird nur unübersichtlicher und ist kaum noch berechenbar", sagte Kraus. Gewalt, Korruption, der geostrategische Kampf um weltweit begehrte Rohstoffe, der wirtschaftliche Egoismus der politischen und militärischen Eliten, eine perspektivlose Jugend, antiwestlicher Populismus  – diese Melange komme einem Pulverfass gleich.

Auch den wachsenden Einfluss Russlands in der Region beobachten die beiden Hilfswerke mit Sorge. Russland schüre den vorhandenen antiwestlichen Populismus in der Sahelzone und empfehle sich der desillusionierten Jugend als antikoloniale Alternative, betonte Kraus. Und weiter: "Gleichzeitig importiert Russland auch eine menschenrechtsfeindliche Ideologie, die das gesellschaftliche Klima weiter aufheizt. Dabei hat Russland nur eigene geostrategische Interessen, ihnen ist die Jugend egal. Hier ist eine weitere Enttäuschung der Jugend vorprogrammiert. Russland wird den Menschen nicht helfen." Bagopha ergänzte, dass Moskau in der Sahelzone auch die Fehler und Schwächen der ehemaligen Kolonialmächte wie Frankreich ausnutze, um seinen Einfluss in der Region zu stärken.

"Moskau ist in manchen Fällen nur ein Mittel zum Zweck"

Zugleich warnte der Misereor-Experte jedoch davor, hinter jedem Staatsstreich sowie jedem politischen und strategischen Umbruch in der Region die "Hand Moskaus" zu sehen. Russland sei schließlich nicht das einzige Land, das in der Region eigene Interessen verfolge, so Bagopha. China etwa tue dies ebenfalls. Zudem hätten auch die Länder der Sahelzone selbst eine eigene Agenda und Logik, die sie dazu bringe, Russland für ihre Zwecke zu benutzen. "Moskau ist in manchen Fällen nur ein Mittel zum Zweck, ein Zaungast oder ein Trittbrettfahrer", so das Urteil des Experten.

Einig zeigten sich beide Hilfswerke bei der Frage nach den Auswirkungen des Putsches im Niger auf die Fluchtbewegungen von Afrika Richtung Europa. Zu unmittelbar steigenden Flüchtlingszahlen werde der Putsch wohl nicht beitragen, eher werde die Zahl der Binnenvertriebenen ansteigen. "Es sind die Nachbarländer, die nach wie vor am stärksten von der Migration von Menschen betroffen sind, die gezwungen sind, ihre Heimatländer zu verlassen. Die Aufmerksamkeit sollte sich daher auf Binnenvertriebene und die aufnehmenden Gemeinschaften konzentrieren", appellierte Bagopha. Sollte sich die Lage in der Region in den kommenden Jahren jedoch weiter verschlechtern und insbesondere die Jugend merken, dass sie keine Zukunft habe, dann werde sie gehen, ergänzte Kraus.

Bild: ©David Alary/Fotolia.com

Die Staaten der Sahelzone – unter anderem Burkina Faso, Mali und Niger – wurden in den vergangenen Jahren von zahlreichen Militärputschen erschüttert.

Wie sollten Europa und Deutschland auf die aktuelle Situation nach dem Putsch reagieren? Bagopha empfiehlt "Zurückhaltung und Demut". Europa solle es aushalten, dass die Länder der Sahelzone ihre Souveränität ausübten und nach eigenen Lösungen für ihre inneren Widersprüche suchten. "Sie sollten sich nur dann äußern und Stellung beziehen, wenn sie von den betroffenen Ländern explizit darum gebeten wurden", so der Misereor-Experte.

Putsch bedroht auch katholische Entwicklungsprojekte

Missio-Mann Kraus verwies darauf, dass die Wirtschafts- und Handelspolitik der Europäischen Union gegenüber Staaten wie Niger, Burkina Faso oder Mali in der Vergangenheit nicht immer fair war. Hier könnten Deutschland und Europa ansetzen. Zudem solle die deutsche und europäische Politik nicht nur auf Gespräche mit staatlichen Stellen setzen, sondern sehr viel stärker auch das Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Religionen suchen. "Diese stehen an der Seite der einfachen Menschen und verfügen über eine Expertise von Land, Gesellschaft und Leuten, die die westliche Politik einfach nicht nutzt. Das ist ein Fehler. Denn Religion durchdringt im globalen Süden so sehr den Alltag der Menschen, dass Politik und Diplomatie allein auf zwischenstaatlicher Ebene blind bleiben", sagte Kraus.

Beide Hilfswerke sind von den Entwicklungen in der Sahelzone auch selbst betroffen, da sie in der Region – meist mit lokalen Partnern – zahlreiche Entwicklungs- und andere Hilfsprojekte betreiben. "Die anhaltende Bedrohung durch islamistische Terrorbewegungen und die jüngste Welle wiederholter Staatsstreiche in der Sahelzone beeinträchtigen und verändern zunehmend die Arbeit unserer Partner vor Ort und wirken sich durch sie auch auf unser Engagement aus", warnt Misereor-Mitarbeiter Bagopha. Die Mobilität der Akteure sei stark eingeschränkt, die für die Arbeit notwendigen Ausrüstungen oder Produkte würden knapper, und es gebe immer wieder Angriffe auf Mitarbeiter und Versuche bewaffneter Gruppen, Fahrzeuge und Materialien zu entwenden. "Die Mitarbeiter*innen stehen unter ständigem oder sogar zunehmendem psychologischen Druck, der Zugang zu benachteiligten Bevölkerungsgruppen in abgelegenen Regionen wird immer komplizierter und riskanter. Kurzum, die Entwicklungen der vergangenen Jahre und die instabile Lage in Sahelländern wie Mali, Burkina und Niger erfordern mehr Ressourcen und Einfallsreichtum."

Von Steffen Zimmermann