Soziologin: Mit strenger Abtreibungspolitik steigt Dunkelziffer
Seit einiger Zeit wird auch in Deutschland wieder verstärkt über die Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen diskutiert. Aber welche Folgen hat eine restriktive Politik? Die Soziologin Maria Skóra ist Leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik in Berlin. Im Interview mit katholisch.de spricht sie über Schwangerschaftsabbrüche in verschiedenen Ländern und der Instrumentalisierung durch die Politik.
Frage: Frau Skóra, mit Blick auf die Regelungen für Schwangerschaftsabbrüche: Wie weit ist das Spektrum da in Europa?
Skóra: Sehr breit. Es gibt Länder, in denen solche Eingriffe erlaubt oder zumindest straffrei sind und es gibt Länder wie Malta, wo sie vollkommen verboten sind. Dazwischen sind dann Länder wie Polen, in denen eine Abtreibung nicht komplett verboten, aber sehr schwer zugänglich ist. 2020 wurden 90 Prozent aller Gründe, die einen Schwangerschaftsabbruch legal machen, vom Verfassungsgericht gekippt. Dabei waren die offiziellen Zahlen dort sowieso schon ziemlich gering.
Frage: Führt denn eine restriktive Politik zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen?
Skóra: Nein, lediglich die Dunkelziffer steigt. Wo die liegt, kann man aber natürlich nur schätzen. Feministische Organisationen und die Pro-Life-Bewegung schätzen unterschiedliche Zahlen. Demnach kann man etwa für Polen von Zahlen zwischen 80.000 und 200.000 Abtreibungen pro Jahr ausgehen. Das sind in beiden Fällen deutlich mehr als die amtlich verzeichneten 1076 im Jahr 2020 und 107 in 2021, nachdem das Gesetz geändert wurde. Da werden Frauen also in den Untergrund gedrängt – oder ins Ausland, wo es liberalere Regelungen gibt. Doch es geht nicht nur um die Gesetze, sondern auch um das soziale oder soziokulturelle Umfeld. In Polen haben beispielsweise gerade viele Ärzte Angst oder bekommen Druck von ihren Vorgesetzten – das führt auch dazu, dass das Angebot kleiner wird. Dazu kommen Einzelfälle: 2022 hatte eine Frau einer anderen zu sogenannten Abtreibungspillen verholfen – und landete dafür vor Gericht. Das schüchtert Frauen natürlich auch ein. Das Recht ist die eine Sache, die andere aber die gesellschaftliche Stimmung, die man in Polen ohne zu übertreiben mit dem Wort "Angst" bezeichnen kann.
Frage: Von welchen Faktoren hängt eine solche gesellschaftliche Stimmung denn ab? Auch vom Glauben?
Skóra: Jein. Erst einmal geht es um die grundsätzliche Frage, ob man einen Fötus in erster Linie für einen kleinen Menschen oder lediglich für eine Vorform hält. Es hat aber auch mit der Glaubenstradition zu tun. In Polen ist die katholische Kirche sehr traditionell. Die Kirchenleitung dort hat nicht mitbekommen, dass sich die Zeiten auch in ihrem Land geändert haben: Mehr als zwei Drittel der polnischen Bevölkerung sind mit der momentanen Situation um Schwangerschaftsabbrüche unzufrieden. Wahrscheinlich hat die Regierung auch deswegen bei der Änderung der Abtreibungsregelungen den Weg über eine Gerichtsentscheidung gewählt, weil die Gesetzesänderung auch im Sejm keine sichere Mehrheit gehabt hätte – und da hat die Regierungspartei PiS die Mehrheit. Denn auch unter den Katholiken in Polen gilt diese Regelung als sehr radikal.
Frage: Aber die Kirche übt Einfluss aus?
Skóra: Nicht direkt. Es gibt eine große Landschaft an katholischen oder kirchennahen Organisationen, die Lobbyismus betreiben. NGOs oder Stiftungen versuchen, die Interessen der katholischen Kirche umzusetzen, etwa wenn es um Abtreibungen oder den Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt geht. Abtreibung ist dabei eines der Hauptthemen.
Frage: Wieso?
Skóra: Weil es nicht nur für gläubige Menschen wichtig ist, sondern ganz zentrale Lebensfragen betrifft: Wann fängt das Leben an, wann ist man ein Mensch? Diese Themen, gemeinsam mit dem Thema Kinder, ist für ganz viele Menschen anschlussfähig, nicht nur für gläubige Menschen.
Frage: Auch Irland gilt als sehr katholisch geprägtes Land. Dort stimmte die Bevölkerung in einem Referendum 2018 für die Abschaffung des Verbots. Was ist dort anders?
Skóra: Das hat viel mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche zu tun. Der hat in Irland nochmal eine ganz andere Intensität als in Frankreich oder auch Deutschland. Anders als etwa in Polen gab es in Irland beispielsweise viele katholische Schulen, sodass der Missbrauch tiefer in der Gesellschaft spürbar ist. Zudem war die Kirche institutionell sehr tief in die irische Politik involviert. Da hat der Missbrauchsskandal zu einer tektonischen Verschiebung in der irischen Gesellschaft geführt. Das ist in Irland besonders weit vorangeschritten, aber diese Tendenzen gibt es natürlich überall. Auch in Polen geht die junge Generation nicht mehr in die Kirche, es gibt kaum Priesterberufungen. Auch dort gibt es Säkularisierungstendenzen. Gleichzeitig glaubt die Kirche aber weiter, sich in der gleichen Machtposition wie vor Jahrzehnten zu befinden. Deshalb versucht sie, noch so viele Anliegen durchzubringen wie möglich, so lange das politisch noch umsetzbar ist.
Frage: Und das scheint zu funktionieren.
Skóra: Weil die Regierung die Kirche als Rechtfertigungsgrundlage braucht. Die Kirche hat im vergangenen Wahlkampf viel Werbung für die PiS gemacht – und dass muss die Regierung ihr jetzt zurückzahlen. Schon im Wahlkampf war ganz klar, was die Kirche von der Regierung nach ihrem Wahlsieg im Gegenzug für die Unterstützung von der Kanzel erwarten würde.
„Schon im Wahlkampf war ganz klar, was die Kirche von der Regierung nach ihrem Wahlsieg im Gegenzug für die Unterstützung von der Kanzel erwarten würde.“
Frage: Welche Rolle spielt da der Marsch für das Leben?
Skóra: Der ist definitiv ein Tool des Lobbyismus'. Das muss gar nicht negativ sein. Die Teilnehmenden versuchen, ihre Argumente und Ansichten zu präsentieren. Viele Interessengruppen machen das und sie haben ein Recht darauf. So eine öffentliche Demonstration ist immer noch transparenter als Hinterzimmergespräche.
Frage: Auch in Deutschland wird wieder über den Paragraphen 218 diskutiert. Wie schätzen Sie denn die Regelung in Deutschland ein?
Skóra: Umstrittene Themen waren das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, das 2019 als Recht auf Information abgehandelt wurde und heute die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches. Anders als in Polen ist in Deutschland der Zugang zu einem legalen und sicheren Schwangerschaftsabbruch jedoch sicher. Die Frauen müssen keine Gründe nennen, müssen sich aber einer obligatorischen Beratung unterziehen. 2022 ist mit etwa 104.000 die Zahl von Abtreibungen gestiegen verglichen zum Jahr zuvor. Keine eindeutigen Gründe sind bekannt.
Frage: Die Frage nach dem Recht auf Schwangerschaftsabbrüche polarisiert. Doch in Ländern wie Polen, aber auch den USA oder Deutschland zeigt sich, dass das Thema instrumentalisiert wird, um zu polarisieren. Warum gerade dieses Thema?
Skóra: Im Englischen gibt es dafür passende Begriffe, wie "moral panic", also die moralische Panik oder "politics of emotion". Die bezeichnet eine Politik, die in erster Linie auf Emotionen basiert und damit auf Stimmenfang geht. Dafür eignen sich Abtreibungen sehr gut: Das Thema ist emotional, jeder hat da eine Meinung zu. Das macht es zu einem einfachen Ersatzthema. Denn es gibt natürlich in all den Ländern, die Sie erwähnt haben, auch drängende politische Fragen, die zum Teil jedoch hochkomplex sind. Die lassen sich mit einem emotionalen Thema wie dem Schwangerschaftsabbruch überspielen. In Polen kommt dann noch dazu, dass Abtreibungen sowohl im Kommunismus wie auch in der Zeit der deutschen Besatzung erlaubt waren. Dadurch gewinnt die Frage hier auch einen patriotischen Einschlag – was sie nochmal emotionaler macht. Das ist natürlich politische Kalkulation. Mit dem Leben von Frauen und Kindern wird hier eigennützig Politik gemacht.