Theologe: Kirchenasyl entscheidend für Relevanz der Kirchen
Aus Angst vor Abschiebung sprang der 23-jährige Kemal Altun am 30. August 1983 aus dem Fenster eines Westberliner Vewaltungsgerichts in den Tod. Dieser Tod bewegte viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, sich für Geflüchtete einzusetzen und schon bald danach wurde einer palästinensischen Familie in der Heilig-Geist-Kirche in Berlin Kirchenasyl gewährt. Und es sollte nicht bei einem Fall bleiben: Aktuell sind der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" 431 aktive Kirchenasyle mit mindestens 655 Personen, darunter 136 Kindern, bekannt.
Seit über 25 Jahren begleitet, berät und organisiert das Ökumenische Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW Kirchenasyle in Nordrhein-Westfalen. Derzeit gibt es dort rund 150 laufende Kirchenasyle – und jeden Tag erreichen 15 bis 20 neue Anfragen die Initiative, sagt Benedikt Kern. Der Theologe arbeitet am Institut für Theologie und Politik in Münster und berät selbst Kirchenasyle. Im katholisch.de-Interview spricht er über aktuelle Herausforderungen.
Frage: Herr Kern, seit 40 Jahren ist die Kirchenasylbewegung in Deutschland aktiv. Wie ist es heute um die Institution Kirchenasyl bestellt?
Kern: In den vergangenen 40 Jahren hat sich viel getan, was die Kirchenasylpraxis betrifft. Das Problem, das wir heute haben, ist, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen immer enger geworden sind durch die Asylrechtsverschärfungen der vergangenen Jahre. Immer mehr Menschen brauchen also eigentlich ein Kirchenasyl, weil es als letztes Mittel zum Schutz vor Abschiebungen überhaupt eine Perspektive eröffnen kann. Auf der anderen Seite haben wir die Erosion der Kirchengemeinden: Immer weniger Engagierte, weniger Räumlichkeiten, weniger finanzielle Mittel. All das hat natürlich Auswirkungen auf das Kirchenasyl. In dieser Spannung bewegen wir uns.
Frage: Vor welchen weiteren Herausforderungen stehen das Kirchenasyl und auch die Gemeinden derzeit?
Kern: Wir haben eine massive Zunahme von Abschiebungen. Vor allem Überstellungen nach dem Dublin-Verfahren sind an der Tagesordnung. Jede Abschiebung ist eine Entrechtung der Betroffenen. Jemanden aufzunehmen und einen Schutzraum anzubieten, um die einzelne Person zu schützen und gleichzeitig fundamentale Kritik an der gegenwärtigen Abschiebepolitik zu äußern, ist für viele Kirchengemeinden dabei ein herausfordernder Schritt. Man kann sich vorstellen, dass das auch zu internen Diskussionen in den Kirchenvorständen führt. Mit Blick auf den zunehmenden Bedeutungsverlust der Kirchen wird es aber immer wichtiger, dass von außen sichtbar wird, für was sie eigentlich stehen – ob sie also für diejenigen Menschen einstehen, die inhumane Härten zu befürchten haben, oder ob dieses Thema einfach ignoriert wird.
Kirchenasyl
Beim Kirchenasyl bringen Gemeinden oder Ordensgemeinschaften von Abschiebung oder Zurückweisung bedrohte Geflüchtete in kirchlichen Räumen unter und beherbergen sie dort. In aller Regel handelt es sich bei den Geflüchteten um sogenannte "Dublin-Fälle". Ihnen droht eine Abschiebung in das Ersteinreiseland in der Europäischen Union. Mit der Aufnahme ins Kirchenasyl versuchen Gemeinden und Orden die Betroffenen vor der Abschiebung und der Gewalt durch Sicherheitskräfte, die drohende Obdachlosigkeit und Zwangsprostitution in diesen Staaten zu bewahren. Seit 2015 gibt es ein geregeltes Verfahren zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den Kirchen. Dazu muss das Kirchenasyl gemeldet und es muss ein Dossier beim BAMF eingereicht werden, in dem der jeweilige Härtefall geschildert wird. Wird dieser Antrag abgelehnt, müssen die Betroffenen eigentlich das Kirchenasyl verlassen. In den meisten Fällen verbleiben die Personen aber trotzdem im Kirchenasyl, bis die Überstellungsfrist abgelaufen und Deutschland damit offiziell für das Asylverfahren zuständig ist. Das Ökumenische Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW kritisiert das Verfahren zwischen BAMF und Kirchen, da es die inhaltliche Schärfe des politischen Ungehorsams nehme.
Frage: Nun haben Geflüchtete in Deutschland aber kein uneingeschränktes Recht auf Asyl und Abschiebungen sind nicht grundsätzlich illegal. Warum sollten sich Kirchengemeinden also gegen dieses Rechtssystem stellen?
Kern: Das bürgerliche Rechtssystem in Deutschland und Europa ist letztlich rassistisch und folgt zunehmend der Logik der Verwertbarkeit von Migration, sprich: Kommen sollen Fach- und billige Arbeitskräfte, alle anderen müssen elendig außerhalb der Mauern bleiben. Das steht zutiefst im Widerspruch mit dem Evangelium und seiner Verheißung des guten Lebens für alle. Deshalb haben wir als Christinnen und Christen die prophetische Aufgabe, Menschen vor legalen Abschiebungen zu schützen und sie in ihrer Autonomie zu stärken. Den daraus entstehenden Konflikt mit dem Staat müssen wir eingehen, denn das Sterben an den Grenzen und das Leid durch die repressive Zwangsmigration durch Abschiebungen muss endlich beendet werden.
Frage: Erst im Juli wurde ein Kirchenasyl in Lobberich/Hinsbeck von den Behörden geräumt. Inwiefern ist das aus Ihrer Sicht symptomatisch für die derzeitige Lage?
Kern: Die Räumung dieses Kirchenasyls war eine Überschreitung einer roten Linie, die normalerweise so nicht stattfindet. Es ist überhaupt nicht an der Tagesordnung, dass Kirchenasyle geräumt werden. Es ist aber insofern symptomatisch, als dass es sowohl auf diskursiver Ebene eine Verschärfung bei den Themen Flucht und Migration gibt als auch bei den gesetzlichen Rahmenbedingungen immer wieder der Versuch unternommen wird, Druck auf das Kirchenasyl auszuüben. Ich glaube, dass wir uns auch in Zukunft darauf einstellen müssen, dass es immer wieder Schwierigkeiten mit den Behörden gibt, die Versuchen werden, diese Praxis auszuhebeln und Kirchengemeinden zu verunsichern, die Kirchenasyl gewähren. Deswegen ist es ungemein wichtig, dass Kirchengemeinden selbstbewusst auftreten und sagen, dass sie zum Kirchenasyl stehen. So können sie politisch etwas gewinnen und das Kirchenasyl stärken. Das hat der Fall gezeigt, denn es gab sowohl innerhalb der Kirchengemeinde als auch gesamtkirchlich sehr viele, sehr deutliche Positionierungen für das Kirchenasyl.
Frage: Vor allem in Bayern gab es in den vergangenen Jahren Fälle, wo sich gerade Ordensleute vor Gericht dafür verantworten mussten, Kirchenasyl gewährt zu haben. Erwarten Sie solche juristischen Schritte in Zukunft häufiger?
Kern: Ich gehe momentan nicht davon aus, dass es zu einer verstärkten Kriminalisierung des Kirchenasyls kommt. Diese Verfahren sind alle eingestellt worden, weil man juristisch davon ausgeht, dass Kirchenasyl keine Beihilfe zum illegalen Aufenthalt ist, weil den Behörden ja bekannt ist, dass die Personen sich in den Gemeinden befinden. Das heißt aber nicht, dass es nicht wieder zu Kriminalisierungsversuchen kommen könnte. Mein Eindruck ist aber, dass Gemeinden eher gestärkt aus solchen Situationen herausgehen, als dass sie es mit dem Kirchenasyl sein lassen.
Frage: Nichtsdestotrotz ist das für die Gemeinden natürlich eine große Belastung. Sehen Sie durch die aktuellen Herausforderungen die Praxis des Kirchenasyls grundsätzlich in Gefahr?
Kern: Nein. Das Kirchenasyl hing in den vergangenen 40 Jahren immer an einem seidenen Faden und trotzdem wurde daran festgehalten. Es ist kein Rechtsinstrument oder ein Privileg, das den Kirchen von staatlicher Seite zugebilligt wurde, sondern basiert immer auf der autonomen Entscheidung einer Kirchengemeinde, die sagt: Wir haben gute Gründe dafür, warum wir hier eine Gewissensentscheidung treffen. Das ist die Stärke des Kirchenasyls, dass es eine autonome Praxis von unten, also von den Gemeinden ist. Das machen wir ja nicht aus Spaß, sondern uns wird im Grunde keine andere Wahl gelassen in vielen Fällen, in denen Abschiebungen auf der rechtlichen Ebene nicht verhindert werden können. Deswegen sind auch alle Versuche, das Kirchenasyl in eine bürokratische Form zu fassen, letztlich eine Schwächung des Kirchenasyls.
Frage: Seit Monaten steht die AfD in Umfragen stabil bei oder teilweise sogar über 20 Prozent und hätten damit Chancen, als zweitstärkste Kraft in den Bundestag einzuziehen. Wie blicken Sie auf das Erstarken der AfD?
Kern: Nicht nur das Erstarken der AfD macht mir Sorgen, sondern auch, dass der Jargon dieser Partei in allen anderen Parteien mittlerweile alltäglich geworden ist. Dass es im Diskurs um Flucht und Migration insgesamt eine Verschiebung nach rechts gibt, finde ich das eigentlich Dramatische. Insofern werden wir uns in Zukunft warm anziehen müssen. Umso wichtiger ist es deshalb, dass das Kirchenasyl als selbstbewusste Praxis gepflegt wird, um genau diesen politischen Angriffen etwas entgegenzusetzen, die in Zukunft sicherlich zunehmen werden.
Frage: Sie haben die abnehmende Kirchenbindung in Deutschland bereits angesprochen. Was bedeutet das für das Kirchenasyl selbst? Wird es jetzt schwieriger, Gemeinden zu vermitteln?
Kern: Wir haben auf unterschiedlichen Ebenen Schwierigkeiten in der Vermittlung. Zum einen werden Geflüchtete zunehmend in großen zentralen Einrichtungen und Ankerzentren untergebracht, in denen sie im Grunde genommen von der Zivilgesellschaft isoliert und abgeschirmt sind. Dadurch kommen Kirchengemeinden weniger in den Kontakt mit Geflüchteten, die von Abschiebung bedroht sind. Zum anderen sind Gemeinden meinem Eindruck nach zunehmend mit sich selbst beschäftigt. Vor lauter Fragen zu Strukturprozessen und Gemeindefusionierungen fällt die Frage, wofür sie inhaltlich eigentlich stehen wollen, hinten runter. Dazu kommt, dass immer weniger hauptamtliches Personal, weniger ehrenamtlich engagierte Menschen vor Ort und weniger Immobilien zur Verfügung stehen. Das Kirchenasyl wird also faktisch schwieriger, weil die Ressourcen dafür knapper werden. Dabei wäre es jetzt noch an der Zeit, gegenzusteuern.
Frage: Inwiefern?
Kern: Im Moment gibt es diese Ressourcen noch. Eigentlich könnte man jetzt wunderbar Fakten schaffen. Wenn also beispielsweise Dekanate und Kirchenkreise über Strukturen und Immobilienkonzepte nachdenken, könnten sie schon mitbedenken, eine Wohnung für Kirchenasyle einzurichten.
Frage: Was muss sich aus Ihrer Sicht in Zukunft noch ändern?
Kern: Am Beispiel des Kirchenasyls wird sehr deutlich sichtbar werden, welche Relevanz Gemeinden in Zukunft eigentlich noch haben werden, ob sie sich also angreifbar machen, weil sie sich in gesellschaftliche Konflikte hineinwagen, oder ob sie das nicht mehr tun. Im Evangelium wird uns der prophetische Auftrag mitgegeben, die Strukturen des Unrechts innerhalb der Gesellschaft deutlich zu kritisieren. Wenn die Kirchen diesen Auftrag nicht mehr erfüllen, dann wird es gesellschaftlich auch keinen Unterschied mehr machen, ob es sie gibt oder nicht. Wenn die Kirchen am Punkt der menschenverachtenden Abschiebungspraxis nicht deutlich werden, dann werden sie in Zukunft auch auf allen anderen Feldern verloren haben.