St. Bernhard – Eine Großpfarrei auf der Suche nach ihrer Identität
Würde Herbert Frank in Berlin leben, wäre sein Leben als Katholik wohl zumindest in einem Punkt einfacher. "Wenn ich Lust hätte, könnte ich sonntags spontan entscheiden, in welcher Kirche meiner Pfarrgemeinde ich zum Gottesdienst gehe", erzählt Frank. Schließlich seien die Pfarreien in der Hauptstadt trotz zahlreicher Fusionen in den vergangenen Jahren flächenmäßig immer noch überschaubar und der nächste Gottesdienstort im Zweifel nur ein paar S- oder U-Bahn-Stationen entfernt.
Im vorpommerschen Demmin, wo Frank tatsächlich lebt, ist das anders. Zwar gibt es auch in der dortigen Pfarrei elf Kirchen, in denen regelmäßig Gottesdienste gefeiert werden, doch die sind größtenteils weit voneinander entfernt. Sehr weit. Denn Demmin ist seit 2020 Teil der Pfarrei St. Bernhard in Stralsund – und die ist mit rund 3.200 Quadratkilometern die flächengrößte Pfarrei Deutschlands. Entsprechend groß sind die Entfernungen zwischen den verschiedenen Kirchen und den anderen Orten kirchlichen Lebens in der Pfarrei.
Spontanes sonntägliches Gottesdiensthopping ist ausgeschlossen
Von der Kirche Maria Meeresstern im Ostseebad Sellin auf Rügen ganz im Nordosten der Pfarrei bis zur Kirche Heilig Kreuz in Altentreptow ganz im Süden beträgt die Entfernung zum Beispiel mehr als 130 Kilometer. Wollte man von der einen zur anderen Kirche fahren, müsste man sich erst durch das vor allem im Sommer notorisch staubelastete Bergen auf Rügen quälen, dann über die monumentale Rügenbrücke an Stralsund vorbeifahren und schließlich noch eine knappe Stunde erst auf der Bundestraße 96 und dann auf der Autobahn 20 weiter Richtung Süden rollen. Spontanes sonntägliches Gottesdiensthopping ist da ausgeschlossen. "Niemand steigt sonntags ins Auto und fährt von Altentreptow oder Demmin zum Gottesdienst nach Stralsund oder Sellin, weil das einfach viel zu weit weg ist", spricht Frank das Offensichtliche aus.
„Die Katholiken in St. Bernhard leben komplett nebeneinanderher, ein Zusammengehörigkeitsgefühl hat sich in der Pfarrei bislang nicht entwickelt.“
Damit benennt der engagierte Katholik zugleich eine der zentralen Herausforderungen der Pfarrei St. Bernhard, die so auch in vielen anderen fusionierten Pfarreien existiert: Wenn Gemeinden – wie es in den meisten Bistümern inzwischen gang und gäbe ist – wegen des zunehmenden Mangels an Priestern und Gläubigen zusammengelegt werden, entstehen größere Einheiten, in denen die Wege naturgemäß weiter sind. Bei vielen Gläubigen haben Großpfarreien deshalb keinen guten Ruf. Wenn die eigene vertraute und überschaubare Pfarrgemeinde in einem größeren Gebilde aufgeht, gehen immer auch ein Stück Heimat und Identität verloren. Beides muss in den neuen Pfarreien meist erst mühsam neu wachsen.
In der Pfarrei St. Bernhard ist das – das zeigen die Gespräche, die katholisch.de für diesen Text mit Vertretern der Pfarrei geführt hat – auch mehr als dreieinhalb Jahre nach der Gründung noch nicht wirklich gelungen. "Die Katholiken in St. Bernhard leben komplett nebeneinanderher, ein Zusammengehörigkeitsgefühl hat sich in der Pfarrei bislang nicht entwickelt", sagt Sebastian Tacke. Der Stralsunder Unternehmer, der Mitglied im Pfarreirat ist und als Vertreter der Pfarrei auch im Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Berlin sitzt, begründet seine Einschätzung ebenfalls mit den großen Entfernungen: "Kein Katholik aus dem Demminer Raum fährt für eine Veranstaltung der Pfarrei nach Rügen, andersrum genauso wenig. Selbst Stralsund als Zentrum der Pfarrei ist für viele Gläubige schon zu weit weg. Wie soll da ein Gemeinschaftsgefühl entstehen?"
"Die alten Pfarreien wirken weiter identitätsstiftend"
Herbert Frank, der ebenfalls im Pfarreirat engagiert ist, sieht das ähnlich. Bis auf wenige gemeinsame Aktivitäten im Jahr wie das an wechselnden Orten stattfindende Pfarreifest, die Bergener Marienwallfahrt oder die Pfingstwallfahrt nach Sellin kämen die gut 6.000 Katholiken aus den verschiedenen Regionen der Pfarrei kaum miteinander in Kontakt. "Diese Feste sind im Grund genommen die einzigen Gelegenheiten, bei denen die Gläubigen die Pfarrei mal ganz bewusst erleben können", erzählt Frank. Die meisten Katholiken der Region nähmen St. Bernhard deshalb wohl in erster Linie als Verwaltungskonstrukt wahr, das für ihr Glaubensleben keine große Relevanz habe.
Stattdessen, so beschreiben es Frank und Tacke unabhängig voneinander, existieren die drei zu St. Bernhard fusionierten früheren Pfarreien St. Bonifatius auf Rügen, Hl. Dreifaltigkeit in Stralsund und Maria Rosenkranzkönigin in Demmin mindestens in den Köpfen der Gläubigen bislang weiter. "Die alten Pfarreien, die nun Gemeinden genannt werden und gemeinsam die neue Pfarrei bilden, sind den Menschen vor Ort nach wie vor näher und wirken weiter identitätsstiftend", erläutert Sebastian Tacke. Wer früher etwa zur Pfarrei St. Bonifatius auf Rügen gehört habe, für den sei die heutige Gemeinde St. Bonifatius in aller Regel immer noch der erste kirchliche Bezugspunkt und damit wichtiger als die Gesamtpfarrei.
Wie mächtig und langlebig solche Identitäten und Heimaten sein können, kann man gut an der früheren Demminer Pfarrei Maria Rosenkranzkönigin sehen. Die war im Jahr 2003 ebenfalls durch eine Fusion mit den damaligen Nachbarpfarreien in Altentreptow und Grimmen entstanden. "Und noch heute – 20 Jahre später – feiern die Gläubigen der drei ehemaligen Pfarreien ihre Feste weiterhin 'unter sich'", erzählt Herbert Frank. Wenn etwa in Demmin Kirchweih gefeiert werde oder in Grimmen das Jakobusfest, kämen höchstens zwei oder drei Gläubige aus den beiden anderen Gemeindeorten. "Das erklärt auch, warum es auf Ebene der nochmal deutlich größeren Pfarrei St. Bernhard so schwer ist, eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Die alten Pfarreistrukturen waren einfach überschaubarer und die damit verbundenen Identitäten sind halt in vielen Köpfen noch drin", so Frank.
Auch Pfarrer Johannes Schaan, der im Sommer 2020 und damit wenige Monate nach Gründung von St. Bernhard nach Stralsund kam, sieht die Herausforderungen durch die großen Entfernungen und die unterschiedlichen Traditionen – und muss jeden Tag mit ihnen umgehen. "Man ist sehr viel im Auto unterwegs, um die Seelsorge in allen Regionen der Pfarrei abzudecken. Das ist schon eine Belastung", erzählt er. Zumal Schaan seit rund einem Jahr nur noch einen Kaplan an seiner Seite hat, seit der in Demmin ansässige Pfarrvikar in eine andere Pfarrei versetzt wurde. Beide Seelsorger müssen also weitgehend allein ein Gebiet versorgen, das fast so groß ist wie das Bistum Aachen.
"Hier entsteht etwas – aber nicht von heute auf morgen"
Gerade für die Gläubigen in Demmin sei es schade, dass kein Geistlicher mehr direkt vor Ort sei. "Wir Stralsunder reisen zwar für die Gottesdienste an und sind dann ein bisschen vor Ort. Aber dann müssen wir auch bald wieder weg. Das ist nicht so leicht", betont der Pfarrer. Natürlich wolle er immer ganz für seine Gläubigen und ihre unterschiedlichen pastoralen Bedürfnisse da sein, unter diesen Bedingungen sei das aber schwierig: "Man ist immer wieder gezwungen, in der Seelsorge Prioritäten zu setzen, und dabei fallen natürlich auch Dinge hinten runter." Immerhin aber: Inzwischen hat das Erzbistum signalisiert, dass die Pfarrvikarstelle in Demmin zum 1. Januar kommenden Jahres neu besetzt werden soll.
Auch darüber hinaus ist Schaan mit Blick auf die Zukunft vorsichtig optimistisch. "Hier entsteht schon etwas – aber eben nicht von heute auf morgen", sagt er mit Blick auf St. Bernhard und das Gemeinschaftsgefühl in der Pfarrei. Vor allem das Patronatsfest oder die Wallfahrten wirkten zunehmend identitätsstiftend für die Gesamtpfarrei. "Außerdem erlebe ich, dass durchaus auch Gläubige etwa aus dem Demminer Raum zu Veranstaltungen der Pfarrei nach Stralsund kommen. Das mögen wenige sein, aber da tut sich was", so der Pfarrer. Natürlich, das verschweigt er nicht, ist ihm klar, dass es immer noch Gläubige gibt, die mit der neuen Pfarrei fremdeln. "Aber wir gehören jetzt zusammen und machen das Beste draus."
„Auch wenn die Gründung der Pfarrei schon drei Jahre zurückliegt, braucht es noch viel Zeit und einen gemeinsamen Weg, um die neue Pfarrei zu entwickeln.“
Beobachtet wird die Entwicklung von St. Bernhard auch aus der Zentrale des Erzbistums. Dort zeigt man sich nicht überrascht von den Herausforderungen der Großpfarrei. Es sei völlig klar, dass das Zusammenwachsen einer neuen, größeren Pfarrei Zeit und auch Verständnis füreinander brauche, betont Markus Weber, der im Erzbischöflichen Ordinariat den Arbeitsbereich Pfarreientwicklung leitet. Helfen kann und soll laut Weber dabei auch der heilige Bernhard. "Die neue Pfarrei hat bewusst ein neues Patronat gewählt, das vom Erzbischof bestätigt wurde." Nun liege es an der Pfarrei selbst, den heiligen Bernhard in der Pfarrei, den Gemeinden und den Orten kirchlichen Lebens wirken zu lassen.
"Es braucht noch viel Zeit und einen gemeinsamen Weg"
Die großen Entfernungen in der Pfarrei sieht Weber nicht als entscheidendes Hindernis, schließlich seien die Wege zum nächstgelegenen Gottesdienstort in der Diaspora Vorpommerns schon immer weit gewesen. Auch dass die ehemals eigenständigen Pfarreien St. Bonifatius, Hl. Dreifaltigkeit und Maria Rosenkranzkönigin weiterhin identitätsstiftend wirken, ist seiner Ansicht nach kein Problem – im Gegenteil. Alle drei ehemaligen Pfarreien sollten nach Möglichkeit sogar ihre Besonderheit und Identität in die neue Pfarrei einbringen. Ein neu entstehendes Gemeinschaftsgefühl für die Gesamtpfarrei und das Bewahren der eigenen Identitäten und Traditionen in den drei Gemeinden schlössen sich nicht aus.
Dreieinhalb Jahre liegt die Errichtung der Pfarrei St. Bernhard nun zurück. Im Blick auf die nächsten dreieinhalb Jahre hofft Pfarrer Schaan, dass das kleine Pflänzchen des Miteinanders auf Pfarreiebene, das er ausgemacht hat, "weiter wächst und aufblüht – damit wir gemeinsam unseren Glauben leben können". Auch Markus Weber sieht die Entwicklung der Pfarrei noch am Anfang: "Auch wenn die Gründung der Pfarrei schon drei Jahre zurückliegt, braucht es noch viel Zeit und einen gemeinsamen Weg, um die neue Pfarrei zu entwickeln."