Bistum Essen sucht mögliche weitere Betroffene

Missbrauchsverdacht gegen Kardinal Hengsbach – mehrere Fälle

Veröffentlicht am 19.09.2023 um 10:50 Uhr – Lesedauer: 

Essen ‐ Gravierender Verdacht gegen Kardinal Franz Hengsbach: Das Bistum Essen macht mehrere Fälle mutmaßlichen Missbrauchs durch seinen Gründerbischof öffentlich. Bischof Franz-Josef Overbeck ruft mögliche weitere Betroffene zur Meldung auf.

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Gegen den Gründungsbischof des Bistums Essen, Kardinal Franz Hengsbach, stehen schwere Missbrauchsvorwürfe im Raum. Bischof Franz-Josef Overbeck kündigte am Dienstag an, dass er Vorwürfe überprüfen lässt, die den Zeitraum der 1950er bis 1970er Jahre betreffen. "Im Oktober 2022 hat sich eine Person, die anonym bleiben möchte, bei den beauftragten Ansprechpersonen gemeldet und zu Protokoll gegeben, dass sie einen sexuellen Übergriff durch Kardinal Hengsbach im Jahr 1967 erlitten hat", heißt es in einer Erklärung Overbecks. Er habe im März 2023 davon Kenntnis erhalten und nach Rücksprache mit dem Interventionsbeauftragten beschlossen, weitere Nachforschungen anstellen zu lassen. Zwei Vorwürfe betreffen Hengsbachs Zeit als Bischof von Essen, ein Vorwurf betrifft seine Zeit als Weihbischof in Paderborn.

Bereits 2011 sei ein erster Vorwurf gegen Hengsbach beim Bistum Essen eingegangen, der allerdings 2014 von der meldenden Person zurückgezogen worden sei. Nach dem neuerlichen Vorwurf ließ das Bistum beim Erzbistum Paderborn überprüfen, ob dort Meldungen zu Hengsbach vorliegen. Als dies in Paderborn bestätigt wurde, nahmen Mitglieder des Essener Interventionsstabs Einblick in den Paderborner Aktenbestand. "Sie fanden dort einen Aktenvermerk, in dem Franz Hengsbach beschuldigt wird, im Jahr 1954 eine minderjährige Jugendliche sexuell missbraucht zu haben", so Overbeck. Auch dieser Vorwurf sei 2011 erhoben worden. Das Erzbistum habe die Meldung vorschriftsgemäß an die Glaubenskongregation weitergeleitet. "Aufgrund der Zuständigkeit der Kongregation für die Glaubenslehre sah ich den Vorgang als bearbeitet an", sagte Overbeck. Er sei bereits damals über den Aktenvermerk in Kenntnis gesetzt und zudem mündlich über die Entscheidung der Glaubenskongregation informiert worden, dass der Vorwurf in Rom als "nicht plausibel" bewertet worden sei.

Mit Blick auf den weiteren Vorwurf habe er sich nach Rücksprache mit seinem Interventionsstab dazu entscheiden, die Vorwürfe nun öffentlich zu machen und mögliche weitere Betroffene aufzurufen, sich zu melden. Ihm sei bewusst, "was diese Entscheidung, die ich nach gründlicher Abwägung der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnisse getroffen habe, bei vielen Menschen auslösen wird". Overbeck hoffe darauf, dass es bei allen anstehenden Schritten nun gelingen werde, "stets die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen".

Vorwürfe auch gegen Bruder von Hengsbach in Paderborn

Das Erzbistum Paderborn teilte am Mittwoch mit, dass es im März 2023 durch die Anfrage aus Essen von den Vorwürfen erfahren und daraufhin dem Ruhrbistum den in Paderborn vorliegenden Aktenbestand zur Verfügung gestellt habe. In diesen Akten befinde sich ein Vorgang aus dem Jahr 2011, laut dem Franz Hengsbach und sein Bruder Paul gemeinsam beschuldigt werden, in den 1950er Jahren eine minderjährige Jugendliche sexuell missbraucht zu haben. "Damit liegt, bezogen auf das Erzbistum Paderborn, gegenwärtig eine Beschuldigung gegen die Person Franz Hengsbach vor; insgesamt zwei Meldungen betreffen Paul Hengsbach", so die Mitteilung weiter. Der 2018 verstorbene Paul Hengsbach habe die Vorwürfe 2011 bei einer Befragung vehement bestritten.

Laut dem Erzbistum sind die Beschuldigungen als nicht plausibel bewertet worden, obwohl die mutmaßliche Betroffene sich an die äußeren Umstände genau erinnert habe. "Aus heutiger Perspektive und nach erneuter Prüfung des Personalaktenbestands von Paul Hengsbach, die mittlerweile auch durch Mitglieder der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Erzbistum Paderborn erfolgt ist, muss die damalige Plausibilitätsbeurteilung leider deutlich in Frage gestellt werden", räumt das Erzbistum heute ein. Wären die beiden Paul Hengsbach betreffenden Beschuldigungen seinerzeit miteinander verknüpft betrachtet worden, hätte dies möglicherweise zu einer anderen Bewertung der Vorwürfe im Sinne der beiden betroffenen Frauen geführt: "So liegt es aus heutiger Sicht nahe, dass den Frauen nicht nur Unrecht durch die Missbrauchserfahrung durch Diözesanpriester des Erzbistums, sondern auch Leid durch den Umgang mit ihnen und ihren berechtigten Anliegen widerfahren ist."

Missbrauchsstudie hatte noch keinen Verdacht enthalten

Franz Hengsbach (1910–1991) war der erste Bischof des 1957 errichteten Bistums Essen. Als Paderborner Diözesanpriester war er für die Organisation der ersten Katholikentage der Nachkriegszeit zuständig und zeitweise Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1953 wurde er Weihbischof in Paderborn. Am 1. Januar trat er sein Amt als erster Bischof des aus Teilen der Diözesen Köln, Münster und Paderborn gegründeten Ruhrbistums an. 1961 bis 1978 war Hengsbach Militärbischof. 1988 wurde der Essener Bischof von Papst Johannes Paul II. zum Kardinal erhoben. Hengsbach stand seiner Diözese bis kurz vor seinem Tod vor und galt Zeit seines Lebens als volksnah. 2017 sprach sich der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer für eine "Entmythologisierung" Hengsbachs aus: Er habe neben seinen Verdiensten auch eine Atmosphäre der Angst verbreitet.

Das Bistum Essen hatte im Frühjahr eine sozialwissenschaftliche Studie zur wissenschaftlichen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt von 1958 bis heute veröffentlicht. Seit Gründung des Ruhrbistums konnte die Studie 423 Meldungen von Verdachtsfällen feststellen. Bis 2010 habe das Bistum nur unzureichend auf Verdachtsmomente reagiert. Laut der Studie fielen die meisten Hinweise auf Taten in die 33-jährige Amtszeit von Hengsbach. In dieser Zeit habe es keine festgeschriebenen Regeln für den Umgang mit sexualisierter Gewalt durch Kleriker gegeben. Der Umgang sei insgesamt "zeittypisch" gewesen, sowohl was die fehlende Betroffenenorientierung als auch was Vertuschung angeht. Hinweise auf Taten von Hengsbach selbst gab es in der Studie nicht. (fxn)

11.20 Uhr: Ergänzt um Angaben des Erzbistums Paderborn.

Im Wortlaut: Stellungnahme von Bischof Franz-Josef Overbeck

"Ich hoffe, dass es uns bei allen Schritten, die jetzt anstehen, vor allem gelingen wird, stets die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen", hebt Bischof Overbeck hevor. Da nicht auszuschließen ist, dass es weitere Missbrauchsbetroffene gibt, ruft Overbeck Betroffene auf, sich zu melden: "Sollten Sie selbst sexualisierte Gewalt durch Kardinal Hengsbach erlitten haben, dann wenden Sie sich bitte an die beauftragten Ansprechpersonen im Bistum Essen. Das Gleiche gilt auch, wenn Ihnen Hinweise bekannt sind, die für die weitere Aufarbeitung hilfreich sein können."