Mehr als Mann und Frau: Die Bibel steht gegen Diskriminierung ein
Der Apostolische Nuntius Nikola Eterović sieht das christliche Menschenbild in Gefahr. Die deutschen Bischöfe warnte er vor einer angeblichen "Gender-Ideologie". Zentral für den Erzbischof ist dabei die Bibel. Das christliche Menschenbild steht für ihn glasklar im Schöpfungsbericht im Buch Genesis: "Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn; männlich und weiblich erschuf er sie." Für eine Vielfalt geschlechtlicher Identitäten und sexueller Orientierungen ist da kein Platz.
Für den Mainzer Alttestamentler Thomas Hieke ist das eine zu enge Auslegung: Der Bibel gehe es nicht darum, naturwissenschaftliche Aussagen zu machen. Er wendet sich deutlich dagegen, die Schöpfung als Argument zur Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Identität zu machen. Im Interview mit katholisch.de erläutert er, was wirklich im ersten Buch der Bibel steht – und warum sich damit keine Form von Diskriminierung rechtfertigen lässt.
Frage: Professor Hieke, die kirchliche Verkündigung macht den Schöpfungsbericht stark: "Als Mann und Frau schuf er sie". Gibt es bei dieser klaren Ansage noch Raum für geschlechtliche Vielfalt?
Hieke: Die Einheitsübersetzung von 2016 übersetzt diesen Text endlich richtig und verwendet an dieser Stelle die Adjektive "männlich" und "weiblich". So hat es auch Nuntius Eterović in seinem Grußwort in der veröffentlichten Fassung zitiert. Da hier Adjektive stehen, bedeutet das etwas anderes, als die Rede von einem Mann und einer Frau. Die Adjektive geben Raum für ein Spektrum von männlich und weiblich. Jeder Mann erfährt in sich auch weibliche Anteile. Jede Frau erfährt in sich auch männliche Anteile. Das sind Selbstwahrnehmungen, die wir ernst nehmen müssen. Im Schöpfungsbericht finden wir an dieser Stelle keine Binarität, sondern eine Bipolarität. Es gibt zwei Pole: das Männliche und das Weibliche. Und jeder Mensch muss sich zwischen diesen beiden Polen finden. Die allermeisten finden sich in der Nähe eines dieser beiden Pole. Aber es gibt eben eine kleinere Anzahl von Menschen, die sich irgendwo dazwischen findet. Und wenn sie sich so findet, diese kleine Gruppe von Menschen – dürfen die da nicht sein?
Frage: Aus heutiger Sicht klingt das schlüssig. Aber wurde eine solche Lesart in der Tradition vertreten? Es wäre ja sehr überraschend, wenn wir erst heute merken würden, was schon immer in der Bibel stand.
Hieke: Die ganze Debatte um geschlechtliche Identität ist sehr modern. Wir dürfen die wichtigen Debatten von heute nicht zurückprojizieren in die Zeit der Bibelauslegung vergangener Jahrhunderte oder in die Zeit der Bibelentstehung. Früher hatten die Leute solche Fragestellungen schlicht nicht auf dem Schirm. Sie hatten den statistischen Normalfall vor Augen, nämlich ein Mann und eine Frau, die zusammenkommen und Kinder zeugen und gebären. Das ist das Normale, darüber haben sie ihre Texte geschrieben. Dagegen ist auch überhaupt nichts einzuwenden. Menschen, die sich in ihrer sexuellen Identität anders erfahren, waren nicht im Blick, wie sie es heute sind. Hier wird es dann schwierig, wenn heute bestimmte Kreise in der Kirche die biblischen Texte unreflektiert in moderne Debatten einspeisen und dazu missbrauchen, um Gruppen von Menschen auszugrenzen.
Frage: Im Selbstverständnis des Lehramts geht es nicht um Ausgrenzung, sondern um den Schutz von Ehe und Familie.
Hieke: Ich kann nicht nachvollziehen, wie ein weiter Blick auf Geschlechterfragen eine Gefahr für Ehe und Familie darstellen soll. Dass Menschen Kinder zeugen und gebären, bleibt doch völlig unbenommen. Keine Ehe steht in Frage oder wird abgewertet, wenn wir Menschen mit ihrer jeweiligen sexuellen Orientierung in ihren Beziehungen akzeptieren.
Frage: Die Ablehnung queerer Menschen wird theologisch mit der Natur des Menschen begründet. Papst Franziskus spricht gerne von einer "Ökologie des Menschen", die es zu achten gilt. Die "Wertschätzung des eigenen Körpers in seiner Weiblichkeit oder Männlichkeit" sei notwendig, "um in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht sich selbst zu erkennen". Es sind also nicht nur bestimmte Kreise – es ist der Papst, der diese Binarität stark macht.
Hieke: Hier gilt es, besser auf die Menschen zu hören, die ihre Erfahrungen als queere Menschen artikulieren. Sie haben ihr So-Sein nicht gewählt oder sich ausgedacht, sondern sich so gefunden. Und das Lehramt muss stärker auf die Humanwissenschaften achten. Die Kirche muss ernst nehmen und für sich reflektieren, was in Wissenschaften wie Psychologie und Biologie Stand der Forschung ist – und was wir dann auch als Gottes Schöpfung wahrnehmen können: Die meisten Menschen empfinden sich als Mann oder Frau. Aber es gibt auch Menschen, die ihre geschlechtliche Identität zwischen diesen Polen oder ihre sexuelle Orientierung auf Menschen des gleichen biologischen Geschlechts hin finden. Das ist nicht böser Wille, "abnorm" oder "krank", das sind Normvarianten des Menschlichen, die genauso zu akzeptieren sind wie unterschiedliche Hautfarben. Theologisch gesprochen: die zu akzeptieren sind als Teil von Gottes guter Schöpfung. Mit diesem Blick kann man auch den Worten des Papstes viel abgewinnen: Dann gilt es für alle Menschen, auch die, die sich nicht als eindeutig männlich oder weiblich erfahren, sich so anzunehmen, wie sie sind. Diesen Menschen zu sagen: Nach katholischer Lehre musst du dich entscheiden, ob du ein Mann oder eine Frau bist – das ist aus meiner Sicht Ideologie.
Frage: Der Ideologieverdacht kommt in der Regel von der anderen Seite der Debatte. Der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz hat vor kurzem den Einfluss von Sozialwissenschaften auf die Theologie beklagt: Sozialwissenschaften enthielten "immer ein gewisses ideologisches Element", viele Entdeckungen in den Humanwissenschaften seien "schlicht die Folgen eines anthropologischen Irrtums". Ist dieser Verdacht gerechtfertigt? Wie kann die Theologie säkulare Wissenschaften für sich nutzbar machen?
Hieke: Das hätten die Theologie und die Kirche schon längst aus dem Fall Galilei lernen können. Die Kirche hat wissenschaftliche Erkenntnisse, in diesem Fall auf dem Gebiet der Astronomie, verworfen und als unvereinbar mit der Bibel dargestellt. Erst 1992 wurde Galileo Galilei durch Papst Johannes Paul II. rehabilitiert, und zwar mit der Begründung, dass das Problem nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Kosmos, sondern die richtige Bibelauslegung war. Die Auslegung der Bibel musste revidiert werden, nicht die astronomischen Erkenntnisse. Und das wurde erfolgreich getan: Es gab überhaupt kein Problem, die biblische Offenbarung mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden. Die Bibel will nämlich gar keine Aussage über Astronomie machen. Das gilt es auch mit Blick auf die humanwissenschaftlichen Erkenntnisse über die geschlechtliche Vielfalt des Menschen zu tun. Als Bibelwissenschaftler kann ich sagen: Das geht. Ohne Probleme. Mit göttlicher Offenbarung lässt sich nicht rechtfertigen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu ignorieren. Ich darf Papst Johannes Paul II. zitieren: "Es ist eine Pflicht der Theologen, sich regelmäßig über die wissenschaftlichen Ergebnisse zu informieren, um eventuell zu prüfen, ob sie diese in ihrer Reflexion berücksichtigen oder ihre Lehre anders formulieren müssen."
Frage: Wie sieht der Transfer in die andere Richtung aus: Was können wir denn heute aus dem Schöpfungsbericht für eine christlich verantwortete Geschlechteranthropologie lernen?
Hieke: Im biblischen Text finden wir ein großes Staunen angesichts der Vielfalt dieser Welt. Die Genesis besteht ja nicht nur aus diesem einen Vers. Dort ist die Rede von einer Vielfalt, die oft in bipolaren Bildern beschrieben wird: Es gibt das Meer und das Land, das Feuchte und das Trockene. Aber niemand würde deshalb sagen, dass es nichts dazwischen gibt, dass das Wattenmeer unnatürlich ist. Es gibt das Licht und das Dunkel, den Tag und die Nacht. Aber auf Grundlage des Textes würde doch niemand in Frage stellen, dass es Abenddämmerung und Morgengrauen und Zwielicht gibt. Hier wird die rhetorische Figur eines Merismus verwendet, mit dem eine Gesamtheit durch zwei gegensätzliche Begriffe ausgedrückt wird. So ist das auch bei "männlich" und "weiblich": In diesem Gegensatzpaar darf sich jeder Mensch, gleich welcher geschlechtlichen Identität, aufgehoben fühlen.
Frage: In der lehramtlichen Auslegung wird das Gegensatzpaar aber als Beschreibung einer binären Wirklichkeit aufgefasst: Es gibt zwei Geschlechter. Punkt.
Hieke: So funktioniert die Sprache der Bibel aber nicht. Stellen wir uns vor, in der Bibel würde eine Zahl genannt, etwa dass es 1.000 Tierarten gibt, und die Kirche würde das dogmatisieren. Die Biologie findet heraus, dass es viel mehr Tierarten gibt. Was macht man dann? Müssen wir dann als Katholiken sagen: Die Kirche sagt, es gibt nur 1.000 Tierarten? Aus guten Gründen hat die Kirche konkrete Auslegungen der Bibel nie dogmatisiert. Denn sonst wäre die Bibel ein toter Text, dann wäre ein Fortschritt in der Erkenntnis der Offenbarung nicht mehr möglich – weder theologisch noch naturwissenschaftlich. Es braucht in der Bibelauslegung eine Denk- und Erkenntnisoffenheit – alles andere ist Ideologie. Ideologie engt immer ein.
Frage: Wie macht aus Ihrer Sicht ein biblisches Menschenbild aus?
Hieke: Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. hat einmal gesagt: Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt. Ein wunderbarer Satz. Im Schöpfungsbericht lese ich das Staunen über die Erschaffung des Menschen durch Gott, der diese Vielfalt will – die ganze menschliche Vielfalt: Hautfarben, Denkweisen, und eben auch geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen. Unsere Aufgabe ist es, zu lernen, dem anderen offen gegenüber zu stehen und zu akzeptieren, wie er oder sie Teil dieser Schöpfung ist. Jemandem zu sagen: Du bist nicht in Ordnung, weil du mit deiner geschlechtlichen Identität nicht in mein Schema passt, ist aus meiner Sicht menschenverachtend. Ich bin der Meinung, dass wir Ausgrenzungen aufgrund geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung endlich auf das gleiche Level heben sollten wie Ausgrenzung aufgrund der Hautfarbe, des Geschlechts oder der Religion. Dagegen steht die Bibel mit ihren Schöpfungsberichten. Als Bibelwissenschaftler verwehre ich mich gegen eine Instrumentalisierung der biblischen Texte, gegen eine engführende Ideologie, die die Bibel und ihre Autorität missbraucht, um Menschen auszugrenzen.