Wie Glaube jungen Menschen beim Erwachsenwerden helfen kann
Annalena Thomas ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Gründerin der Mental Health Plattform dayā. Mit ihrem Selbsthilferatgeber "On Your Own - gemeinsam wachsen und ankommen" hilft sie jungen Menschen, kurz nach der Schule, in einer unsicheren Zeit Halt zu finden. Eine mögliche Kraftquelle, die neben viel Mitgefühl, Embodiment und psychotherapeutischem Wissen immer wieder genannt wird, ist der Glaube. Auch privat hat der konfessionslosen Christin ihr Glaube beim Heranwachsen geholfen.
Frage: Sie haben vor kurzem ihr erstes Buch "On your Own - gemeinsam wachsen und ankommen" veröffentlicht. Darin behandeln Sie das Thema Erwachsenwerden und die Phase nach dem Schulabschluss. Warum dieses Thema?
Thomas: Erwachsenwerden ist alles andere als einfach und immer mehr junge Menschen fühlen sich dabei überfordert und auch ziemlich alleine gelassen mit vielen Themen. Gerade die heutige Generation an Jugendlichen ist mit so vielen Leistungsidealen und einer enormen Komplexität konfrontiert. Social Media, Klimakrise, die letzten Jahre der Pandemie und der Angriffskrieg auf die Ukraine haben viele Jugendliche zusätzlich verunsichert und belastet. Mir war es wichtig, genau diese Zielgruppe abzuholen und ihnen möglichst konkrete Tools an die Hand zu geben, aber vor allem auch zu sagen: Ihr seid wichtig und wertvoll, ganz unabhängig von irgendwelchen Idealen und eurer Leistung. Ihr dürft an euch und eure Stärken glauben!
Frage: In den meisten Selbsthilfebüchern spielt das Thema Glaube keine Rolle. Sie haben es in "On Your Own" bewusst mit aufgenommen. Wie kam es dazu?
Thomas: Der Glaube an etwas, das "über uns selbst hinausgeht" und für uns positiv besetzt ist, ist eine riesige Ressource, die uns Menschen innewohnt und Kraft gibt. Das sagen auch die Psychologie und diverse Studien. Als Menschen sehnen wir uns nach Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Bewältigbarkeit. Alle drei Faktoren gelten in der Salutogeneseforschung als wichtige Resilienzfaktoren, die uns in schwierigen Lebensphasen – und auch sonst im Leben – stärken. Wir alle kennen Herausforderungen, erleben Verluste, müssen schwierige Entscheidungen treffen, suchen den Sinn in Erfahrungen, die nicht verstehbar sind, sowie im Leben und fühlen uns phasenweise verunsichert oder auch völlig überwältigt. Und besonders für Heranwachsende können all diese Gefühle im Lebensabschnitt der Verselbstständigung oftmals belastend sein. Der Glaube an etwas, das uns inneren Frieden, Perspektive, Zuversicht und Halt in diesen Zeiten gibt, kann uns helfen. Für mich war klar, das muss mit rein.
Frage: Sie erwähnen in Ihrem Buch, dass Sie selbst mit dem Erwachsenwerden herausgefordert waren und dass Ihnen Ihr Glaube dabei geholfen hat. Was genau meinen Sie damit?
Thomas: Ich bin als Kind der 90er aufgewachsen, mit unzähligen Schönheitsidealen, kannte TV-Formate wie Baywatch, wurde geprägt durch Schönheitsikonen wie Claudia Schiffer. Gleichzeitig habe ich in christlichen Kreisen gelernt, dass eine Frau dem Mann in vielen Dingen untergeordnet sowie "still und angepasst" sein sollte. Meine Vorstellung von mir als weiblicher Person schwankte also zwischen "ich muss still, angepasst, höflich und gleichzeitig unfassbar sexy, dünn, schön und möglichst unabhängig sein". Durch all diese misogynen Narrative war ich lange Zeit verunsichert und bemüht, "alles richtig zu machen" und schadete mir dadurch selbst. Viele Menschen kennen diese Konflikte und das Gefühl, "falsch zu sein" oder "nicht gut genug zu sein". Die Botschaft von Jesus Christus: "Du bist genau so wie du bist richtig, wertvoll, geliebt und angenommen, unabhängig von deinem Geschlecht, deiner Herkunft, deinem sozioökonomischen Status, deinem Aussehen und deiner Leistung. Und du hast Gaben, die du für dich und andere einsetzen kannst", hat mir damals und auch heute sehr geholfen, ein unabhängiges Selbstbild zu entwickeln. Zudem hat mein Glaube dazu geführt, dass ich beruflich überhaupt das mache, was ich mache. In der Bibel wie auch in der Psychologie, dem Koran und im Yoga gibt es die Vorstellung, dass ein Beruf mehr ist als ein Job, sondern eine Berufung. Wir alle haben Gaben, einzigartige Leidenschaften und eine individuelle Lebensgeschichte und Erfahrungen, die uns prägen. Wir können damit anderen Menschen dienen und selber auch wirklich eine Sinnhaftigkeit im eigenen Leben finden. Auch diese Botschaft durfte in "On your Own" nicht fehlen.
Frage: Warum schreiben Sie in Ihrem Buch immer nur vom Glauben, in der Danksagung aber von Gott? Das Christentum erwähnen Sie gar nicht.
Thomas: Es war mir wichtig, alle Menschen anzusprechen und zu inkludieren, fernab von Konfession oder gar Religion. Das Christentum ist bei vielen mit diversen Stigmata besetzt, zurecht meines Erachtens. Denn im Namen Jesu Christi wurden bereits und werden nach wie vor Misogynie, Homophobie, das Patriarchat, Ausgrenzung von Minderheiten oder Andersgläubigen, Transfeindlichkeit und Kriege proklamiert. Das ist das Gegenteil von dem, was Jesus für uns wollte und im Sinn hat. Doch viele Menschen denken zuerst daran, wenn sie Christentum hören. Die oben genannte Botschaft gilt für ALLE Menschen und wir dürfen sie in unser Herz nehmen und mit anderen teilen. Und das versuche ich mit "On your Own" unabhängig von Konfessionen oder Religion.
Die Danksagung ist mein persönliches Wort an Freund:innen, Familie und andere Menschen, die mich im Schreibprozess und Leben begleiten. Ich wollte meiner Mutter und Großmutter explizit "danke" sagen, dafür, dass sie mir immer ein starkes, emanzipiertes Vorbild waren und mir Gott, Spiritualität und Christus auch unabhängig von Religion und Stigmata nahegebracht haben.
Frage: Welche Rückmeldungen haben Sie auf den Aspekt des Glaubens in Ihrem Buch bekommen? Waren die Leute überrascht, dass er vorkommt?
Thomas: Ehrlicherweise überhaupt keine. Ich glaube, für viele Menschen ist Glaube unabhängig von Konfessionen nichts Komisches, sondern wie gesagt eine Ressource.
Frage: Sie teilen im Buch auch Yoga als Tool. Manche Christen sagen, dass sich Yoga und christlicher Glaube ausschließen. Was sagen Sie dazu?
Thomas: Auf keinen Fall. Yoga ist eine tolle Möglichkeit, um zur Ruhe zu kommen und Gott und Jesus Christus nah zu sein. Durch Yoga entspannt sich unser Nervensystem, wir spüren unseren Atem, wir bauen Stress ab, kommen bei uns an und werden "still". Das ist gerade in unserer schnelllebigen Zeit oft schwer. Auch in der Bibel steht: Werde still. Denn in der Stille können wir Gott hören, uns selbst erkennen und uns verbunden fühlen. Zudem haben Yoga und der christliche Glaube einiges gemeinsam. In beidem lernen wir Praktiken und Werte, die uns in den Einklang mit uns, Gott, unserer Umwelt bringen können und auch der Atem spielt in beidem eine wichtige Rolle. Der größte Unterschied ist die Annahme Jesu Christi und diese nehme ich in meine Yogapraxis mit auf. Und jeder Mensch darf das für sich selbst entscheiden.
Frage: In welcher Situation hat Ihnen der Glaube konkret selbst geholfen?
Thomas: Da gibt es sehr viele. Vor kurzem haben mein Mann und ich ein Baby verloren. Solch ein Verlust ist schmerzhaft und nicht verstehbar. Wir haben einen lange unerfüllten Kinderwunsch und ich zudem eine schwerer Form von Endometriose. Solch ein Verlust ist nicht verstehbar, aber wir haben uns sehr getröstet und gehalten gefühlt. Oft wird angenommen, dass Zweifel und Glaube sich ausschließen oder wir uns "immer gut fühlen müssen, wenn wir an Gott glauben". Aber ein "gesunder Glaube" schließt den Zweifel und Schmerz mit ein und nicht aus. Jesus ist durch den größten Schmerz überhaupt gegangen und auch unser Schmerz darf da sein. Jesus ist für mich der Inbegriff von Liebe und Mitgefühl. Das ist ein wichtiger Trost und Ausblick und den durfte ich oft in meinem Leben erfahren.
Frage: Was würden Sie jungen Erwachsenen gerne mit auf ihren Weg geben?
Thomas: Die Botschaft: Glaub an dich und deine einzigartigen Begabungen, Interessen und Visionen. Du hast wunderschöne Gaben und eine einzigartige Stimme mitgegeben bekommen und darfst daraus etwas Wunderbares für dich und andere formen und in die Welt bringen!
Außerdem: Alle deine Gefühle, Unsicherheiten, Ängste und Zweifel sind absolut erlaubt. Du brauchst nicht immer positiv sein, um weit im Leben zu kommen. Und damit meine ich kein bestimmtes Ziel, sondern einfach den Zustand im Leben, an dem wir irgendwann zufrieden bei uns, Gott, dem Leben und anderen angekommen sind. Das wünsche ich uns allen.
Buchtipp
Annalena Thomas: On Your Own: Gemeinsam wachsen und ankommen, Verlag Lyx 2023, ISBN: 978-3-7363-1886-1, 16 Euro.