Kirche müsse ihre Frohe Botschaft vor Mächtigen behaupten

Israelischer Jesuit: Wir verüben hier kollektiven Selbstmord

Veröffentlicht am 14.10.2023 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Jerusalem ‐ Die Kirche hat zwischen der Gewalt im Heiligen Land die Aufgabe, die Frohe Botschaft für alle zu verkünden, sagt der israelische Jesuit David Neuhaus im katholisch.de-Interview. Seine Analyse der Situation im Land ist dennoch ernüchternd. Und trotzdem hat er Hoffnung.

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Die palästinensische Terrororganisation Hamas hat Israel überfallen, viele Menschen getötet, andere verschleppt. Die Bilder sind drastisch und brutal. Wo stehen da die Christen im Heiligen Land? Der Jesuitenpater David Neuhaus ist Israeli, wohnt den größten Teil seines Lebens im Heiligen Land und ist Professor am Päpstlichen Bibelinstitut in Jerusalem. Im Interview wirft er einen Blick auf Spaltungen, die Chance der Kirche und das Zusammenleben im Land.

Frage: Pater Neuhaus, wie haben Sie die Hamas-Attacken auf Israel erlebt?

Neuhaus: Wie jedes menschliche Wesen haben ich sie als schrecklich empfunden. Wie alle schrecklichen Ereignisse erlebt man sie mit Hilflosigkeit, Furcht und Abscheu. Das gilt aber auch für die Bombardierungen von Wohngebieten in Gaza. Das eine ist, als Mensch einem anderen Menschen ins Gesicht zu sehen und ihn niederzumetzeln. Das andere ist klinischer: Man sieht nicht, wen man tötet – aber man tötet. Und Töten ist abscheulich.

Frage: Wie verhält sich die christliche Gemeinschaft in Israel dazu?

Neuhaus: Ich glaube nicht, dass es so etwas wie "die" christliche Gemeinschaft hier gibt. Die offizielle Antwort der Kirche ist das eine, aber die Christen hier sind Teil der ethnischen Gruppe, der sie angehören. Viele Christen im Heiligen Land sind palästinensische Araber – und schauen auch als solche auf die Geschehnisse. Einige Christen sind hebräisch sprechende Israelis und haben deshalb auch einen israelischen Blickwinkel. Die religiösen Führer des Heiligen Landes hätten gern – ich auch –, dass Christen mit einem besonderen Blick auf die Welt schauen: Mit mehr Feindesliebe, Gerechtigkeitssinn, Versöhnung und vor allem dem christlichen Kernwert der Vergebung. Aber mitten in einem Kampf, in dem Menschen brutal umgebracht werden, werden Christen von ihren gesellschaftlichen Gruppen eingenommen. Sie sind Teil des Ganzen wie jeder andere normale Mensch – und das nicht immer in positiver Hinsicht.

Frage: Blicken palästinensische Christen also positiv auf die Angriffe?

Neuhaus: Das würde ich nicht sagen. Aber die meisten sehen in allererster Linie das schreckliche Leiden ihrer eigenen Leute, also der palästinensischen Araber. Erst danach schauen sie auf das Leiden der jüdischen Israelis, die Araber – gleich welcher Religion – nicht besonders gut behandeln. Auf der Seite der hebräisch sprechenden Christen ist es spiegelbildlich. Ich würde hoffen, dass die meisten Menschen wenigstens noch ein Iota Menschlichkeit haben, die andere Seite nicht ausradieren zu wollen. Aber in einer Zeit des Krieges halten die Menschen zu allererst zu ihrem Volk, auch Christen.

Bild: ©KNA/Andrea Krogmann

In Israel werden die ersten Opfer der Angriffe beerdigt.

Frage: Das Christentum hat also nicht die Kraft, Grenzen von Ethnien zu überwinden?

Neuhaus: Ich habe über Christen gesprochen, nicht über das Christentum. Christen sind nicht immer christlich, denn sie sind Menschen. Christliche palästinensische Araber können mehr palästinensische Araber als Christen sein, hebräisch sprechende israelische Christen können sich ihrer ethnischen Gruppe mehr zugehörig fühlen als den Christen. Das zeigt sich vor allem in Zeiten wie der, in der wir gerade leben. Das Christentum als Religion, die Kirche und ihre Führer können dagegen eine wichtige Rolle spielen, indem sie eine Sprache sprechen, die nicht in das Loch einer Sprache von Verachtung, Hass und Rache fällt, die von vielen politischen Führern hier und weltweit gesprochen wird. Christliche Führer haben die Möglichkeit – auch wenn sie die nicht immer nutzen – dagegenzuhalten. Papst Franziskus hat gesagt, dass ein Krieg für alle Beteiligten eine Niederlage ist. Damit formuliert er eine Wahrheit, die in den politischen Diskurs hineingetragen werden muss. Denn momentan heißt es oft: Der Krieg ist unsere Lösung, ein Sieg ist möglich. Solche Haltungen sind sehr destruktiv.

Frage: Aber eine erste Stellungnahme christlicher Kirchenführer wurde vom Staat Israel kritisiert, es verurteile den Hamas-Angriff nicht genug.

Neuhaus: Wenn der Staat Israel mehr Verurteilung will, heißt das nicht, dass wir unsere Nacken beugen und dem unwidersprochen folgen müssen. Unsere Worte müssen prophetisch sein – sie müssen auf den König verweisen und den Menschen sagen: Ihr handelt nicht nach dem Willen Gottes! Das heißt auch nicht, dass die Kirche immer Gottes Willen umsetzt. Aber die Kirche muss prophetisch sein – und der Prophet in der Bibel hat den Mut, sich gegen seinen König zu stellen und zu sagen: "Hast du gemordet und auch in Besitz genommen?" (1 Kön 21,19). Wir müssen nicht sagen, was die Israelis hören wollen. Natürlich werden wir dann beschuldigt, antisemitisch zu sein. Wir müssen auch nicht sagen, was die Palästinenser von uns hören wollen – auch wenn sie uns dann Kolonialisten schimpfen. Die Kirche sollte die Freiheit haben, zu sagen, was gesagt werden muss, weil sie keine beteiligte Partei ist. Sie hat wirtschaftlich nichts daran zu gewinnen, militärisch keine Vorteile davon. Wir sind aus einem einzigen Grund hier: Die Frohe Botschaft zu verkünden – und das ist eine Botschaft für alle! Diese Botschaft soll verändern und einen Horizont aufmachen, der eine neue Vision von der Hölle ermöglicht, die wir hier geschaffen haben.

Frage: Wird sich die momentane Situation negativ auf die Stellung der Christen in Israel auswirken?

Neuhaus: Wir leben nicht in einem Land, in dem Christen als gleichwertige Bürger angesehen werden – und das hat nichts mit ihrer Religion zu tun, sondern damit, dass sie in der Regel palästinensische Araber sind. Israel ist ein jüdischer Staat, der von sich ebenso behauptet, demokratisch zu sein. Es ist bis heute ein Rätsel, wie das beides zusammengehen soll. Diesen inneren Widerspruch gibt es nicht erst seit gestern. Wir hatten allerdings noch nie so eine ethnozentrische Regierung wie im Moment. 1948 wurde Israel als jüdischer Staat gegründet, war also schon immer ethnozentrisch, aber im Spannungsfeld zwischen Ethnie und Demokratie ist die Politik noch nie so sehr in Richtung der Ethnie ausgeschlagen, wie es in der jetzigen Regierung der Fall ist. Ich glaube also nicht, dass Christen das Gefühl haben, hier etwas zu gewinnen zu haben. Ich glaube auch nicht, dass nationalistische Israelis jemals etwas anderes von Christen erwarten werden, als wie Palästinenser zu fühlen. Die meisten Christen mögen die Hamas nicht, denn das ist eine islamistische Gruppe, die aus nachvollziehbaren Gründen für Christen sehr bedrohlich ist. Aber sie haben eine gemeinsame Identität und geteilte Geschichte mit muslimischen und anderen christlichen palästinensischen Arabern.

„Die meisten Christen möchten gleichberechtigte Staatsbürger in einem Staat sein, der ihren Beitrag zur Gesellschaft würdigt.“

—  Zitat: David Neuhaus

Frage: Wird sich diese ethnozentrische Tendenz mit den Kämpfen verschärfen?

Neuhaus: Ich bin kein Prophet, also kann ich nichts über die Zukunft sagen. Was allerdings nicht erst seit vergangenem Samstag geschieht: Identität wird immer ethnozentrischer, die einzelnen Gruppen der Gesellschaft denken exklusiver. Das zeigt sich an den extremsten Mitgliedern der Regierungskoalition, die immer nur an das Jüdische appellieren wie auch an den extremsten Ausprägungen der islamischen Ideologie, die nur an das Muslimische denkt. Beides ist für Christen sehr entfremdend. Die meisten Christen möchten gleichberechtigte Staatsbürger in einem Staat sein, der ihren Beitrag zur Gesellschaft würdigt: Wir haben einige der besten Schulen und Krankenhäuser hier – und die sind für alle offen. Natürlich haben wir unter den Christen Probleme mit Selbstüberhöhung und dem Ausschließen anderer. Aber unsere öffentlichen Institutionen sind nicht so. Egal ob im Gazastreifen, in Israel oder im Westjordanland – bei uns ist jeder willkommen. Ungeachtet dessen war die Lage für Christen schon vor den Angriffen sehr schlecht, weil der Diskurs immer mehr mit Hass, Ablehnung und Rache angefüllt wurde.

Frage: Haben Sie für dieses Land noch Hoffnung?

Neuhaus: Vielleicht ist es eine total vergebliche Hoffnung, aber ich habe sie: Dass wir in den extremen Situationen, die sich entwickelt haben, im Niederschießen von Alten und Säuglingen, in den Enthauptungen, dem Niederbomben ganzer Nachbarschaften – dass da jemand aufwacht und sagt: Das ist doch völlig inakzeptabel! Wir töten uns selbst! Wir verüben hier kollektiven Selbstmord! Aber das ist nur eine Hoffnung. Ich hoffe mehr und mehr, dass jemand diesen Weg geht.

Von Christoph Paul Hartmann