In unmittelbarer Nähe liegt der "kriminalitätsbelastete" Görlitzer Park

St. Marien/Liebfrauen in Berlin: Eine Gemeinde im sozialen Brennpunkt

Veröffentlicht am 16.11.2023 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 
#KircheVorOrt

Berlin ‐ Der Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg gilt als "kriminalitätsbelasteter Ort", zuletzt sorgte eine mutmaßliche Vergewaltigung für Entsetzen. In unmittelbarer Nähe des Parks und mitten im sozialen Brennpunkt liegt die Kirchengemeinde St. Marien/Liebfrauen, die sich stark karitativ engagiert. Ein Besuch.

  • Teilen:

Aus der Vogelperspektive betrachtet sieht der Görlitzer Park eigentlich sehr schön aus. Wer mit einem der gängigen Kartendienste auf den 14 Hektar großen Park im Berliner Ortsteil Kreuzberg blickt, sieht unter anderem viele Bäume und Liegewiesen, geschwungene Wege, einen kleinen Teich, einen Fußballplatz und sogar einen Kinderbauernhof. Eine Oase mitten in der Großstadt – so scheint es.

Doch der digitale Blick von oben trügt. Denn der "Görli", wie er in Berlin meist nur genannt wird, ist alles andere als eine Idylle. Vielmehr wurde der Park von der Polizei in der Hauptstadt bereits vor längerer Zeit als "kriminalitätsbelasteter Ort" eingestuft. Hier geschehen "Straftaten von erheblicher Bedeutung, also zum Beispiel Raubtaten, Brandstiftungen, gefährliche Körperverletzungen, gewerbs- oder bandenmäßiger Taschendiebstahl oder Rauschgifthandel usw., verabredet, vorbereitet oder verübt werden", wie die Polizei auf ihrer Internetseite erklärt.

Entsetzen über mutmaßliche Gruppenvergewaltigung

Im Görlitzer Park ist vor allem die Drogenkriminalität ein Problem. An vielen Ecken stehen Dealer – die meisten von ihnen Asylbewerber aus afrikanischen Staaten – und versuchen, ihren "Stoff" zu verkaufen. Dies wiederum lockt viele Drogenabhängige an, die sich nicht selten direkt im Park den nächsten Schuss setzen. Neben den Drogendelikten war der Park in den vergangenen Jahren zudem immer wieder Schauplatz von Gewalttaten. Für Entsetzen weit über Berlin hinaus sorgte in diesem Sommer eine mutmaßliche Gruppenvergewaltigung. Drei Drogendealer sollen ein Pärchen nachts zuerst ausgeraubt und die Frau anschließend vor den Augen ihres Begleiters vergewaltigt haben. Seither wird in der Berliner Politik aufgeregt darüber diskutiert, wie man der Probleme im "Görli" endlich Herr werden kann.

Bild: ©katholisch.de/stz

Bernhard Kreß ist Pastoralreferent in der Kirchengemeinde St. Marien/Liebfrauen im Berliner Wrangelkiez.

Sorgenvoll beobachtet wird die Lage im Park auch im unmittelbar angrenzenden Wrangelkiez – nicht nur, weil der Park für viele Menschen hier ein wichtiger Naherholungsort ist, sondern auch, weil die Probleme aus dem Park zunehmend auch in den als Szeneviertel geltenden Multikulti-Kiez schwappen. Gegenüber Berliner Medien berichteten in den vergangenen Wochen zahlreiche Anwohner über unangenehme Begegnungen mit aggressiven Dealern und Junkies, eine zunehmende Verwahrlosung des Stadtbildes und ein daraus resultierendes wachsendes Unsicherheitsgefühl.

Intensiv verfolgt wird die Situation auch in der katholischen Gemeinde St. Marien/Liebfrauen, die mit ihrer an eine mittelalterliche Festung erinnernden Kirche mitten im Wrangelkiez liegt. "Wir bekommen natürlich ziemlich viel von dem mit, was im Park und drumherum los ist", erzählt Pastoralreferent Bernhard Kreß beim Besuch von katholisch.de. Kreß arbeitet seit 2020 in der Gemeinde und hat den Eindruck, dass sich die Lage in "Görli" und Kiez seither kontinuierlich verschlechtert hat. "2020 hatten wir die Corona-Pandemie mit ihren Ausgangsbeschränkungen, weshalb es im Park und auf den Straßen damals etwas ruhiger war. Seit dem Ende der Beschränkungen haben die Probleme aber wieder deutlich zugenommen", berichtet er.

Drogenspritzen auf dem Spielplatz, Obdachlose im Treppenhaus

Kreß beteiligt sich für die Gemeinde auch am "Runden Tisch Görlitzer Park", einem vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg eingerichteten Dialogforum, in dem Vertreter von Bezirksamt und Polizei seit einiger Zeit unter anderem mit lokalen Gewerbetreibenden, sozialen Trägern wie den Kirchen und Vertretern der Anwohnerschaft über die Probleme im Park und den angrenzenden Vierteln sprechen. Vor allem die Anwohner hätten bei den zurückliegenden Treffen "ordentlich Zoff" gemacht, erzählt der Pastoralreferent. "Viele Menschen gehen verständlicherweise auf die Barrikaden, wenn sie in ihrem Hauseingang oder auf dem Spielplatz immer wieder Drogenspritzen finden oder Obdachlose bei ihnen im Treppenhaus schlafen."

„Es gibt oft Übergriffe, lautes Geschrei und ein großes Müll- und Fäkalienproblem. Oft muss die Polizei gerufen werden, und viele Menschen haben Angst, die Werktagsgottesdienste zu besuchen.“

—  Zitat: Auszug aus dem Protokoll der Gemeinderatssitzung von Juni, bei der es auch um die Situation auf dem Gelände der Kirchengemeinde ging.

Auch die Kirchengemeinde selbst ist regelmäßig mit den Problemen im Kiez konfrontiert. Die Situation auf dem Kirchhof an der Wrangelstraße sei "teilweise unerträglich", heißt es im Protokoll der Gemeinderatssitzung von Juni. Und weiter: "Es gibt oft Übergriffe, lautes Geschrei und ein großes Müll- und Fäkalienproblem. Oft muss die Polizei gerufen werden, und viele Menschen haben Angst, die Werktagsgottesdienste zu besuchen." Mitunter komme es auch zu Vorfällen in den Gottesdiensten, ergänzt Kreß. "Es passiert schon mal, dass ein Drogenabhängiger oder ein Obdachloser in die Messe poltert; einmal hat sich einer sogar in der Kirche ausgezogen." Die Gottesdienstbesucher seien davon – verständlicherweise – zwar nicht begeistert, einen Eklat habe es deswegen aber noch nie gegeben.

Karitative Projekte für Menschen in Not

Dass Drogenabhängige und Obdachlose in großer Zahl auf das Gelände der Gemeinde kommen, hat einen Grund: St. Marien/Liebfrauen engagiert sich als Kirche im sozialen Brennpunkt seit vielen Jahren mit mehreren karitativen Projekten für Menschen in Not. Das wichtigste – weil am meisten genutzte – Angebot ist die Suppenküche der bereits seit 1984 auf dem Gemeindegelände ansässigen Missionarinnen der Nächstenliebe. An fünf Tagen in der Woche servieren die Schwestern der von der heiligen Mutter Teresa gegründeten Ordensgemeinschaft in einem kleinen Raum neben der Kirche Mittagessen für Bedürftige. Laut Kreß kommen meist zwischen 100 und 150 Menschen, am Monatsende – wenn das Geld bei vielen Bedürftigen knapp wird – seien es noch mehr. An den Tagen, an denen die Suppenküche geschlossen ist, gehen die Schwestern nach den Worten des Pastoralreferenten zudem oft durch den Kiez, um sich auch dann um "ihre Leute" zu kümmern und ihnen Essen zu bringen.

Ergänzt wird das Angebot der Suppenküche durch das "Mittwochs-Kaffee", das die Gemeinde gemeinsam mit ehrenamtlichen Helfern organisiert. Auch hier können Bedürftige ein warmes Essen und Lebensmittelspenden erhalten oder einfach nur reden und Karten spielen. Die "Kundschaft", die die Suppenküche und das "Mittwochs-Kaffee" besucht, ist seinen Angaben zufolge ein "buntes Gemisch", die größte Gruppe bildeten jedoch obdachlose Osteuropäer.

Bild: ©picture alliance / SZ Photo | Friedrich Bungert

Der Görlitzer Park aus der Vogelperspektive. Ganz am rechten Bildrand sieht man den Kirchturm von St. Marien/Liebfrauen im Wrangelkiez.

Trotz der "teilweise unerträglichen" Zustände und der damit einhergehenden Herausforderungen im Alltag steht Kreß voll hinter dem sozialen Engagement der Gemeinde. "Ich denke, dass das hier ein gutes Beispiel für den Rand ist, an den die Kirche nach dem Willen von Papst Franziskus gehen soll", sagt der Pastoralreferent. "Wir sind hier mitten in Berlin, der Hauptstadt einer reichen Industrienation. Und trotzdem sind wir mit bitterster sozialer Not konfrontiert." Umso wichtiger sei es, dass Kirche genau an einem solchen Ort präsent sei und ihrem karitativen Auftrag gerecht werde.

Ein Zaun um den "Görli"? – "Davon werden die Probleme nicht gelöst"

Einen ähnlichen fürsorgenden Ansatz würde sich Kreß auch für den Umgang mit den Problemen im Görlitzer Park wünschen. Von der derzeit in der Berliner Politik kursierenden Idee, den Park einzuzäunen und nachts abzuschließen, hält er jedenfalls nichts: "Dadurch werden die Probleme im Park nicht gelöst, sondern nur verlagert – unter anderem noch stärker hier in den Kiez." In seiner Horrorvorstellung stehen die Drogendealer dann irgendwann auch auf dem Kirchhof. Mit bloßem Aktionismus, ist Kreß überzeugt, komme man bei der Lösung der Probleme im "Görli" nicht weiter.

"Ich habe den Eindruck, dass die Politik das Thema schnell loswerden möchte. Aber mit einem Fingerschnippen lassen sich die Probleme hier nicht lösen", betont der Theologe. Man habe in Park und Kiez vielfach mit obdachlosen, suchtabhängigen und psychisch beeinträchtigten Menschen zu tun. "Da ist Sozialarbeit gefordert, die viel Zeit und Geld braucht." Auf die Frage, welchen konkreten Rat er Politikern wie etwa dem seit Frühjahr amtierenden Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) mit Blick auf den "Görli" geben würde, zögert er zunächst, sagt dann aber doch: "Die Politik sollte sich mehr mit den Gründen für die Probleme im Park beschäftigen. Und das viele Geld, das ein Zaun kosten würde, sollte man lieber in Sozialarbeit, Suchtberatung und Drogenkonsumräume investieren. Dann wäre schon viel geholfen."

Von Steffen Zimmermann