Seelsorger über die Kreuzberg-Gillamoos-Aussage des CDU-Chefs

Kreuzberger Pater zu Merz: Kann mit solchen Abwertungen nichts anfangen

Veröffentlicht am 09.09.2023 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Berlin ‐ "Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland": Mit dieser vielfach als Abwertung des Berliner Multikulti-Bezirks verstandenen Aussage hat Friedrich Merz eine Kontroverse ausgelöst. Im Interview antwortet ihm nun der in Kreuzberg lebende und dort als Seelsorger tätige Pater Benno Rehländer.

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Mit seiner beim politischen Frühschoppen auf dem Gillamoos-Volksfest im bayerischen Abensberg getätigten Aussage "Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland" hat der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz Anfang der Woche eine Kontroverse ausgelöst. Kritiker warfen dem 67-Jährigen vor, den Berliner Multikulti-Bezirk und die dort lebenden Menschen pauschal abgewertet und ausgegrenzt zu haben. Im Interview mit katholisch.de blickt der in Kreuzberg lebende und als Seelsorger tätige Pater Benno Rehländer aus seiner Sicht auf die Aussage des CDU-Politikers. Außerdem spricht er über sein Leben in Kreuzberg und das Miteinander der Menschen und Religionsgemeinschaften in dem Bezirk – und er lädt Friedrich Merz zu einem Besuch ein.

Frage: Pater Benno, was sagen Sie als in Kreuzberg lebender und arbeitender Seelsorger zu der Aussage von Herrn Merz, dass Kreuzberg nicht Deutschland sei?

Pater Benno: Die Frage ist erst einmal, was Kreuzberg überhaupt ist. Der Bezirk hat zehnmal so viele Einwohner wie Abensberg, wo der Gillamoos stattfindet. Zudem besteht Kreuzberg aus total unterschiedlichen Gegenden. Unsere Pfarrei feiert hier in vier Kirchen Gottesdienste, maximal 20 Minuten mit dem Fahrrad voneinander entfernt. Jede in ihrem eigenen Kiez, in einem unterschiedlichen Sozialraum. Ich selber lebe neben der Kirche St. Marien Liebfrauen im Wrangelkiez, unweit des Görlitzer Parks. Die Gemeinde und die Umgebung sind ganz anders als etwa rund um die Kirche St. Bonifatius, den "Klein-Vatikan" in der Yorckstraße. Wenn "Kreuzberg" nicht "Deutschland" sein soll, frage ich mich also zunächst, welches Kreuzberg Herr Merz überhaupt meint.

Frage: Wie ist die von den meisten Beobachtern als Kritik oder gar Abwertung Kreuzbergs verstandene Aussage von Herrn Merz im Bezirk selber angekommen?

Pater Benno: Da kann ich nur für mich selbst sprechen: Mit solchen Abwertungen oder Gegenüberstellungen, wie Herr Merz sie beim Gillamoos geäußert hat, kann ich überhaupt nichts anfangen. Deutschland als Bundesrepublik ist von Natur aus divers. Unterschiede zwischen den Bundesländern sind verfassungsgemäß und sogar gewollt. Ich glaube, Kreuzberg ist genauso Deutschland wie Neuschwanstein, Ahlbeck oder Brilon. Gott sei Dank!

Bild: ©privat

Pater Benno Rehländer lebt und arbeitet als Seelsorger in Berlin-Kreuzberg.

Frage: Was meinen Sie, warum äußert sich Herr Merz so? Warum benutzt er Kreuzberg offenbar als negative Chiffre?

Pater Benno: Ich versuche es mal seelsorglich zu deuten. Vielleicht fühlt er sich einfach auf dem Gillamoos wohler als im Wrangelkiez – wobei ich gar nicht weiß, ob er einen der beiden Orte wirklich kennt. Oft findet man es ja einfacher, mit Situationen und Gegebenheiten umzugehen, die man kennt. Man fühlt sich meist da sicher, wo man weiß – oder zu wissen glaubt –, dass die Leute so denken, wie man selbst, die gleichen Ziele und Visionen haben und die gleichen Werte vertreten. Ob das auf dem Gillamoos für Herrn Merz der Fall war, kann ich allerdings nicht sagen.

Frage: Wie blicken Sie selbst auf Kreuzberg?

Pater Benno: Ich wohne jetzt seit zweieinhalb Jahren in Kreuzberg, und ich werde immer wieder überrascht. Ja, natürlich gibt es hier in meinem Kiez viel Kriminalität, die Straßen sind nicht so sauber, die Häuser nicht so gepflegt und die Vorgärten – wenn vorhanden – etwas wilder. Für mich steht Kreuzberg aber auch für ganz viel anderes. Dabei faszinieren mich vor allem eher unscheinbare Sachen. Da gibt es zum Beispiel das "Foodsharing Netzwerk" – Menschen, die übrig gebliebene Lebensmittel aus Restaurants, Bäckereien, Cafés abholen und an Menschen weiter geben, die es brauchen. Natürlich ehrenamtlich. Da gibt es die Familien, die eine Baumscheibe oder eine kleine Grünfläche an den Straßen und Plätzen adoptieren und dort Blumen oder Kräuter pflanzen und pflegen. Da gibt es junge Leute, die im Görlitzer Park Pizza backen und verteilen oder in unserem Kirchhof Essen ausgeben und dabei mit den Menschen in echte Begegnung kommen. Ich erlebe hier Bürger:innen-Initiativen, die miteinander überlegen, wie sie das Leben im Kiez für die Menschen lebenswerter machen können. Und es gibt ganz viel Suchen nach und Einsatz für Gerechtigkeit und für eine bessere Zukunft.

„Ich bin gerne in Kreuzberg. Die Vielfalt der Lebensformen, Nationen, Religionen und Weltanschauungen ist immer wieder spannend und faszinierend.“

—  Zitat: Pater Benno

Frage: Was würden Sie Herrn Merz auf seine Aussage über Kreuzberg gerne antworten?

Pater Benno: Ich bin gerne in Kreuzberg. Die Vielfalt der Lebensformen, Nationen, Religionen und Weltanschauungen ist immer wieder spannend und faszinierend. Manchmal habe ich das Gefühl, es gibt hier sogar dörfliche Strukturen, wenn die Menschen sich – jung und alt – auf einem verkehrsberuhigten Platz zum Spielen, Skaten oder gemeinsamen Trinken treffen. Es gibt hier eine große Toleranz und oft auch eine große Wertschätzung gegenüber dem Anderssein der Anderen. Man muss hier keinen Normen entsprechen, um "normal" zu sein. Vielfalt ist normal und selbstverständlich. Auch im religiösen Kontext ist das so. In unseren Gemeinden kommen Menschen mit unterschiedlichsten Lebensformen, religiösen Prägungen und sozialen Hintergründen zusammen. Egal ob Professor:in oder Bürgergeld-Empfänger:in, ob man hin und wieder den Hindutempel besucht oder die tridentinische Messe, ob man "Church Hopping" macht oder hier seit Jahren sesshaft ist, im Sonntagsgottesdienst in Kreuzberg beten wir miteinander – und trinken danach zusammen noch einen Kaffee. Ich habe hier immer wieder mit Suchenden zu tun, die neu eine Heimat in der katholischen Kirche finden, ich erlebe die ökumenische und interreligiöse Begegnung als große Bereicherung und lerne von vielen Menschen, die sehr authentisch ihren je eigenen Glauben suchen und leben.

Frage: Würden Sie Herrn Merz gerne mal einladen, um ihm das "echte" Kreuzberg und die vielen guten Seiten des Bezirks zeigen zu können?

Pater Benno: Selbstverständlich kann Herr Merz gerne mal herkommen. Kreuzberg ist für alle da! Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob er den Bezirk bei einem kurzen, pressebegleiteten Besuch wirklich kennen lernen würde. Aber vielleicht kann er ja mal ganz privat aufs Fahrrad steigen und hierher kommen, sich beim Späti ein Bier holen – und nebenan ein frisches Fladenbrot – und dann zum Lausitzer Platz gehen und den Leuten beim Gärtnern zuschauen, im Görlitzer Park mit den Menschen Frisbee spielen oder sich in den vielen kleinen Läden mit den Betreiber:innen über die Probleme mit steigenden Mieten unterhalten.

Von Steffen Zimmermann

Zur Person

Pater Benno wurde in Berlin geboren. Er hat in Erfurt, Rom und Münster katholische Theologie studiert, in Dresden als Bistumsjugendreferent gearbeitet und ist 2010 in die Benediktinerabtei Ettal eingetreten. Dort wurde er zum Diakon und Priester geweiht und war vor allem im Internat und Gymnasium aktiv. 2020 hat er um Exklaustration (Ausgliederung aus der Gemeinschaft) gebeten und ist nach Berlin zurückgekehrt, um hier zu prüfen, ob er seinen Weg als Diözesanpriester fortsetzen soll. Vom katholischen Oberbayern ist er nach Berlin-Kreuzberg gekommen, wo er als Seelsorger in der Pfarrei Bernhard Lichtenberg arbeitet, mittlerweile mit Schwerpunkt in Berlin-Mitte. Er wohnt jedoch mit zwei Steyler Missionaren zusammen im Kreuzberger Wrangelkiez – unweit vom Görlitzer Park – und lernt von dort aus Kreuzberg kennen und lieben.