Offenlegung von Täternamen: Rechtliches Neuland für die Aufarbeitung
Nicht einmal ein halbes Jahr hat es von der Ankündigung zur Umsetzung gedauert: Am vergangenen Mittwoch veröffentlichte das Bistum Aachen die Namen und die beruflichen Stationen von 53 verurteilten und mutmaßlichen Missbrauchstätern. Acht Personen werden als Täter bezeichnet, 45 als mutmaßliche Täter. Bischof Helmut Dieser begründete gegenüber der Presse den Schritt mit der Aufarbeitung von Missbrauch. Betroffene hätten ihn in persönlichen Gesprächen um die Veröffentlichung von Täternamen gebeten: "Viele drücken ihr Verlangen nach Gerechtigkeit aus, die darin besteht, dass der Täter und seine Taten nicht verschwiegen, sondern benannt und der Täter zur Rechenschaft gezogen wird." Verbunden mit der Veröffentlichung sind Aufrufe an mögliche weitere Betroffene, sich zu melden.
Mit der Offenlegung bewegt sich das Bistum Aachen auf einem rechtlich heiklen Gebiet, zu dem es in Deutschland verhältnismäßig wenig Präzedenzfälle gibt. Während es in den USA seit Jahren üblich ist und von der Gesellschaft erwartet wird, dass Bistümer die Namen von "credibly accused", von "glaubwürdig beschuldigten" mutmaßlichen Tätern lückenlos veröffentlichen, ist das in dieser Breite in Deutschland weder üblich noch möglich. In den Missbrauchsgutachten der Bistümer war es bislang üblich, Täter nur anonymisiert zu nennen, namentlich tauchten nur die höchsten Verantwortlichen in der Kirche, in der Regel Bischöfe und Generalvikare, auf.
Klare Kriterien entwickelt
In Aachen mussten die ursprünglichen Ambitionen im Lauf der Beratungen zurückgefahren werden. Noch im September kündigte Generalvikar Andreas Frick an, künftig grundsätzlich Namen von Tätern sexualisierter Gewalt öffentlich zu nennen: "Als Täter gelten diejenigen, die entweder verurteilt wurden oder nach unserer Überzeugung Täter waren oder sind." Die nun vorgestellten Kriterien sind restriktiver: Genannt werden nur noch Namen von Personen, die länger als zehn Jahre verstorben sind. Als Täter werden Personen bezeichnet, die in einem staatlichen oder kirchlichen Strafverfahren wegen Sexualdelikten verurteilt wurden. Für die Bezeichnung als mutmaßlicher Täter muss mindestens ein positiv beschiedener Antrag auf Anerkennung des Leids von der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) vorliegen. Die UKA nimmt gemäß ihrer Ordnung nur eine Plausibilitätsprüfung der Angaben von Betroffenen vor, eine Prüfung nach den Standards eines Gerichtsverfahrens ist nicht vorgesehen.
Bei der Entwicklung der Kriterien für die Veröffentlichung wurde das Bistum Aachen unter anderem von dem Hamburger Rechtsanwalt Oliver Stegmann beraten. Der Jurist ist Experte für Presse- und Äußerungsrecht. "Die Kirche muss auch die Persönlichkeitsrechte von Tätern und Beschuldigten beachten", betont er gegenüber katholisch.de. Selbst verurteilte Täter seien nicht vogelfrei: "Auch Täter haben einen Anspruch auf Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte. Dazu gehört insbesondere das Resozialisierungsinteresse." Zudem kann die Veröffentlichung von Details zu Beschuldigten auch für Betroffene belastend sein. "Es kann leicht passieren, dass zu detaillierte Angaben über Täter und deren Taten die Identifizierung von Opfern möglich machen. Das wollen die meisten Betroffenen natürlich nicht.", erläutert Stegmann.
Mit der Veröffentlichung von Täternamen hat das Bistum Aachen Neuland in der Kirche in Deutschland beschritten. Eindeutige gesetzliche Regelungen gibt es nicht. Auf die für die Presse geltenden Kriterien der Verdachtsberichterstattung lässt sich dabei nicht einfach zurückgreifen, betont Stegmann: Die Kirche ist schließlich nicht die Presse. Vor einer Veröffentlichung müsse sie daher sorgfältig Interessen abwägen. "Für die Veröffentlichung von Täternamen spricht das Aufklärungs- und Informationsinteresse der Öffentlichkeit und von Betroffenen. Das Interesse ist unter anderem deshalb hoch, weil Missbrauchsfälle jahrelang vertuscht wurden", nennt der Anwalt Argumente dafür.
Gefahr der Stigmatisierung und Recht auf Resozialisation
In Aachen hat man sich dagegen entschieden, die Namen lebender Beschuldigter grundsätzlich öffentlich zu machen. Das hält Stegmann auch für angemessen. Aufgrund der Stigmatisierungswirkung von Vorwürfen müsse man hier besonders vorsichtig und zurückhaltend sein: "Denn selbst wenn sich Vorwürfe später nicht bestätigen, kann eine Offenlegung eines Namens nie ganz ungeschehen gemacht werden. Etwas bleibt immer hängen." Auch bei lebenden Personen könne ein besonders hohes Informationsinteresse der Öffentlichkeit bestehen, etwa wenn es Anhaltspunkte für noch nicht aufgeklärte weitere Taten gibt. Hier sei aber in jedem Fall eine Einzelfallentscheidung und eine Abwägung des konkreten Falls unabdingbar, betont der Jurist.
Persönlichkeitsrechte enden nicht mit dem Tod: "Das ist Ausfluss der im Grundgesetz garantierten Menschenwürde", sagt Stegmann: "Verstorbene sind vor schwerwiegenden Verfälschungen ihres Lebensbilds geschützt." Je weiter der Tod zurückliegt, desto geringer ist dieser Schutz. Klare gesetzliche Regelungen gibt es dabei aber nicht. Die Aachener Frist von 10 Jahren ist laut Stegmann eine Analogie zum Kunsturhebergesetz: Dort wird geregelt, dass Angehörige noch zehn Jahre nach dem Tod zustimmen müssen, wenn Bilder des Verstorbenen veröffentlicht werden sollen. "Das ist zwar ein anders gelagerter Fall, aber es ist eine konkrete Aussage des Gesetzgebers zur Dauer von postmortalen Persönlichkeitsrechten."
Von den acht als Täter bezeichneten Personen wurden alle bis auf einen durch ein staatliches Gericht verurteilt. Nur in einem – bereits zuvor bekannten – Fall liegt allein ein kirchliches Strafurteil vor. Aus dem kirchlichen Selbstverständnis heraus sei es konsequent, kirchlich belangte als Täter zu bezeichnen, sagt Stegmann. "Unter Zugrundelegung der Maßstäbe weltlichen Rechts gilt für kirchlich Verurteilte die Unschuldsvermutung", ergänzt er aber: "Medien können über die Kriterien eines Bistums berichten und Täternamen nennen. Sie sollten sich diese Kriterien aber nicht im Rahmen eigener Recherchen und Berichterstattung zu eigen machen. Ein kirchliches Strafurteil hat im weltlichen Recht nicht die Bedeutung, die eine Bezeichnung als 'verurteilter Straftäter' rechtfertigen würde."
Der Vatikan ist gegen pauschale Offenlegungen
Im staatlichen Recht gibt es eine lange Tradition persönlichkeitsrechtlicher Rechtssprechung, auf die man sich bei der Entwicklung von Kriterien für die Veröffentlichung stützen kann. Im kirchlichen Recht fehlt eine derartige Tradition, obwohl das kirchliche Gesetzbuch Persönlichkeitsrechte regelt. In c. 220 CIC ist festgehalten, dass niemand das Recht hat, den guten Ruf eines Menschen rechtswidrig zu schädigen. Außerdem wird dort die Intimsphäre geschützt.
Dass diese Regelung auch für die Veröffentlichung von Täternamen einschlägig ist, stellte der Päpstliche Rat (heute Dikasterium) für die Gesetzestexte 2016 fest. In einem Antwortschreiben auf eine Anfrage einer Bischofskonferenz (welcher, ist nicht bekannt), zeigte sich die vatikanische Behörde skeptisch. Zwar räumt der Rat ein, "dass die Schädigung des guten Rufs manchmal legitim sein kann, weil das Wohl der Person oder der Gemeinschaft höher steht". In manchen Fällen sei eine Veröffentlichung von Täternamen auch legitim, und zwar nur dann, wenn dadurch eine Gefahr für die Öffentlichkeit abgewendet werden soll. Im Ergebnis aber sprach sich der Rat deutlich gegen eine Veröffentlichung aus, und zwar insbesondere bei Verstorbenen, da dort durch die Veröffentlichung nie eine Gefahr abgewendet werden könne. Legitime Interessen von Betroffenen an der Aufarbeitung erwähnt das Schreiben nicht. Der Rat betonte aber auch, dass staatliches Recht in die Abwägungen einfließen muss. Konsequenzen der Position des Vatikans sind nicht bekannt: In den USA wurden auch nach dieser Entscheidung weiter Namen von "glaubwürdig Beschuldigten" veröffentlicht – ohne römische Intervention.
Die Position des Rates für die Gesetzestexte kann die Kirchenrechtlerin Martina Tollkühn nachvollziehen. Die wissenschaftliche Oberassistentin am Lehrstuhl für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern ist Expertin für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte in der Kirche. Bei der Veröffentlichung der Namen verstorbener mutmaßlicher Täter ist sie sehr zurückhaltend. "Das große Problem dabei ist, dass der Angeklagte sein Recht auf Gehör und Verteidigung nicht wahrnehmen kann", gibt sie zu bedenken: "Damit Recht gerecht ist, muss es allen Parteien gegenüber gerecht sein."
Bei den Aachener Kriterien würdigt sie die Anlehnung ans staatliche Recht. Es sei gute Praxis, wenn der kirchliche Gesetzgeber äquivalente Regelungen aus dem staatlichen Recht nicht unterschreite. Eindeutige rechtliche Vorgaben im staatlichen Bereich hält sie für sinnvoll: "An eine klare staatliche Regelung müsste sich auch die Kirche halten. Daher wäre es sinnvoll, wenn hier der staatliche Gesetzgeber tätig würde."
Verbrechen können und müssen benannt werden
Wie kompliziert die Frage der Veröffentlichung ist, machte auch der Aachener Bischof deutlich bei der Vorstellung der Kriterien wie auch später in einem Hirtenbrief deutlich. Nicht nur rechtliche Erwägungen seien in die Entscheidung eingeflossen, sondern vor allem auch die Erwartungen von Betroffenen an Aufarbeitung und Gerechtigkeit und die Gefahren, die damit einhergehen, dass Vorwürfe sich auch als unbegründet erweisen können. Dazu komme der Schock und die Verunsicherung, wenn ein geschätzter Priester als Täter offenbar wird: "Alle diese Belastungen und Erschütterungen gehören aber zur Aufarbeitung der Verbrechen sexualisierter Gewalt dazu”, so Dieser.
Generalvikar Frick ergänzte, dass die Entscheidung für die Kriterien zur Veröffentlichung nicht leichtfertig erfolgt sei. Neben Juristen seien auch Expertinnen und Experten unter anderem der Medizin und der Psychologie beteiligt worden: "Wir haben sach- und fachgerecht mit den unabhängigen Gremien, die seit mehr als einem Jahr die Aufarbeitung begleiten und kontrollieren, gesprochen, Argumente, auch alternative, die sich ausschließen, abgewogen und eine Entscheidung getroffen." Am Ende müsse das Bistum trotz vieler geäußerter Bedenken die Verantwortung tragen, um den Betroffenen und dem Aufarbeitungsziel gerecht zu werden: "Wir wollen das Dunkelfeld erhellen und Mut und Vertrauen schaffen, dass Verbrechen benannt werden können und müssen – auch wenn die meisten Täter und mutmaßlichen Täter verstorben sind."