Traumata können über Generationen weitergegeben werden

Zwischen Opferrolle und Versöhnung: Kriegserlebnisse und die Kirche

Veröffentlicht am 05.01.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann und Meike Kohlhoff – Lesedauer: 6 MINUTEN

Bonn ‐ Die Schatten des Zweiten Weltkriegs sind lang, sie fallen bis in die Gegenwart. Denn Traumata können über Generationen hinweg wirken und beeinflussen so die Gesellschaft – und auch die Kirche. Ein Blick auf schlimme Erlebnisse und den Weg in Richtung Versöhnung.

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Krieg zerstört, nicht nur Menschen, Häuser und Städte, sondern auch das Innere der Köpfe. Leid gesehen zu haben, verändert Menschen – über Generationen hinweg. Denn selbst, wenn die Städte wieder stehen und alle in frisch gestrichenen Wohnzimmern sitzen: Die Ruinen im Kopf sind noch lange da und beeinflussen auch die Kirche.

Den letzten großen Einschnitt dieser Art in Deutschland stellte der Zweite Weltkrieg dar: Mit 50 Millionen Toten, rund 12 Millionen Vertriebenen und unzähligen Verletzten traf der von Deutschland angezettelte Krieg auch das Land seines Ursprungs. Das ist lange her – und ebenso lange dachte man: Nur Erwachsene leiden an Kriegstraumata, Kinder vergessen das Erlebte schnell. Doch dem ist nicht so. Eigentlich sollen Kinder Urvertrauen lernen – das macht der Krieg jedoch kaputt. Kinder erleben sich als machtlos und ausgeliefert. Ist das Urvertrauen einmal gestört, kann es Menschen den Rest ihres Lebens schwer fallen, Vertrauen zu anderen zu haben. Forschende schätzen, dass ein Viertel der heute noch lebenden Kriegskinder solche Probleme hat.

Damit nicht genug: Dieses fehlende Vertrauen kann auch an folgende Generationen weitergegeben werden: Es ist mittlerweile erwiesen, dass Traumata die Gene ändern, sie machen zum Beispiel stressanfälliger. So werden sie auch weitervererbt. Dazu kommt eine psychologische Komponente: Wer selbst kein Urvertrauen hat, kann es den eigenen Kindern auch nur schwer vermitteln. Traumatisierte Menschen können oft nur schlecht menschliche Nähe zeigen, was die eigenen Kinder als Vernachlässigung interpretieren können.

Bild: ©picture alliance/AP Images/Uncredited

Nicht nur deutsche Städte waren nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört, wie hier Neuss.

Doch die gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit den schrecklichen Erlebnissen war nach dem Krieg nur sehr schwach ausgeprägt, wenn überhaupt vorhanden. Über das Erlebte wurde meist geschwiegen – nicht zuletzt, weil der Krieg für Deutschland als Verursacher und Verlierer eine Erinnerung war, die man hinter sich lassen wollte. Das galt für die Gesellschaft wie auch für viele Familien – wo diese Verdrängung enormen Schaden anrichtete. "Der Kern des Problems ist das Schweigen in den Familien. Menschen, die den Krieg als Kinder miterlebt haben, sagen oft: Das war damals eben normal. Das war nicht so tragisch. Viele sind sich nicht bewusst, dass sie Schlimmes erlebt haben", hat die Journalistin Sabine Bode einmal gegenüber der “Süddeutschen Zeitung” festgehalten. Sie hat sich in ihrem Buch "Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation" durch Zeitzeugengespräche mit dem Thema beschäftigt. Wegen dieser Mechanismen hätten viele Kriegskinder ihre Erlebnisse nie aufgearbeitet, sagt sie.

Das hatte Folgen – für die Gesellschaft und die Kirche. Denn die Traumatisierten nahmen Rollen in der Gesellschaft ein, auch im Klerus. Wer traumatisiert war, nahm diese Traumata zum Teil in sein Amt mit und prägte damit etwa als Priester die Kirche. Der Kirchenhistoriker Norbert Köster spricht von einer "Generation der inneren Leere". Kinder von traumatisierten Eltern könnten es diesen nur schwer recht machen, das sorge für Antriebslosigkeit und Ohnmachtsgefühle – bis heute. "Es gibt nur ganz wenige, die konstruktiv mit der Krise der Kirche umgehen und etwas nach vorne bringen, etwas Neues wagen, etwas aufbauen."

Menschen sollten funktionieren

Dazu kommt die gesellschaftliche Rolle der Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland. "Die Kirche machte mit bei der Verdrängung der Trauer über Verluste und dem Gefühl von Zorn und Ohnmacht", schreibt die Theologin Lydia Koelle. Die Menschen sollten funktionieren. Denn neben die Solidarität unter Deutschen mischte sich auch die Auseinandersetzung um Ressourcen, die im Nachkriegsdeutschland knapp bemessen waren. Seelsorge "im Sinne von Trauerbegleitung und heilsamer Zuwendung" habe nicht stattgefunden. Man habe den Traumatisierten eine "schnelle theologische Sinnstiftung angeboten, die in die Richtung geht des bekannten Kirchenliedes 'Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh durch mancherlei Beschwerden der ewgen Heimat zu'". Die erste Sorge der Kirche habe "dem Klerus und der Wiederherstellung ihrer Strukturen" gegolten.

Am plakativsten zeigt sich das bei den im Zuge des Zweiten Weltkriegs Vertriebenen, die das Gesicht Deutschlands – auch kirchlich – entscheidend veränderten. Gab es 1939 auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik noch 94 Landkreise, in denen der Anteil der vorherrschenden Konfession mehr als 95 Prozent betrug, waren es 1950 nur noch acht. Die lagen vor allem in der französischen Besatzungszone, denn dort wurden keine Vertriebenen aufgenommen. Im Rest der Bundesrepublik entstanden landauf, landab neue Pfarreien. Die Neuangekommenen wurden von den Gläubigen der Mehrheitskonfession oft ausgegrenzt. Zudem erhielten sie zwar physische Unterstützung, an Zuwendung mangelte es jedoch oft.

Bild: ©picture-alliance/akg-images

Viele Menschen mussten nach 1945 ihre Heimat verlassen, wie hier in Ostpreußen.

Doch innerhalb der neuen Gemeinden konnte das ganz anders aussehen. "Für traumatisierte Menschen konnte eine Gemeinde auch ein Schutzraum sein", sagt Albert-Peter Rethmann, der Bundesvorsitzende der von vertriebenen Sudetendeutschen 1946 gegründeten Ackermann-Gemeinde. Denn in der Gesellschaft seien ihre Geschichten nicht vorgekommen. Nicht zuletzt deswegen entstanden einige Verbände von Vertriebenen. "Die Vertriebenen haben sich organisiert und hatten dadurch ein gewisses Sprachrohr auch in die bundesdeutsche Gesellschaft hinein." Dabei gab es zwei Formen: "Da gab es die Tendenz, sich in die Opferrolle zu fügen und daraus politisch zu agieren ", beschreibt es Rethmann. Gerade solche Interessenvertreter übten auf die Außenpolitik der Bundesrepublik bis Ende der 1960er Jahre einen großen Einfluss aus, der Historiker Erich Später spricht sogar von einer Art "Vetorecht".

Doch es ging auch anders. Ein Beispiel dafür ist die Ackermann-Gemeinde. Hier stand von Anfang an nicht im Mittelpunkt, sich gegen die Herkunftsländer abzugrenzen – sondern aufeinander zuzugehen. "Gerade den christlichen Glauben haben wir als einen Überwinder verstanden, auch von Nationalitäten." So suchte man den Kontakt zu den Menschen im ehemaligen Siedlungsgebiet der Sudetendeutschen, die heute zu Tschechien und der Slowakei gehören. "Es wurde nach gemeinsamen Brücken gesucht - und das war auch der Glaube. So hat die Ackermann-Gemeinde Menschen in der Tschechoslowakei geholfen, die dort wegen ihres Glaubens verfolgt wurden", so Rethmann. Er fasst die Haltung so zusammen: "Nicht das Nationale ist unser Definitionsmerkmal, sondern der gemeinsame Glaube."

Für Katholiken einfacher

Dieses Brückenbauen war für katholische Gemeinden oft einfacher als für protestantische. "Die Katholiken konnten sich an ihre Kirche als Weltkirche klammern, die supranati­onal und länderübergreifend ist", beschreibt es der Kirchenhistoriker Rudolf Grulich. Die evangelischen Kirchen dagegen seien Landeskirchen, die im Osten "zum Teil ganz ausgelöscht wurden, zum Teil nur noch in kaum lebensfähigen Resten weiter bestehen und nur zum Teil noch genug Kraft haben, um ein eindrucksvolles Leben zu entfalten", zitiert er eine Feststellung des Pfarrers Friedrich Spiegel-Schmidt aus dem Jahr 1957. Mit den evangelischen Kirchen des Ostens sei "das Gefäß des Glaubenslebens ihrer Glieder" verlorengegangen.

Wie Traumata lange Zeit nicht vergehen, bleibt auch die Versöhnung eine überzeitliche Aufgabe. Die Ackermann-Gemeinde gibt es bis heute, sie sorgt noch heute für den Austausch zwischen Menschen in Deutschland und Tschechien wie der Slowakei. Damit versucht sie, alte Wunden zu heilen.

„Wir müssen sensibel sein für die Situation derjenigen, die heute fliehen müssen oder vertrieben werden.“

—  Zitat: Albert-Peter Rethmann

Das ist insbesondere deshalb relevant, weil die nächsten Geflüchteten mit traumatischen Erlebnissen bereits da sind. Wer aus Syrien oder der Ukraine geflohen ist, hat nicht selten schreckliche Erfahrungen gemacht, die Folgen haben, etwa in Form von Gewalt in der Familie. Hier kann ein christlicher Blick helfen, der aus den Erfahrungen nach 1945 gelernt hat, sagt Rethmann. "Wir müssen sensibel sein für die Situation derjenigen, die heute fliehen müssen oder vertrieben werden. Wir haben als Gesellschaft die Aufgabe, sie aufzunehmen, zu integrieren, ihre Geschichten anzuhören und sie nicht nur als potenzielle Arbeitskräfte zu sehen."

Die Traumaaufarbeitung aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ist also nicht nur noch lange nicht vorbei, sie ist auch ein Muster für den Umgang mit den Traumatisierten von heute. Wo nach 1945 gesellschaftlich mit Ignoranz und lokal mit Gemeinschaft geantwortet wurde, ist heute ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, der Biographien ernst nimmt und die ersten Schritte zur Versöhnung geht.

Von Christoph Paul Hartmann und Meike Kohlhoff