Antisemitismus ist nicht das Problem "der Anderen"
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Nein, der Antisemitismus ist nicht das Thema "der Anderen". Und er ist schon gar nicht allein das Thema "der Muslime". Das Entsetzen über die barbarischen Morde der Hamas darf nicht dazu führen, sich selbst in die Position der Außenstehenden hineinzutäuschen, auch nicht in den christlichen Kirchen. Es ist wichtig, dass in den nächsten Tagen beim Gedenken an den 85. Jahrestag der Reichspogromnacht genau daran erinnert wird.
Denn das Wegschauen und die Gleichgültigkeit der gebildeten christlichen Nachbarschaft war ein wesentlicher Teil der NS-Barbarei. Hannah Arendt definierte ihren viel diskutierten Begriff der "Banalität des Bösen" als eine Haltung, die gerade mitten in einer christlich geprägten Kultur anzutreffen war: "Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist". Eine der Lehren aus der Shoa ist, dass es inmitten einer traditionell christlich "zivilisierten" Gesellschaft eine Empathielosigkeit gab, die staatlich organisierte Verbrechen erst möglich machte.
Mitgefühl und Solidarität bilden den Kern der christlichen Botschaft. Und genau das ist es, was augenblicklich gefordert ist, wenn sich jüdische Nachbar*innen nicht mehr sicher fühlen – ohne Relativierung. Es ist kein Widerspruch und keine Konkurrenz, auch dann nicht wegzuschauen und zu schweigen, wenn hierzulande politische Kräfte die Situation für ihre Zwecke ausnutzen und den gegenwärtigen Antisemitismus mit antimuslimischem Rassismus oder mit pauschalen und entmenschlichenden Forderungen nach mehr Abschiebungen beantworten.
Die Shoa steht nicht nur für das singuläre Verbrechen der Deutschen, sondern auch für die unglaubliche Gefahr der Wiederholung, für den "Zivilisationsbruch", dessen Möglichkeit jede noch so aufgeklärte und zivilisierte Gesellschaft in sich trägt, wenn sie empathielos wird. Die Worte des Soziologen Zygmunt Bauman bleiben eine Mahnung, Antisemitismus nicht zum Problem "der Anderen" zu erklären: "Der Holocaust wurde inmitten der modernen rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen. Er muss daher als das Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden."
Der Autor
Burkhard Hose ist Hochschulpfarrer in Würzburg.
Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.