"Man blickte in die Hölle": Missbrauchsbetroffene erinnern an ihr Leid
"Man blickte in das Herz der Finsternis, man blickte in die Hölle", sagt Rudolf Kastelik am Rednerpult des in roten und grünen Farben beleuchteten Saals. Immer wieder stockt ihm die Stimme. Der Mitsiebziger ist in den 1950er und 1960er Jahren in verschiedenen kirchlichen Kinderheimen aufgewachsen. Was er dort erlebt hat, schildert er unter anderem so: "Prügelorgien für Bagatellen, Essensentzug, Erbrochenes musste aufgegessen werden." Als er weiter aufzählt, verlässt eine Zuhörerin mit Tränen in den Augen den Saal.
Kasteliks Vortrag war der Höhepunkt einer Gedenkveranstaltung, mit der Betroffene von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche am Samstagabend im Hildesheimer Kreishaus an ihr Leid erinnert haben. Gut 50 Betroffene, Kirchenvertreter und weitere Menschen sind der Einladung des Betroffenenrats Nord und des Bistums Hildesheim gefolgt. Gekommen ist auch Bischof Heiner Wilmer.
Derart Veranstaltungen sorgten bereits für Kritik
Anlass gab eine Anregung von Papst Franziskus, einen Gedenktag für die Opfer sexuellen Missbrauchs zu begehen. Für Deutschland haben die katholischen Bischöfe festgelegt, dass er rund um den 18. November abgehalten werden soll. An diesem Tag ist auch der vom Europarat eingeführte "Europäische Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch".
Solche Veranstaltungen mit kirchlicher Beteiligung sind umstritten. Als vor zwei Jahren ein Weihbischof bei einem Bußgottesdienst im Kölner Dom das Versagen der Kirche bekennen wollte, erntete er Protest von Betroffenen, die dieses Ritual als übergriffig empfanden. Als das Bistum im vergangenen Jahr eine Gedenkfeier im Hildesheimer Dom organisierte, fühlten sich manche Betroffene wegen des Orts ausgeschlossen. Einige von ihnen können wegen der psychischen Belastung keine Kirche mehr betreten.
In diesem Jahr sollte es daher in Hildesheim anders sein. Die Veranstaltung finde bewusst im Kreishaus statt, erklärt der Sprecher des Betroffenenrats Nord, Norbert Thewes, auf Nachfrage. Auch habe man darauf geachtet, dass die sie nicht den Charakter eines Gottesdienstes habe. Der Abend unter dem Motto "Spurensuche" beginnt im Foyer des Kreishauses, wo sich Thewes in einer Ansprache an Bischof Wilmer wendet. Der gilt als Befürworter von kirchlichen Reformen und hatte 2018 bei seiner Amtseinführung erklärt, sich dem Thema sexualisierter Gewalt mit aller Kraft widmen zu wollen. Inzwischen wirft ihm der Betroffenenrat jedoch vor, bei der Aufarbeitung den Fuß vom Gas genommen zu haben.
"Wir hoffen, dass bei Ihnen und den Verantwortlichen der Wille zur unbedingten Aufarbeitung nicht nachlässt. Wir sind uns da als Betroffene im Bistum Hildesheim nicht ganz sicher", sagt Thewes. Zwar habe das Bistum schon Vieles auf den Weg gebracht. Allerdings seien zwei Jahre nach der Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Studie zu Missbrauch weit mehr als die Hälfte der Empfehlungen der Gutachter noch nicht umgesetzt.
Danach geht es weiter im Sitzungssaal, wo auch Wilmer zunächst im Publikum Platz nimmt. Nach einem Klavierstück und Grußworten schildert Kastelik seine schon erwähnten Erfahrungen. "Ich habe mich bis heute von den an mir begangenen Verbrechen nicht erholt", sagt er. Wenn er mit seiner Frau essen gehe, dann könne er manchmal den Anblick einer glücklichen Familie nicht ertragen. Das aus seiner Sicht größte Problem der Betroffenen: "Es wird immer noch zu viel über uns geredet, statt mit uns."
"Wir nehmen nicht den Fuß vom Gas"
Später diskutieren in einer Podiumsrunde weitere Betroffene und Bistumsvertreter über den Stand der Aufarbeitung. Erst am Ende darf Bischof Wilmer für einige Minuten auf dem Podium Platz nehmen. Es werde wahrscheinlich nie einen Abschluss des Themas sexualisierte Gewalt geben. "Dennoch hoffe ich, dass wir weiter unterwegs sind", sagt er an die Betroffenen gerichtet. "Die Geschichte der Aufarbeitung in unserem Bistum ist viel komplexer als ich das anfangs gedacht hatte." Der Bischof verspricht: "Wir nehmen nicht den Fuß vom Gas, sondern bleiben dran."
Das letzte Wort des gut zweistündigen Abends hat Rudolf Kastelik. Er formuliert einen Wusch: "Die Entschädigungssummen für die Betroffenen müssen der katholischen Kirche richtig weh tun."