Es braucht eine Theologie, die von Kirche her und auf Kirche hin denkt
Die Zeit der Illusionen ist vorbei. Wer noch immer geglaubt hat, die Säkularisierung sei ein Mythos und Religion sei in unseren Breitengraden nicht im Schwinden, sondern befinde sich nur in einem großen Transformationsprozess, landet mit der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung auf dem harten Boden der Tatsachen. Der panreligiöse Traum, der auch dort noch Spuren des "Religioiden" zu finden meint, wo Menschen beteuern, mit Religion nichts am Hut zu haben, ist ausgeträumt. Auch "Spiritualität" als vermeintlich menschfreundlichere Form von Religiosität – heute besonders in der Seelsorge propagiert – kommt unter den Befragten auf keine hohen Zustimmungswerte, von Esoterik ganz zu schweigen.
Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung von Religion bilden keinen Gegensatz, sie hängen zusammen. Religiöse Transformations- und Individualisierungsprozesse finden innerhalb des epochalen Säkularisierungsprozesses statt, der vielfältige Ursachen hat. Man muss diesen Prozess nicht als Subtraktionsgeschichte erzählen, denn es gibt, wo Religion ihre Selbstverständlichkeit einbüßt, die Chance, den Glauben als Option neu zu ergreifen. Die Zeit religiöser Traditionsabbrüche kann so auch als Zeit produktiver Umbrüche und Aufbrüche betrachtet werden. Aber die massiven Abbrüche, die durch die neue Kirchenmitgliedschaftsstudie dokumentiert werden, lassen sich nicht länger ignorieren.
"Unsichtbare Religion" ist Mythos
Wer wollte, konnte es schon länger wissen, denn die jetzt vorgelegten Ergebnisse fallen nicht vom Himmel. Schon länger zeichnet sich ab, dass nicht die Säkularisierung, sondern die These von der "unsichtbaren Religion" ein Mythos ist, der auf dem Irrtum beruht, jede Antwort auf Sinnfragen für religiös zu halten. Die verbreitete Auffassung, man könne auch außerhalb der Kirche sein Christsein leben, erweist sich weithin als Illusion, denn ohne kirchliche Rückbindung verdunsten die Glaubensüberzeugungen und ihre Praktiken. Der "Geist des Christentums", den liberale Theologen in der weithin säkularisierten Gegenwartsgesellschaft beschwören, während sie im selben Atemzug scharfe Kritik an einem rückständigen, dogmatisch verknöcherten Kirchenchristentum üben, verflüchtigt sich zusehends.
Seit 50 Jahren fühlt die Evangelische Kirchen in Deutschland ihren Mitgliedern den Puls. Erstmals hat sich nun auch die römisch-katholische Kirche an der Befragung beteiligt. Die sechste Kirchenmitgliedschaftsstudie ist die größte ihrer Art. Das macht ihre Ergebnisse so brisant.
Alles in allem begreift sich nur noch eine Minderheit der Kirchenmitglieder als religiös. Die Austrittsbereitschaft ist ungebrochen hoch, das Vertrauen in die Institution Kirche gering. Wer der Kirche noch verbunden bleibt, schätzt sie in erster Linie als Sozialagentur, ist aber an religiösen Fragen und Angeboten kaum interessiert. Nur eine Minderheit fühlt sich dem Glauben der Kirche eng verbunden. Befragt wurden übrigens auch Muslime, bei denen sich, was die Zahl der religiös Distanzierten betrifft, ein ähnliches Bild wie unter evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern ergibt.
Epochaler Säkularisierungsprozess unaufhaltbar
Kaum wurde die Studie auf der EKD-Synode in Ulm der Öffentlichkeit vorgestellt, entbrannte sogleich der Kampf um die Deutungshoheit im Konflikt der Interpretationen. Besonders pikant ist der auf offener Bühne ausgetragene Streit zwischen den an der Studie beteiligten Religionssoziologen auf der einen und den beteiligten Theologen auf der anderen Seite. Während die einen sich bestätigt sehen, weiterhin unter dem Vorzeichen der Anschlussfähigkeit strategische Allianzen mit der Zivilgesellschaft einzugehen, betonen die anderen, dass eine Besinnung auf die Kernaufgabe von Kirche notwendig und die akademische Theologie gut beraten ist, verstärkt über die Sinngehalte des Glaubens nachzudenken.
Statt vorschnell Schlüsse zu ziehen und Handlungsempfehlungen abzugeben, die meist dem entsprechen, was man immer schon für richtig gehalten hat, ist es angebracht, zunächst einmal innezuhalten. Der epochale Säkularisierungsprozess lässt sich weder durch Aktionismus noch durch Schönfärberei aufhalten. Entschleunigung und vertieftes theologisches Nachdenken sind angesagt. Das ist, wie die Studie zeigt, durchaus als eine ökumenische Herausforderung zu begreifen.
„Der epochale Säkularisierungsprozess lässt sich weder durch Aktionismus noch durch Schönfärberei aufhalten. Entschleunigung und vertieftes theologisches Nachdenken sind angesagt.“
Die Befragten schätzen zwar das soziale Engagement der Kirchen. Viele erkennen aber keinen Zusammenhang mehr mit den theologischen Grundlagen diakonischer Praxis, zumal auch das dezidiert christliche Profil von Diakonie und Caritas bis in das Arbeitsrecht hinein seine Konturen verliert. In Leitbildern liest man dann noch etwas von einem christlichen Menschenbild, Menschenwürde und Menschenrechten, aber dezidiert biblisch-theologische Argumente treten in den Hintergrund und sind bestenfalls nur noch Insidern geläufig.
Gott oft nur noch unbestimmte Chiffre
Auch in Kirche und Theologie besteht die Gefahr, dass sich der christliche Glaube zu einem Christentum ohne Christus verflüchtigt. Selbst von Gott wissen die Kirchen offenbar nur noch wenig zu sagen, wenn denn nicht vage von Transzendenz oder einer höheren Macht, sondern von dem Gott der biblisch bezeugten Offenbarung die Rede sein soll. Asyl, Migration und Klimaschutz stehen ganz oben auf der Agenda der Kirchen, womit sie auch in Teilen der Bevölkerung punkten können. Aber Gott ist zumeist nur noch eine unbestimmte Chiffre, die als Moralverstärker dient, auf die man notfalls aber auch verzichten kann, wenn es darum geht, mit anderen Teilen der Zivilgesellschaft Allianzen zu schmieden.
Gerade jetzt, wo der Bedarf an theologischer Profilierung überdeutlich wird, zeigt sich aber auch, in welch prekärer Lage sich die akademische Theologie befindet. An den evangelischen wie an den katholischen Fakultäten wächst die Tendenz, die Theologie im Sinne von interdisziplinärer Religionsforschung "weiterzuentwickeln", die sich zunehmend von den Kirchen distanziert und sich lieber mit "gelebter" oder "unsichtbarer" Religion befasst. Basierend auf fragwürdigen religionstheoretischen Prämissen, die dem Befund der neuen Kirchenmitgliedschaftsstudie nicht standhalten, gedeiht eine Theologie, die sich als mediokre Form von Religionssoziologie entpuppt. Auch dürften die Zeiten, akademische Theologie primär als Papst- und Kirchenkritik zu betreiben, vorbei sein, wenn man registriert, dass die wenigen, die sich heute für eine kirchlich gebundene Theologie interessieren, zum Studium zunehmend an kirchliche oder evangelikale Ausbildungsstätten gehen.
Das kann jedoch nicht die Lösung sein. Was wir brauchen, ist eine akademische, von Kirche her und auf Kirche hin denkende Theologie, die sich gleichwohl nicht auf binnenkirchliche Milieus verengt, sondern den wissenschaftlichen Austausch mit anderen universitären Disziplinen sucht. Statt allerdings Theorieangebote aus Soziologie und Philosophie unkritisch zu rezipieren und sich durch modische Vokabulare einen interessanteren Anstrich zu geben, gilt es die Grundlagen des Glaubens hermeneutisch neu anzueignen und in die Verständigung einzubringen. Dabei ist dem Thema Kirche verstärkte Aufmerksamkeit in allen theologischen Disziplinen zu widmen, das ist nicht mit einer Klerikalisierung der akademischen Theologie zu verwechseln. Die Forderung entspricht vielmehr dem religionssoziologischen Befund, wonach Religiosität und Kirchenzugehörigkeit viel enger zusammengehören als bislang gedacht.
Es gilt, die Kirchenkrise als Glaubenskrise und zugleich als ökumenische Herausforderung ernstzunehmen. Christen werden immer mehr zu einer Minderheit in der säkularisierten und religionspluralen Gesellschaft der Gegenwart. Daran werden auch Kirchenreformen, wie sie auf katholischer Seite der Synodale Weg durchsetzen möchte, nichts ändern. Schließlich ist auch die Lage der evangelischen Kirche, in der es keinen Zölibat, dafür aber Frauenordination und eine lange eingespielte Form von Synodalität gibt, die auf voller Gleichberechtigung aller Getauften basiert, prekär. Neben der Arbeit am Gottesbegriff und der Verständigung auf die Grundlagen des Glaubens braucht es ein neues Verständnis dafür, dass die Diasporaexistenz im Grunde von Beginn an ein Wesenszug des Christentums ist.
Diasporaexistenz darf aber nicht mit klerikalem Rückzug aus der Gesellschaft und einer Wagenburgmentalität verwechselt werden. Schon das Zweite Vatikanische Konzil hat von der Kirche als "kleiner Herde" gesprochen, die "für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils" bringe (Lumen Gentium 9). Das sind große Worte, aber sie erinnern daran, dass Kirche und Theologie stellvertretend für das Ganze einen Dienst leisten, wenn sie die humanisierende Kraft des Evangeliums einbringen. Eine zeitgemäße Theologie der Diaspora ist in diesem Sinne als Ermutigung zu verstehen, sich öffentlich einzumischen und das Evangelium von der Liebe Gottes, die in der Person und Geschichte Jesu prägnante Gestalt gefunden hat, in Wort und Tat zu bezeugen.
Die Autoren
Ulrich Körtner ist Ordinarius für Systematische Theologie (Reformierte Theologie) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Jan-Heiner Tück ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologische Fakultät Universität Wien.