Die Fäden reißen – besonders die Verbindung zur Kirche
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Gott ist oft fremd und fern, unsichtbar und unbegreifbar, unerfahrbar und unnennbar, unverstehbar in seinem Handeln oder Nichthandeln. Eigentlich ist er unglaublich. Vielen Menschen reißt der Faden zu Gott – die gerade so heftig diskutierte Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft (KMU) zeigt es überdeutlich. Freilich ist Gott auch in der Lebenswelt verankert, er zeigt sich in seinem Wort und in Ritualen, in spirituellen Erlebnissen und in der Kunst, in Gemeinschaft, in Institutionen. Doch dieser Faden zu Gott reißt derzeit noch stärker – siehe dieselbe KMU.
Manche glauben, aber nicht in der Kirche. Andere sind in der Kirche, erfahren aber Gott nicht. Immer mehr sind weder gläubig noch in der Kirche. Immer weniger sind gläubig und kirchlich, leben also mit beiden Fäden zu Gott. Auch andere Fäden reißen: Das Vertrauen in Staaten und Regierungen sinkt. Dann wählt man eben Protestparteien und Populisten – sind sie glaubwürdiger? Das Vertrauen in Parteien und Gewerkschaften, in Verbände und Konzerne, in alle Großinstitutionen sinkt. Mehr Menschen brechen mit ihrer Familie, haben keine Freunde – Einsamkeit und psychische Erkrankungen nehmen zu. Manche Menschen haben kaum mehr wirkliche Fäden.
Man engagiert sich eher projektbezogen: Für eine bestimmte Zeit nimmt man den Faden eines ausgewählten Projektes auf und geht Beziehungen ein. Dies aber nur für einen Sektor der eigenen Lebenswelt, andere Sektoren bleiben separiert. Wenn das Projekt beendet ist, bleibt man allein. Wer alt wird und keine neuen Projekte und Beziehungen mehr angehen kann, bleibt ganz allein.
Um zu leben, braucht es soziale Netze, also Fäden verschiedenster Art. Dafür wäre mehr Toleranz zu Ambiguitäten gefragt: Wer vertraut und sich bindet, baut in aller Regel auf mediokre, schwache, doppeldeutige, ja kranke Menschen – und ebensolche Institutionen. Wer spirituelle Erfahrung sucht, wird diese als brüchig, bisweilen trostlos, nicht einzufordern, nur ahnungshaft aufblitzend erleben – wenig eindeutig, bezweifelbar. Und doch: Was wir brauchen, ist mehr Vertrauen und mehr Bindung. Nur so entstehen Fäden. Nur so wachsen Trost und Frieden.
Der Autor
Pater Stefan Kiechle SJ ist seit 2018 Chefredakteur der Zeitschrift "Stimmen der Zeit". Zuvor leitete er sieben Jahre die Deutsche Provinz des Jesuitenordens.
Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.