Protestant veröffentlichte Buch "Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche"

Pfarrer: Kirche im Westen kann viel von ostdeutschen Christen lernen

Veröffentlicht am 01.01.2024 um 12:10 Uhr – Von Roland Müller – Lesedauer: 

Freiberg ‐ In Deutschland gibt es immer weniger Christen. Sind wir auf dem Weg in eine atheistische Gesellschaft? Dort sind wir längst angekommen, sagt der evangelische Pfarrer Justus Geilhufe. Im katholisch.de-Interview erklärt der Theologe, wie sich die Kirche dieser Herausforderung stellen sollte.

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Die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat jüngst gezeigt, wie wenig Vertrauen die Deutschen in die beiden großen Kirchen des Landes setzen. Der evangelische Pfarrer Justus Geilhufe geht noch einen Schritt weiter: Er bezeichnet Deutschland als "atheistische Gesellschaft" und hat darüber ein Buch geschrieben. Im Interview mit katholisch.de ruft der sächsische Geistliche die Kirche in Westdeutschland dazu auf, von den ostdeutschen Christen zu lernen – und stellt sich der Frage, was die Katholiken von den Protestanten lernen können.

Frage: Herr Geilhufe, in Ihrem Buch ziehen Sie Parallelen zwischen der Gesellschaft in der ehemaligen DDR und der Nachwendezeit in Ostdeutschland mit der aktuellen Situation in der wiedervereinigten Bundesrepublik. Sind sich diese Gesellschaften wirklich so ähnlich, wie Sie behaupten?

Geilhufe: Die Menschen, die uns damals begegnet sind und die uns heute begegnen, sind sich ziemlich ähnlich. Natürlich sind die soziologischen Rahmenbedingungen andere – das steht außer Frage. Aber diesen "atheistischen Menschen", den ich aus meiner Kindheit kenne, treffe ich derzeit sehr oft wieder. Und das in einer wiedervereinigten, wohlhabenden und multikulturellen Gesellschaft, aber mit einer ähnlichen Dramatik wie damals.

Frage: Was kennzeichnet diesen Typus Mensch?

Geilhufe: Der Mensch der atheistischen Gesellschaft wird von der kirchlichen Wirklichkeit nicht mehr berührt. Ich lege hier den Fokus auf das Adjektiv kirchlich. Natürlich kennt dieser Mensch auch Glaube und Werte. Die Institution Kirche sehe ich nicht per se als etwas Schlechtes, wie es viele andere tun. Sondern ich nehme diese Gesellschaft, in der ich lebe, so wahr, dass sie einige Probleme hat, eben weil sie von der Kirche unberührt ist. Diesem "atheistischen Menschen" fehlt in seinem Leben der Horizont, dass über dem Schönen, das er produziert, dass über dem, was er für sich als Wahrheit entdeckt hat, dass über dem Maß, in dem er zum Guten fähig ist, etwas Großes existiert, das über die Beschränkungen der Menschen hinausgeht. Das macht eine sehr kleine Welt, über die ich mich überhaupt nicht erheben will. Ich stelle allerdings fest, dass aufgrund dieser Leerstelle nicht nur das Leben als solches, sondern auch das Zusammenleben ein hochproblematisches ist.

Frage: Das Schöne, Wahre, Gute – Sie haben diese Trias eben angesprochen und auch in Ihrem Buch erwähnen Sie sie oft. Warum?

Geilhufe: Seien wir doch ehrlich: Die Bundesrepublik insgesamt und vielleicht besonders der Osten ist ein Gebiet aus dem das, was das Leben lebenswert und schön macht, zunehmend schwindet. Gleiches gilt für die ehemalige DDR. In meinem Buch beschreibe ich unser derzeitiges gesellschaftliches Leiden, dass wir über nichts mehr wirklich reden können. Es gibt einfach keine substanziellen Themen mehr, über die man sich austauschen kann.

Justus Geilhufe
Bild: ©Justus Geilhufe/privat

Justus Geilhufe ist evangelischer Pfarrer der Kirchengemeinde am Dom zu Freiberg in Sachsen. Der 33-Jährige wurde in Dresden als Sohn eines Pfarrers geboren und studierte Theologie und Philosophie in Jena, Princeton (USA), München und Leipzig. 2022 wurde er in Göttingen in Systematischer Theologie promoviert. Geilhufe ist zudem Seelsorger für die ökumenische Studierendengemeinde an der TU Bergakademie Freiberg. Er ist gemeinsam mit Tagesschau-Sprecher Ralph Baudach seit 2023 Host des Podcasts „West-östlicher Alman“.

Frage: Machen Sie es sich mit dieser Analyse nicht etwas zu einfach? Es gibt doch sehr wohl Themen, über die in der Gesellschaft ernsthaft diskutiert wird.

Geilhufe: Ich nehme eher wahr, dass jeder seine eigene Wahrheit hat und diese für vollumfänglich hält. Niemand rechnet damit, dass es eine größere Wahrheit gibt als die, die man meint, nun endlich in seinem Telegram-Kanal gefunden zu haben. Die Folge ist, dass es beim Gegenüber nichts an Wahrheit gibt, das man noch erwarten könnte. Der Andere ist lediglich jemand, der stört, falsch liegt und – in letzter Konsequenz – eigentlich wegmuss. Ich erlebe diese Haltung hier in Ostdeutschland zunehmend: Der Andere ist nicht jemand, mit dem ich diskutiere oder der mir auf dem Weg zur Erkenntnis helfen könnte, gerade weil er eine andere Meinung hat. Es herrscht ein extrem gewaltvolles und unbarmherziges Miteinander vor, in dem die beste aller Möglichkeiten ist, dass die Menschen gar nicht miteinander reden.

Frage: Das Heil für die Zukunft der Gesellschaft liegt Ihrer Meinung nach in der Kirche?

Geilhufe: Ja. Das ist ein Satz, der jahrzehntelang einfach nicht mehr ausgesprochen wurde. Das meine ich auch nicht triumphalistisch. Ich komme aus einer armen und absolut an den Rand gedrängten Kirche, die im Grunde nichts zu sagen hat. Das ist fruchtbar. Meine Beobachtung ist aber, dass der desolate Zustand der Gesellschaft nicht aus eigener Kraft von ihr selbst überwunden werden kann. Die Lage, die wir erreicht haben, löst man nicht mehr mit Sozialarbeitern oder schulischer Bildung. Es braucht Verkündigung von dem, an das wir glauben, es braucht eine Praxis von Nächstenliebe und es braucht eine Feier des Geheimnisses, das uns alle verbindet. Das ist die spezifische Ost-Erfahrung, es hat etwas mit der Institution Kirche zu tun – so fehlerhaft sie ist. Unsere Gesellschaft braucht auch zum Überleben das, was in der sichtbaren Kirche steckt. Meine Hoffnung ist, dass es weder für diese Gesellschaft noch für diese Kirche zu spät ist.

Frage: Sie haben erwähnt, dass die Kirche Ihrer Meinung nichts mehr zu sagen hat. In Ihrem Buch gehen Sie auch auf die Kirchentage ein, bei denen etwa Beschlüsse zum Umweltschutz gefasst werden und kritisieren das.

Geilhufe: Ich habe kein Problem damit, dass sich die Kirche für Themen wie Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung stark macht. Ich bin in einer Kirche zum Glauben gekommen und wollte als Pfarrer zurück in eine Kirche, in der diese Punkte Kernthemen waren und sind. Sie wurden früher in einer ganz persönlichen und existenziellen Hingabe an die Kirche und diese Welt gelebt. Früher haben diese Standpunkte etwas gekostet und waren mit einem persönlichen Einsatz verbunden. Sie wurden aus der Situation selbst heraus entwickelt. Die Praxis, die mit diesen Punkten in Verbindung stand, war eng verbunden mit dem gottesdienstlichen und dem Gemeindeleben. Ich habe also keine inhaltliche Kritik an diesen Punkten, denn es sind Fragen, die unter den Nägeln brennen und für die auch die Kirche zuständig ist. Was ich aber kritisiere ist, dass über die ethischen Appelle der Kirche niemand wirklich spricht. Es gibt da draußen keine Gesellschaft, die auf diese Verlautbarungen wartet oder sie überhaupt hört. Die Kirche ist in einer anderen Situation als vor 30 oder 40 Jahren. Sie findet ihren Identitätskern nicht mehr, wenn sie ihn als große gesellschaftliche Gruppe, die Diskurse prägt, bestimmen will. Denn das ist sie – trotz ihrer Millionen an Mitgliedern – nicht mehr. Die Menschen da draußen sind atheistische Menschen, die von der Wirklichkeit der Kirche vollständig unberührt sind. Alles, was an Appellen geäußert wird, verpufft.

Frage: Bläst Ihnen auch Gegenwind aus Ihrer Kirche entgegen angesichts dieser Kritik?

Geilhufe: Ich merke da jedenfalls nichts. Was ich von mir gebe, unterscheidet sich aber substanziell von anderen Veröffentlichungen. Das große Anliegen, das ich habe, ist Folgendes: Meine große Freude zu teilen, die ich an meiner Kirche, meinen Gemeinden und meinen Gläubigen habe. Ich will davon erzählen, was für eine spirituelle und am Ende auch politische Kraft in dieser einfachen, armen, von Ehrenamtlern getragenen, frommen, humorvollen und marginalisierten Kirche steckt. Ich möchte eigentlich nichts anderes als großen Mut machen, diese Wirklichkeit, in der wir leben, anzunehmen und zu realisieren, dass sich die Zeiten geändert haben – bei aller Hoffnung, dass sie wieder besser werden mögen. Wer meine Texte liest und meinen Podcast hört, weiß, dass ich nie Bashing betreibe, sondern diese Beobachtung teilen will.

„Der Katholizismus ist, was die Kirchengeschichte anbelangt, weitaus krisenresilienter als wir Protestanten das sind. Vieles was uns als evangelische Kirche umhaut, lässt den Katholizismus, wie wir ihn bisher kannten, oftmals eher kalt. Das hat viel mit der Ämterstruktur, der Bezogenheit auf Rom oder dem Zölibat zu tun.“

—  Zitat: Justus Geilhufe

Frage: In Ihrem Buch, aber auch auf Ihrem Instagram-Kanal kommt der Begriff des "Bürgerlichen Protestantismus" vor, den sie mitgeprägt haben. Ist dieser eher konservative Ansatz in Ihrer Kirche eine Minderheitenmeinung?

Geilhufe: Das glaube ich nicht. Vielleicht trifft es auf die Kirchenleitung zu, dass es eine Minderheitenmeinung ist, aber die Menschen in unseren Gemeinden sind sehr bewegt von gesellschaftlichen Debatten und Problemen. Das, was ich als bürgerliches Erbe meines ostdeutschen Christseins beschreibe, ist etwas, das viele Menschen durch ihre christliche Existenz geprägt hat. Also das mit einem hohen Anspruch betriebene Suchen nach etwas Wahrem, Schönem und Gutem – und auf der anderen Seite die große evangelische Freiheit, dass der Andere so sein darf, wie er ist. Er kann kritisch angefragt werden, wird aber immer als Mitchrist akzeptiert. Dazu gehört auch das Recht auf Privatheit, Zurückgezogenheit und die Selbstbestimmung des Glaubenslebens bei gleichzeitigem Wunsch nach Gemeinschaft in der Kirche. Denn sie darf Heimat sein und ist nicht nur eine Herausforderung, an der man sich abarbeiten muss. Ich glaube auch, dass viele Menschen sehr gerne die klassischen Formen unserer Kirche feiern, aber viele Pfarrer und Mitglieder der Kirchenleitungen mit diesen Riten fremdeln. Das ist meine ostdeutsche Erfahrung, die ich auch gar nicht überhöhen will. Ich möchte der gesamtdeutschen Kirche sagen, dass wir bereits das, was ihr bevorsteht, hinter uns gebracht haben – und das mit einem hohen Anspruch und gar nicht so schlecht. Mein Appell daher: Fragt uns doch einfach, wie wir es die letzten 70 Jahre gemacht haben! Vielleicht lassen sich so einige Fehler vermeiden, die wir im Osten gemacht haben. Der Westen kann also auch etwas vom Osten lernen.

Frage: Was Sie gesagt haben, bezieht sich in erster Linie auf die evangelische Kirche, aber in Ihrem Buch kommt auch der Katholizismus an mehreren Stellen prominent vor. Treffen Ihre Thesen also auch auf die katholische Kirche zu?

Geilhufe: Ich tue mich sehr schwer damit, den Brüdern und Schwestern anderer Konfessionen Ratschläge zu erteilen. Es gibt aber Punkte, die konfessionsübergreifend sind: Man muss – das trifft sicher auch auf die katholische Kirche zu – keine Angst vor Armut und Marginalisierung haben. Die westdeutschen Bistümer tuen sehr gut daran, von den ostdeutschen Diözesen zu lernen und sie nach ihren Erfahrungen zu fragen. Sorbische Katholiken finde ich etwa wunderbar. Es ist schön zu sehen, wie sie unter den schwierigsten Bedingungen, ohne viel Geld, aber dafür mit ganz viel Herz den Glauben leben. Die sorbischen Gemeinden sind christliche Leuchttürme mit bis zu 80 Prozent Bevölkerungsanteil in einer Region, die ansonsten ein religionsloses Meer ist. An den Sorben sieht man auch: Traditionen sollten bewahrt werden, sie tragen durch schwierige Zeiten. Außerdem sollten auch die Katholiken aufeinander hören und beieinanderbleiben. Der Andere ist niemand der stört, sondern jemand, der auf dem gleichen Weg zur Wahrheit unterwegs ist.

Frage: In der katholischen Kirche in Deutschland, aber auch weltweit, gibt es große Veränderungen, etwa die Wende hin zu mehr Synodalität, den sich Papst Franziskus wünscht. Sie in der evangelischen Kirche haben in diesem Punkt große Erfahrungen. Was können davon Katholiken lernen?

Geilhufe: Ja, wir haben viel Synodalität in der evangelischen Kirche. Aber lassen wir ruhig die Kirchengeschichte entscheiden, welcher Entwurf erfolgreicher ist. Der Katholizismus ist, was die Kirchengeschichte anbelangt, weitaus krisenresilienter als wir Protestanten das sind. Vieles was uns als evangelische Kirche umhaut, lässt den Katholizismus, wie wir ihn bisher kannten, oftmals eher kalt. Das hat viel mit der Ämterstruktur, der Bezogenheit auf Rom oder dem Zölibat zu tun. Ich will diesen ganzen Punkten als evangelischer Pfarrer überhaupt nicht das Wort reden, aber man muss zugeben, dass unser evangelischer Ansatz weitaus mehr Risiko besitzt. Ich erlebe aber auch, wie die atheistische Gesellschaft für beide Konfessionen zu einer massiven Herausforderung geworden ist. Vieles von dem, was in der evangelischen Kirche – aber auch bei den Katholiken – stattfindet, ist Ausdruck einer massiven Identitätskrise. Niemand scheint mehr zu wissen, was deutscher Protestantismus, was deutscher Katholizismus ist. Die geistige Krise, in der wir stecken, hat ein Ausmaß, das uns immer noch nicht bewusst ist.

Von Roland Müller

Über das Buch

Das Buch "Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche" von Justus Geilhufe ist im Claudius Verlag erschienen. Es umfasst 136 Seiten und kostest 20 Euro.