Theologe: Amtsstruktur und Kompetenzgesellschaft stehen in Konflikt
Warum eigentlich Priester, wenn es doch ein Priestertum aller Gläubigen gibt? Diese Frage stellte sich beim Synodalen Weg, doch sie war und ist auch außerhalb des Reformprozesses relevant. Denn das Priesteramt mit seinen vielen Privilegien wird von mehr und mehr Menschen hinterfragt. Im Interview spricht der Tilburger Professor für Praktische Theologie und Priester des Bistums Münster, Jan Loffeld, über die Ämterfrage und eine Kirche der Sakramentalität.
Frage: Herr Loffeld, warum gibt es Priester im Christentum?
Loffeld: Das ist schwierig zu sagen, es kommt auch auf die Epoche an. In der Zeit der Urkirche gab es Amtsformen, die sich vom sakralisierten heidnischen Priestertum abgrenzten. Man hat den Priester bewusst "Presbyter" genannt – also den Ältesten – und den Bischof "Episcopus", den Aufseher. Man hat also eher von Funktionen her gedacht. Außerdem haben wir in der Urkirche eine große Pluralität von Leitungsformen: Es gibt Bischöfe, die mitunter gemeinsamen mit Diakonen die Gemeinden leiten. Mancherorts tut das aber auch ein Ältestenkollegium, die Presbyter. Es gibt also zunächst eine große Ämtervielfalt, die sich nach der Konstantinischen Wende verändert. Je stärker sich das Christentum in die Gesellschaft inkulturiert, desto anfälliger wird es dafür, Merkmale dieser Gesellschaft zu adaptieren: etwa eine klerikalisierte Machokultur oder spezielle Opfervorstellungen. Dadurch veränderten sich schließlich auch Kleidungsstile, Machtansprüche oder Riten.
Frage: Was ist dann überhaupt die Grundlage für dieses Priestertum im Christentum?
Loffeld: Die fundamentaltheologische Frage, die dahintersteht, lautet: Was ist wann warum normativ? Die Offenbarung der Frohen Botschaft ist abgeschlossen – aber sie wurde immer neu interpretiert und von Gläubigen gelebt. Da haben sich immer wieder neue Formen entwickelt, die zum Teil auch in verschiedenen Regionen nebeneinander existiert haben. Heutzutage haben wir in der systematischen Theologie beispielsweise spannende Ansätze, die versuchen, den pluriformen Ursprung für die Gegenwart performativ zu öffnen. Was mich als praktischen Theologen natürlich besonders interessiert ist die Frage, welche Form von Amt es heute braucht, die zugleich plausibel und für Menschen des 21. Jahrhunderts relevant sein kann. Die Geschichte und ihre Normativitäten sind dabei natürlich eine wichtige Quelle, um diese Frage zu beantworten. Dazu kommt die Tatsache, dass wir heute völlig andere Verhältnisse als während der vergangenen Epochen haben. Heute kommt das Christentum in Europa mehr und mehr in eine Minderheitensituation – wie in der Urkirche. Damals war der Götterhimmel allerdings noch voll. Der Stellenwert von Religion an sich ist heute ein völlig anderer als damals. Da müssen wir fragen, welche Funktion oder welche positive Option das Amt für unsere Zeit sein kann.
Frage: Welche ist das denn? Vielleicht auch im Gegensatz zu evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrern, Imamen oder Rabbis, die ja alle Vorbeter sind und nicht geweiht.
Loffeld: Es geht am Ende um ein verschiedenes Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften. Das ist auch mit Blick auf die Ökumene interessant: Die katholische Kirche hat mit Rückgriff auf die Vätertheologie im Zweiten Vatikanischen Konzil die Kirche als Sakrament für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit definiert (LG 1) und damit ihr bisheriges Bild einer perfekten, antimodernen Kirche aufgegeben. Es gibt ein gemeinsames Priestertum aller Gläubigen und ein Priestertum des Dienstes. Die Zuordnung ist allerdings bis heute nicht unhinterfragt. In einem der Konzilsdokumente, der Dogmatischen Konstitution "Lumen gentium", heißt es: "Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach." (LG 10) Zu dieser Stelle gibt es eine schöne Geschichte, die vom Konzilsberater Yves Congar stammen soll. Er prophezeite nach Verabschiedung dieses Textes, dass über diese Aussage "noch viel Tinte fließen" werde. Genauso ist es gekommen: Immer wieder kommt die Frage nach einer sinnvollen Zuordnung beider Formen des Priestertums auf. Ich würde sagen: Wir können das nur vom sakramentalen Wesen der Kirche her definieren. Aber wir müssen es so definieren, dass es sowohl einsichtig ist und zugleich auch einen Mehrwert für heutige Zeitgenossen bedeutet, das heißt, dass sie dadurch erleben können, was dieses sakramentale Verständnis der Kirche für sie bedeutet.
Frage: Was bedeutet es?
Loffeld: Sakramentalität bedeutet unter anderem eine bedingungslose Bejahung meines Lebens, die nicht wieder durch ein "Nein" oder "Ja, aber" relativiert wird. Dass mein Leben mit allen Brüchen, mit all seinen Fragmentierungen, mit allem gehalten ist, dass es etwas gibt, dass es jemanden gibt, der das heilt, was ich selber nicht zu heilen vermag und auch kein Mensch zu heilen vermag. Zum Beispiel bei der Frage nach Schuld: Dass es jemanden gibt, der mein Leben als Ganzes und als Heiles möchte, dass ich nicht verzweckt werde und Vergebung und Neuanfang ein Geschenk sind, das immer möglich ist, ich jedoch selbst nicht verdienen kann.
Frage: Aber wird durch eine solche Definition nicht dem Klerikalismus Tür und Tor geöffnet? Wer sein ganzes Leben dem Herrn widmet, kommt schnell auf die Idee, dass er besser ist als die anderen ...
Loffeld: Das ist genau der Punkt, an dem wir zurzeit sind. Ich finde es sehr wichtig und richtig, die mit dem Priesteramt verbundenen Machtstrukturen und Selbstansprüche zu hinterfragen. Denn damit verbindet sich faktisch eine vielfältige persönliche Sonderstellung, die monarchisch ist, also auch klerikalistisch aufgeladen werden kann. Dann kommt es nicht selten zu einer Verwechslung von Person und Amt, wenn Amtsträger ihre Sonderstellung als etwas sehen, das ihnen persönlich zur Verfügung stünde und wodurch sie andere für ihre Zwecke instrumentalisieren dürften. Eben dieser Zusammenhang ist hoch missbrauchsanfällig. Daher hoffe ich, dass wir zunehmend nicht nur die heilsamen, sondern auch die unheilsamen Dimensionen dieses Amtsverständnisses in der Diskussion bedenken. Neben den strukturellen Fragen sind hier auch Fragen einer soliden amtstheologischen Ausbildung aufgerufen sowie psychologische bzw. persönlichkeitsorientierte Kompetenzen nötig. Ich meine, dass heute niemand mehr geweiht werden darf, der das Amt als persönliches Verdienst bzw. als elitäre Kaste versteht oder wo absehbar ist, dass er es narzisstisch pervertiert. Auch Kandidaten, die vor allem Liturgie wichtig finden und andere pastorale Bereiche aussparen möchten, können nicht zugelassen werden.
Frage: Wir haben schon über das Priestertum aller Getauften gesprochen. Wäre unter dieser Prämisse auch eine Kirche ohne Amtspriestertum denkbar?
Loffeld: Ich bin eigentlich ganz froh, dass diese Frage beim Synodalen Weg offen auf den Tisch gekommen ist, weil ich glaube, dass sie aufdeckt, was bisher Jahrzehnte geschlummert hat: In Pastoralteams, in denen Geweihte und Nichtgeweihte mitunter die gleiche Ausbildung haben, stellt sich immer wieder die Frage, was den Priester oder Diakon heraushebt und warum die Leitung beim Amt liegt. Zu einer Antwort würde ich so ansetzen: Die katholische Kirche, gerade wenn wir vom Konzil her denken, kann nicht ohne jene Dimension der Sakramentalität: dass Gott allein das Heil schenkt und die Kirche das Zeichen und Instrument dafür ist, ja dass Gott das Heil der Welt möchte, dass er jeden Menschen heilen möchte, dass er mit jedem Menschen eine Beziehung aufbauen möchte. Ohne diese Dimension kann die katholische Kirche nicht existieren. Für die Amtstheologie müssen wir das weiterdenken, denn es ist ja tatsächlich komisch, dass zwei Menschen die gleiche Ausbildung haben, der eine aber gewisse Dinge tun darf und der andere nicht. In einer Gesellschaft, die egalitär und kompetenzorientiert ist und Wert auf Authentizität legt, steht das mit der sakramentalen Amtsstruktur in Konflikt. Diesen Konflikt werden wir weiter austragen. Wir werden ihn allerdings meiner Ansicht nach nur lösen, wenn wir eingedenk unserer Tradition angesichts unserer heutigen kulturellen Koordinaten vertieft darüber nachdenken, was jenes sakramentale Wesen der Kirche bedeutet, wozu es heute dienen kann, das heißt, wie es persönlich und gesellschaftlich ermöglicht, dass Menschen "das Leben haben" (Joh 10,10).