Leere Gotteshäuser, aber volle Kerzenständer

Warum so viele Menschen immer noch in Kirchen eine Kerze anzünden

Veröffentlicht am 12.02.2024 um 12:00 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Berlin ‐ Die Menschen laufen den Kirchen in Scharen davon – in vielen Gotteshäusern gibt es aber einen Ort, der weiterhin stark frequentiert wird: die Kerzenstationen vor einem Kreuz oder einer Heiligenfigur. Warum zünden dort nach wie vor so viele Menschen eine Kerze an? Und was bedeutet das für die Kirchen?

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Wer in den zurückliegenden frostig-kalten Wochen eine Kirche besucht hat, dürfte es am eigenen Leib gespürt haben: Im Winter ist es in vielen Gotteshäuser empfindlich kalt. Gänzlich fehlende oder aus Energiespargründen nur auf Sparflamme laufende Heizungen sorgen dafür, dass die Temperaturen in zahlreichen Kirchen in der kalten Jahreszeit kaum höher sind als draußen vor der Tür. Allerdings gibt es zumindest in fast allen katholischen Gotteshäusern einen Ort, von dem auch im Winter nicht nur im übertragenen Sinn ein wenig Wärme ausgeht: die Kerzenstationen vor einem Kreuz oder einer Heiligenfigur, an denen Gläubige und Besucher selbstständig Kerzen entzünden können.

Wer sich näher mit diesen Stationen beschäftigt, stellt schnell fest, dass sie in vielen Gotteshäusern – großen Kathedralen wie kleinen Pfarrkirchen – zu den besonders stark frequentierten Orten gehören. Und nicht nur das: Obwohl die katholische und die evangelische Kirche seit Jahren dramatische Mitgliederverluste erleiden und weite Teile der Gesellschaft inzwischen als säkularisiert gelten, steigt die Zahl der Menschen, die in eine Kirche gehen, um eine Kerze zu entzünden, allem Anschein nach weiter an. Eine Nachfrage im Kölner Dom bestätigt diesen Eindruck: Dort wurden von Gläubigen und Besuchern im vergangenen Jahr rund zwei Millionen Opferkerzen entzündet – und damit erstmals wieder so viele wie vor der Corona-Pandemie. Auch andere Kirchen vermeldeten zuletzt einen Rekordverbrauch an Opferkerzen. Wie ist dieser Kerzen-Boom zu erklären?

Soziologe: Zwei Gruppen für Kerzen-Boom verantwortlich

Aus Sicht des Leipziger Religionssoziologen Gert Pickel sind vor allem zwei Gruppen dafür verantwortlich: Überzeugte Christen, die ihrer Kirche trotz aller Krisen und Skandale die Treue halten und in deren Leben religiöse Praktiken weiterhin eine wichtige Rolle spielen, sowie Besucher, die im Rahmen einer Besichtigung in eine Kirche gehen. "Menschen aus dieser Gruppe sind häufig zwar selbst gar nicht oder nicht mehr gläubig, trotzdem zünden sie oft eine Kerze an, weil sie diese Praxis zum Beispiel noch von den eigenen Eltern oder Großeltern kennen oder weil sie sich an jemanden erinnern möchten", erläutert Pickel im Gespräch mit katholisch.de.

„Viele Menschen wissen nicht mehr, was oder wie sie für einen anderen beten sollen. Aber oft zünden sie trotzdem eine Kerze an.“

—  Zitat: Benediktinerpater und Bestsellerautor Anselm Grün

Unter gläubigen Menschen wiederum sei das Entzünden einer Kerze weiterhin ein durchaus verbreitetes religiöses Ritual. Dies bestätigt auch die im vergangenen Herbst erschienene Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der evangelischen Kirche, an der sich erstmals auch die katholische Kirche beteiligt hatte. Zwar stellte die Studie grundsätzlich fest, dass "Formen kirchennaher Religiosität" in Deutschland deutlich zurückgegangen seien. Das "Anzünden einer Kerze aus religiösen Gründen" ist von diesem Rückgang allerdings kaum betroffen, denn allein 61 Prozent der Katholiken praktizieren dieses Ritual laut KMU immer noch mindestens gelegentlich.

Der Hamburger Markensoziologe Oliver Errichiello sieht in der starken Nutzung der Kerzenstationen einen Indikator dafür, dass trotz aller Säkularisierungstendenzen der vergangenen Jahre "das Bedürfnis nach Religiosität und nach Gott in der Gesellschaft nicht abgenommen hat, sondern im Gegenteil weiterhin existent und relevant ist". Allerdings zeige sich daran auch, wie sehr sich die Formen von Religiosität verändert hätten. Ebenso wie fast alle anderen Lebensbereiche habe sich auch die religiöse Praxis in den zurückliegenden Jahren zunehmend individualisiert. "Wer etwa mit den starren Terminen der Sonntagsgottesdienste fremdelt, weil sie zum Beispiel nicht mit dem Familienleben vereinbar sind, der hat heute weniger Hemmungen, sich andere Möglichkeiten zu suchen, seine persönliche Spiritualität auszuleben", sagt der Katholik katholisch.de.

Kerzenstationen als Beispiel für "zunehmende Autonomie der Gläubigen"

Die Kerzenstationen seien ein gutes Beispiel für diese zunehmende Autonomie der Gläubigen gegenüber der Kirche. "Die Menschen entscheiden selbst, wann und aus welchem Grund sie eine Opferkerze anzünden und auf diese Weise die Nähe Gottes suchen wollen", so Errichiello. Individuelle Anlässe für den Gang zu einer Kerzenstation in einer Kirche könnten etwa die Krankheit oder der Tod eines nahen Angehörigen sowie eine bevorstehende Prüfung in der Schule sein. Die Tradition, bei solchen Anlässen ein Kerzenopfer anzuzünden, sei auch deshalb weiterhin so beliebt, weil den Menschen – anders als bei anderen kirchlichen Bräuchen – der Sinn dahinter einleuchte.

Ähnlich beurteilt das auch der Benediktinerpater und Bestsellerautor Anselm Grün. "Viele Menschen wissen nicht mehr, was oder wie sie für einen anderen beten sollen. Aber oft zünden sie trotzdem eine Kerze an. Was diese häufig gerne kirchenfernen Menschen instinktiv tun, entspricht der christlichen Tradition. Für einen anderen eine Kerze anzuzünden, das ist eine Weise, für ihn zu beten", schreibt Grün in der Zeitschrift "einfach leben". Die Tradition besage, dass das Gebet, solange die Kerze brenne, zum Himmel gehe. "Und solange die Kerze brennt, bringt mein Gebet Licht in das Leben dieses Menschen. Das ist schließlich die tiefste Sehnsucht, wenn wir eine Kerze für einen anderen entzünden: Wir wünschen ihm, dass sein Leben durch Gottes Liebe heller und wärmer werde, dass die Liebe die Kälte in ihm überwinde, und das Licht alles Dunkle vertreibe", so der Benediktiner.

Bild: ©privat

Markensoziologe Oliver Errichiello warnt die Kirchen davor, die starke Nachfrage an den Kerzenstationen für Werbung in eigener Sache zu "kommerzialisieren".

Der starke Publikumsverkehr an vielen Kerzenstationen wirft die Frage auf, ob hier nicht ein bislang ungehobenes Potential für die Kirchen liegt. Wenn man dem Soziologen Pickel folgt, zünden dort schließlich auch viele Menschen eine Kerze an, die sonst nichts oder nichts mehr mit Kirche am Hut haben. Wären die Stationen in Zeiten dramatischer Mitgliederverluste für die Kirchen also eine Chance, mit den Menschen dort in Kontakt zu treten und sie auch für andere kirchliche Angebote oder gar einen Neu- oder Wiedereintritt zu interessieren?

Dringende Warnung vor "Kommerzialisierung" der Kerzenstationen

Nein, sagen Pickel und Errichiello unisono – und warnen eindringlich vor entsprechenden Versuchen. Die starke Nachfrage an den Kerzenstationen für Werbung in eigener Sache zu "kommerzialisieren", sei das "Falscheste", was die Kirchen tun könnten, so Errichiello. Zum einen müsse man bedenken, dass vielfach auch Menschen dort eine Kerze entzündeten, die um einen verstorbenen Angehörigen trauerten oder Sorgen hätten, für deren Lösung sie am Kerzenstand beteten. Solche Menschen in ein Gespräch zu verwickeln oder gar nach dem Motto "Wenn Sie hier schon eine Kerze entzünden – haben Sie dann vielleicht auch noch Interesse an anderen Angeboten unserer Kirche?" anzusprechen, sei absolut unpassend.

Zum anderen entschieden sich viele Menschen eben ganz bewusst dafür, allein und zu einem Zeitpunkt, der für sie persönlich passend sei, in einer Kirche eine Kerze anzuzünden, betont Errichiello. "Die wollen vielleicht gar keinen engeren Kontakt zur Kirche, sondern einfach nur ganz in Ruhe ihre persönliche Spiritualität ausleben." Aufgabe der Kirche sei es deshalb vor allem, dafür zu sorgen, dass genug Kerzen vorrätig seien und die Kirchentüren nicht nur in einem sprichwörtlichen Sinne so lange wie möglich für die Menschen offen stünden, damit diese ihrem Bedürfnis nachkommen könnten. Lediglich mit einem von der Kirchengemeinde am Kerzenständer bereitgelegten Buch könnte sich der Soziologe anfreunden. "Dort könnten die Menschen Gebete, Sorgen oder Wünsche hinterlassen, die dann wiederum zum Beispiel in den Fürbitten im nächsten Gottesdienst aufgegriffen werden können."

Von Steffen Zimmermann