Himmelklar – Der katholische Podcast

Marco Schrage: So lebe und arbeite ich im Vatikan

Veröffentlicht am 31.01.2024 um 00:30 Uhr – Von Renardo Schlegelmilch – Lesedauer: 

Köln ‐ Der deutsche Priester Marco Schrage arbeitet seit mehr als einem Jahr im vatikanischen Staatssekretariat und lebt in Santa Marta – gemeinsam mit Papst Franziskus. Wie sieht das Leben im Vatikan aus? Im Interview erzählt er vom Leben und Arbeiten im kleinsten Staat der Welt.

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Der Hamburger Priester Marco Schrage arbeitet seit Herbst 2022 in der deutschsprachigen Abteilung des vatikanischen Staatssekretariates. Im Interview erzählt er über seine Arbeit und seinen Alltag zwischen Apostolischem Palast und Santa Marta. Schrage hat einen besonderen Lebenslauf: Er kommt aus einer deutsch-italienischen Familie, hat im Bereich Friedens- und Konfliktforschung gearbeitet und war Militärseelsorger in Mali.

Frage: Herr Schrage, Sie arbeiten seit Herbst 2022 im Staatssekretariat des Heiligen Stuhls. Wie sehen die Aufgaben der deutschsprachigen Abteilung dort aus?

Marco Schrage (Deutschsprachige Abteilung im Staatssekretariat des Heiligen Stuhls): Das Staatssekretariat mit seinen drei Abteilungen kann man ein wenig wie die Kombination aus Kanzleramt und Auswärtigem Amt betrachten. Es gibt drei Abteilungen, die dritte ist eigentlich nur eine ganz kleine Personalabteilung für das diplomatische Personal, die können wir auslassen.

Die zweite Abteilung, mit der wir nicht zu tun haben, regelt die Beziehungen zu den Staaten und internationalen Organisationen. Die erste Abteilung, in der wir sitzen, macht das, was im Endeffekt in Deutschland so etwas wie das Kanzleramt oder auf Landesebene eine Staatskanzlei machen würde. Also Koordination der verschiedenen Dikasterien, aber vor allen Dingen auch die ganze Korrespondenz zwischen dem Heiligen Vater, dem Kardinalstaatssekretär und dem Substituten mit dem deutschsprachigen Raum.

Das umfasst drei Arbeitsbereiche. Das eine ist Korrespondenz von einfachen Gläubigen bis zu den Staatspräsidenten oder Bundeskanzlern, die schreiben. Das Zweite ist aus meiner Perspektive das inhaltlich tiefer Gehende, nämlich Berichte zu analysieren, aufzubereiten und zu versuchen, ein vernünftiges, reflektiertes Bild der Lage darzustellen. Und das Dritte ist alles das, was mit den päpstlichen Dokumenten zu tun hat, die in die verschiedenen Sprachen übersetzt werden. Es gibt also viel Übersetzungsarbeit bei uns.

Es gibt verschiedene Sprachabteilungen. Und wenn wir ganz ehrlich sind, halten sich immer alle Nationen ein wenig für den Nabel der Welt. Das ist also keineswegs etwas typisch deutsches. Deswegen gilt es immer auch ein bisschen den weiteren Blickwinkel einzunehmen. Vor diesem Hintergrund muss man ehrlicherweise sagen, die deutschsprachige Abteilung ist diejenige, die sich um den kleinsten Sprachraum kümmert. Das ist nicht ansatzweise vergleichbar mit dem zum Beispiel, was die spanischsprachige oder die englischsprachige Sektion machen.

Wir selbst sind vier Priester, die in Vollzeit da sind und zwei Mitarbeiterinnen, die Teilzeitstellen haben.

Frage: Sie sind jetzt ein gutes Jahr da. Gibt es irgendwas, was Sie an dieser Aufgabe überrascht hat? Gibt es irgendetwas, was Sie so nicht erwartet hätten an der Arbeit im Vatikan?

Schrage: Was mich ein wenig überrascht und auch beeindruckt ist das Klima, das ich sowohl im Staatssekretariat erlebe, als auch in der Santa Marta, wo ich wohne. Das ist ein Klima ohne jegliche Allüren in einer großen Ruhe und Ausgeglichenheit. Natürlich mit einer gewissen Bandbreite, Menschen sind Menschen, das ist klar. Mit einer aus meiner Perspektive gesunden Erdung und anregender intellektuellen Weite.

Ich weiß nicht, woran das liegt, aber meine Vermutung ist: Wenn jemand wie Franziskus zehn Jahre im Amt ist, dann prägt er natürlich auch. Er zieht auch Leute nach, die vielleicht versuchen, seinen Stil nachzuleben. Ganz undiplomatisch gesagt, wenn bei uns in Deutschland in den kirchlichen Institutionen auch nur ein wenig solch ein Geist herrschen würde wie im Staatssekretariat, dann wären wir in Deutschland in der Kirche vielleicht einen Schritt weiter.

Insofern habe ich alles das, was es so an Klischees gibt, die vielleicht vor 50 oder 60 Jahren auch mal begründet gewesen sind, jetzt in 16 Monaten nicht nur nicht bestätigen können, sondern ich würde sagen, dass es eine gute, geerdete und ausgeglichene Gemeinschaft ist. Sehr angenehm.

Bild: ©picture-alliance/dpa/Peter Kneffel

Im Apostolischen Palast ist das Staatssekretariat untergebracht.

Frage: Die Kurie hat ja oftmals den Ruf eher eine abgehobene Bürokratie zu sein, die nichts vom wahren Leben mitbekommt. Sie nehmen das also nicht so wahr?

Schrage: Ganz im Gegenteil. Hier in der Santa Marta und im Staatssekretariat ist ein hoher Personaldurchsatz. Ich bin jetzt wirklich nicht lange da, 16 Monate, aber ich sehe das schon. Es gehen immer wieder Ältere, es kommen immer wieder Neuere nach. Das heißt, die Gruppe als solche verändert sich beständig. Nichts ist so stetig wie der Wandel, das trifft hier aus meiner sehr kurzen Perspektive wirklich zu.

Das Klischee trifft also nicht zu. Auf der anderen Seite ist es absolut unmöglich, die großen Spannungen, die es in der Kirche gibt, nicht wahrzunehmen. Die Herausforderung ist, sich davon persönlich möglichst wenig erfassen zu lassen.

In Deutschland schauen immer viele Leute aus ihrer eigenen Perspektive. Das ist gut und nachvollziehbar. Es ist aber natürlich nicht hilfreich, wenn große andere Teile, die zur Kirche gehören, nicht im Blick sind. Ich will es vielleicht mal so formulieren: Ich glaube, vielen in Deutschland ist überhaupt nicht bewusst, wie groß das Spektrum zum Konservativen hin jenseits von Franziskus ist.

Und die Spannungen, die sowohl in die progressivere als auch in die traditionellere Seite bestehen, sind gleich groß. Das merkt man schon, dass von beiden Seiten ein großer Druck besteht: Das zieht sicher in alle Richtungen.

Papst Franziskus an der Rezeption des vatikanischen Gästehauses
Bild: ©picture alliance / abaca | Vandeville Eric

Seit 2013 lebt Papst Franziskus in einer Suite des vatikanischen Gästehauses Santa Marta. Auch Marco Schrage lebt in diesem Haus.

Frage: Dabei betrifft das ja nicht nur die Kirche. Sie kennen ja beide Kulturen von Kindesbeinen an, weil sie in einer deutsch-italienischen Familie aufgewachsen sind. Wenn es um Spannungen zwischen der Kurie und der Kirche in Deutschland geht oder darüber hinaus zwischen den Kulturen Italiens und Deutschlands, stelle ich mir ganz häufig die Frage: Ist das wirklich ein inhaltlicher Konflikt? Oder liegt es einfach daran, dass es so unterschiedliche Mentalitäten sind?

Schrage: Ich glaube, es legen sich verschiedene Ebenen übereinander. Die eine fällt jetzt vielleicht in jüngerer Zeit etwas stärker auf, die andere hat wahrscheinlich längere Wurzeln. Fangen wir mal mit der an, die etwas längere Wurzeln hat.

Es gibt wirklich sehr viele unterschiedliche Wirklichkeitszugänge. Wir sollten uns da gar nicht so sehr nur auf Europa beschränken. In Europa können wir den germanischen Sprachraum und den romanischen Sprachraum einander gegenüberstellen. Und selbst die sind ja nun weiß Gott nicht homogen. Die Engländer sind ganz anders als die Deutschen. Die Franzosen sind ganz anders als die Italiener: Aber eine gewisse Fluidität zwischen Ideal und Wirklichkeit kann im Romanischen leichter bestehen als im Deutschen.

Das Ideal, woran man sich ausrichtet, ist das eine. Was im Alltag gelebt wird, ist eine andere Sache. Das ist in der deutschen Mentalität nicht ganz so einfach abzubilden. Insofern gibt es allein schon durch unterschiedliche Wirklichkeitszugänge Spannung.

Aber ein anderer Punkt besorgt mich, und das sage ich ganz ehrlich, mindestens genauso stark. Ich habe den Eindruck, dass viel in unserer Zeit fokussiert wird auf die zunehmend unsere internationale Politik prägenden bewaffneten Konflikte.

Innerhalb unserer demokratisch organisierten Staaten haben wir aber ebenfalls sehr starke Polarisierungen und Zuspitzungen. Denken wir nur an die Vereinigten Staaten von Amerika. Denken wir an Polen. Ich habe den Eindruck, dass sich das in Deutschland jetzt auch etwas stärker zeigt, dass wir weniger in einer politischen Konkurrenz sind, die ja positiv ist und hilft, sondern eher in einer fast schon hasserfüllten Opposition.

Den anderen als Gegner zu sehen, spielt in jedem bewaffneten Konflikt natürlich eine Rolle. Das ist ja geradezu banal. Ich glaube aber, dass sich dieses Paradigma auch in unser "friedliches Leben" geradezu hineinfrisst. Deswegen sehe ich das nicht nur mit großer Sorge in den Staaten, von denen ich gerade gesprochen habe, die biblisch gesprochen geteilte Reiche sind, sondern dass das auch bei uns in der Kirche gilt.

Kann man unterschiedlicher Auffassung sein? Ja, allerdings. Ich bin sehr dafür, denn man kann ja gute Argumente austauschen. Und unter Umständen stellt man fest, dass man unterschiedlicher Meinung ist und bleibt. Aber den anderen als Gegner anzusehen, da bin ich von überzeugt, das wird nicht zum Guten führen.

Frage: Sie haben einen Hintergrund in Friedens- und Konfliktforschung. Müsste die Kirche da nicht einen Gegenpol darstellen? Wir betonen ja an allen Ecken und Enden, wie wichtig es uns als katholischer Kirche ist, eine Weltkirche zu sein. Also sollte die Kirche da nicht eher was Verbindendes darstellen? Oder würde das die Konflikte und die kulturellen Unterschiede einfach nur schönreden?

Schrage: Eine globale Institution wird immer in einer großen Spannung leben. Diese Spannung wird sich überhaupt nie aufheben lassen. Ich glaube, das ist geradezu naiv zu hoffen. Die Frage ist: Ist eine Spannung denn etwas Negatives? Da würde ich sagen: Nein, Spannung ist überhaupt nichts Negatives. Auch ein Konflikt ist nichts Negatives.

Wo ist denn das Problem mit dem Konflikt? Keine Konflikte gibt es erst, wenn wir alle tot sind. Das Problem ist nicht die Spannung. Das Problem ist nicht der Konflikt. Das Problem ist, wie wir damit umgehen.

Wenn wir unterschiedlicher Auffassung sind und unterschiedliche Wirklichkeitszugänge haben, dann gelten, glaube ich, zwei Dinge. Das Erste ist, sich redlich um Respekt für den anderen Wirklichkeitszugang zu mühen. Und das Zweite ist, den eigenen Wirklichkeitszugang anhand des anderen zu vertiefen. Oder anders ausgedrückt: Anhand der Andersheit des Anderen das Eigene vertiefen.

Wenn das wirklich ehrlich geschieht, nicht in dem Sinne von "Ich habe die Macht, du musst dich beugen" oder "Ich habe die Erkenntnis, du musst mir folgen", wenn das wirklich geschieht, dann glaube ich, wird das zum Wohle aller sein.

Von Renardo Schlegelmilch