Moraltheologe: Protestanten kündigen Ethik-Konsens mit Katholiken auf
Bei wichtigen ethischen Fragen wie Suizidbeihilfe und Abtreibung hat sich die evangelische Kirche aus Sicht des Tübinger katholischen Moraltheologen Franz-Josef Bormann "vom Konsens mit der katholischen Kirche verabschiedet". Die katholische Seite müsse sich daher verstärkt um Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen bemühen, forderte das Mitglied des Deutschen Ethikrats in einem Beitrag für das theologische Portal "communio.de" (Mittwoch).
Der langjährige ökumenische Konsens habe zu vielen guten gemeinsamen Texten und Stellungnahmen geführt – etwa zu Organspende und Sterbehilfe. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) habe sich zudem von 1994 bis jetzt an der jährlichen "Woche für das Leben" beteiligt. Und auch im Streit um die Präimplantationsdiagnostik und das "therapeutische Klonen" habe es auf EKD-Seite lange geheißen, hier passe "kein Blatt Papier" zwischen die Positionierungen beider Kirchen. "Von alledem ist gegenwärtig nicht mehr viel zu spüren", bedauerte der Ethiker. Seit Jahren gebe es eine "Absetzbewegung, die zu wachsenden Dissonanzen in ethischen Fragen führte".
Schon bei der Debatte zum Umgang mit embryonalen Stammzellen seien Gemeinsamkeiten ins Wanken geraten. Besonders markante Beispiele seien der Umgang mit der Beihilfe zum Suizid und mit dem Thema Abtreibung, fügte Bormann hinzu. Hier sei es eine "ökumenische Provokation", dass sich etliche evangelische Theologen für ein Angebot der Suizidassistenz in den eigenen Einrichtungen ausgesprochen hätten. Hilfe zum Suizid sei aber weder eine ärztliche Aufgabe noch passe sie zum Selbstverständnis christlicher Einrichtungen.
"Höchst befremdlich"
Auch die Stellungnahme des EKD-Rats vom Oktober 2023 zur Abtreibung zeige das Auseinanderdriften, ergänzte der Theologe. Aus der Perspektive einer christlichen Ethik sei es "höchst befremdlich", wenn sich der Rat "in vorauslaufendem Gehorsam" für Regulierungen des Schwangerschaftsabbruchs für bestimmte Konstellationen auch außerhalb des Strafrechts ausspreche. Noch viel beunruhigender sei das "unverhohlene Eintreten für ein 'abgestuftes Lebensschutzkonzept', das von einer 'kontinuierlichen Zunahme des Lebensrechts des Ungeborenen und der Schutzpflicht ihm gegenüber im Verlauf der Schwangerschaft' ausgeht". Konkret bedeute dies, dass der strafrechtliche Schutz des Ungeborenen erst etwa ab der 22. Schwangerschaftswoche greifen solle.
Dies sei "nicht weniger als ein Generalangriff auf die von der katholischen Kirche vertretene Position", die das Lebensrecht des Ungeborenen von Beginn seiner Existenz an verteidige und dazu auch strafrechtliche Sanktionen für unverzichtbar erachte. Da die EKD auch noch den Ausstieg aus der "Woche für das Leben" angekündigt habe, verstärke sich der Eindruck, "dass hier ohne Not Grundsatzpositionen aufgegeben werden, die bislang die Basis für eine ökumenische Verständigung bildeten".
Bormann verwies auf sich abzeichnende "bioethische Großkonflikte" etwa um ein neues Reproduktionsmedizingesetz und eine weitere Liberalisierung der Sterbehilfe. Dabei "sollten die beiden Kirchen ihre Positionierungen durch eine bessere Zusammenarbeit so aufeinander abstimmen, dass die noch vorhandenen Gemeinsamkeiten deutlicher in der Öffentlichkeit zur Geltung kommen." Außerdem solle sich die katholische Kirche bemühen, "Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zu bilden, die ihren weitgehend natur- und vernunftrechtlich begründeten normativen Grenzziehungen offen gegenüberstehen". Wen er damit genau meint, führte Bormann nicht näher aus. (KNA)