Das Schlechte hat viele Gesichter

Zwischen Schuld und Sünde: Warum das Böse auch heute noch relevant ist

Veröffentlicht am 17.03.2024 um 11:30 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Über das Böse redet man nicht gern – und doch ist es in einer Zeit wachsender Krisen relevant. Denn wo das Böse ist, ist ganz zwingend auch das Gute. Eine kulturgeschichtliche Reise zum moralischen Versagen – und den Wegen, es zu bezwingen.

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In der Fastenzeit geht es nicht zuletzt darum, Selbstreflexion zu betreiben: Was war gut? Was war schlecht? Vor allem, wenn es um "das Schlechte" oder "das Böse" geht, kommt der Mensch des 21. Jahrhunderts allerdings ins Stocken. Denn das Böse ist für viele ein Relikt der Vergangenheit, ein Begriff, der heute scheinbar nicht mehr praktikabel ist. Doch ein Blick in die Kulturgeschichte zeigt, dass "das Böse" die Menschen nicht nur seit Jahrhunderten beschäftigt, sondern nicht zuletzt durch die Kirche bis heute relevant ist.

Das Böse stellt gleich die Frage, was sich hinter dem abstrakten Begriff verbirgt. In der Kulturgeschichte haben sich seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert mehrere Kategorien herausgebildet: Die "Privationslehre" definiert das Böse zuallererst als einen Mangel am Guten (Privatio, lat. "Beraubung"). Dagegen war schon der Manichäismus im dritten nachchristlichen Jahrhundert der Ansicht, dass das Böse eine eigene Entität sei, die dem Guten gegenüberstehe.

Diese Kategorien beziehen sich auf das Böse in menschlichen Handlungen, die der Mensch aus seiner Freiheit heraus tun kann. Diese Art des Bösen nannte der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) "malum morale". Daneben sprach er vom "malum physicum" bei schlechten Dingen, die nichts mit dem freien menschlichen Willen zu tun hatten. Ein Beispiel dafür sind etwa Naturkatastrophen. Beides verweist auf eine Grunddisposition der Welt, das "malum metaphysicum", also die grundlegende Fehlbarkeit der Schöpfung als Ganzes. Leibniz führte diese Begriffe im Rahmen seiner Beschäftigung mit der Theodizee-Frage ein. Diese untersucht, warum es trotz der von Religionen angenommenen Schöpfung der Welt durch Gott das Böse gebe und ob er nicht eine Welt ohne Leid hätte schaffen können oder müssen. Doch das ist ein weiterer großer Komplex der Philosophie- und Theologiegeschichte. In diesem Text soll es weiter um das "malum morale" gehen. Denn die Philosophie geht bis zum heutigen Tag davon aus, dass diese Annahme auch etwas über den Menschen aussagt.

Eine Form menschlicher Freiheit

"Das Böse ist wie das Gute eine Form menschlicher Freiheit", äußert der Philosoph Jörg Noller 2018 im "Journal für Religionsphilosophie". So ähnlich formuliert es auch die Bibel: Im Schöpfungsbericht lässt Gott Adam und Eva die Wahl, ob sie vom Baum der Erkenntnis essen oder nicht. (Gen 2f.) Das bedeutet: Es gibt die Fähigkeit und manchmal auch die Neigung im Inneren des Menschen, aus seiner Freiheit zur Entscheidung heraus selbstbezogen zu handeln, den eigenen Wünschen und Bedürfnissen das Wohlergehen anderer unterzuordnen. Doch bei dieser Erkenntnis bleibt das Christentum nicht stehen.

"Wenn sich das Christentum mit dem Bösen beschäftigt, geht es in erster Linie immer darum, das Böse zu überwinden", sagt der Tübinger Moraltheologe Franz-Josef Bormann. "Es spricht nicht so sehr vom Bösen, sondern eher von der Sünde, also einer menschlichen Tat, die das Verhältnis zu Gott und den Mitmenschen erschüttert." Da Gott die Welt erschaffen habe, könne es nicht gleichmächtige Pole zwischen Gut und Böse geben, sagt Bormann. Hier geht es wieder um das Böse als Teil vom freiheitlichen Handeln des Menschen.

Professor Franz-Josef Bormann ist Moraltheologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen.
Bild: ©KNA

Franz-Josef Bormann ist Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen.

Im Gegensatz zum eher abstrakten Bösen an sich sind Sünden folglich deutlich konkreter, es geht um einzelne Handlungen. Sünden können also konstruktiv bearbeitet werden – und das schon seit der Bibel. Dort spricht Jesus von Umkehr und Vergebung als den zentralen Strategien, mit Sünden umzugehen. Umkehr bedeutet, eigene Fehler einzusehen und um Verzeihung zu bitten, Vergebung ist dann das darauffolgende Entgegenkommen der Geschädigten. Im Christentum ist dieser Prozess in der Beichte kanalisiert: Man gibt seine Missetaten zu, bereut, leistet Abbitte und versucht, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Gott vergibt so gut wie immer. Ausnahmen sind dabei lediglich kapitale Vergehen wie Mord oder Vergewaltigung. Solche Todsünden wiegen dann deutlich schwerer.

Heutiges Schuldunbewusstsein

Doch wer geht heute noch beichten? Die Zahlen sind rückläufig, das Interesse schwindet. "Die Kirche macht hier ein Angebot, das keiner mehr nachfragt", resümiert Bormann. Er sieht eine Schuldkrise der modernen Gesellschaft. "Wir sprechen zwar heute auch von Schuld, aber wir suchen sie immer nur beim anderen, nie bei uns selbst." Schuld werde gern historisiert, also auf vergangene Fehltritte hingewiesen, auch von Gesellschaften. "Das ist auch wichtig, aber so gerät die gegenwärtige Realität aus dem Fokus", sagt er. "Es besteht in der jüngeren Theologie die Gefahr, dass man die Kategorie Schuld und Sünde nicht mehr verwenden möchte. Man glaubt, wenn man nur genug Verständnis aufbringt, würde sich moralisches Versagen in Luft auflösen." Er sieht die Kirche in der Pflicht, in dieser Situation aktiv zu werden: Schuld klar zu benennen und die Wege aus ihr heraus aufzuzeigen. "Wie können wir glaubwürdig moralisches Versagen von Menschen thematisieren? Dafür brauchen wir in der Pastoral neue Konzepte", fordert Bormann. "Auch wer schwerste Schuld auf sich geladen hat, braucht durch die Seelsorge eine Zukunftsperspektive."

Hier zeigt sich der Knackpunkt des Bösen in einer Gesellschaft, die immer säkularer wird. Der christliche Gedanke der Sünde spielt für immer weniger Menschen eine Rolle, und auch "das Böse" ist für viele Menschen abstrakt und wenig alltagsrelevant. Das führt dazu, dass moralisches Versagen weggewischt wird. Es fehlt die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld, die persönliche Reflexion auf das Böse im eigenen Selbst. Dies könnte aber ein erster Schritt sein für eine Auseinandersetzung und eine Überwindung.

Es gibt genug Gründe, um Angesichts des Bösen im Menschen und in der Welt zuversichtlich zu sein. Denn das Böse sei niemals so stark wie das Gute, sagt Philosoph Noller. Das Böse könne nur eine bestehende Ordnung zerstören. "Wenn es alles andere zerstört hat, bleibt ihm nur noch, sich selbst zu zerstören". Eine vollkommen gute Gesellschaft könne man sich vorstellen, eine ganz und gar böse aber kaum. Der Roman "Die 120 Tage von Sodom" des Marquis de Sade zeige eindrucksvoll, dass sich die Weltzerstörer auch immer selbst mitzerstörten. "Eine böse Ordnung, oder wenn Sie so wollen ein Antisystem, kann sich auf Dauer nicht halten."

Von Christoph Paul Hartmann