Journalist: Kirche kann demokratischer Schutzraum in Gesellschaft sein
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Im Herbst könnte die AfD in Thüringen erstmals eine Mehrheit stellen, an der die demokratischen Parteien nicht mehr vorbei kommen. Doch wie gehen die Menschen im Osten mit rechten Tendenzen und der AfD um und welche Rolle spielt dabei die Kirche, die dort eine Minderheit ist, erklärt der Journalist und Mitbegründer des Magazins "Die Eule", Philipp Greifenstein, im Interview.
Frage: Rechtspopulistische Tendenzen wabern schon seit Jahren in der Gesellschaft. Gerade im letzten Jahr ist es aber noch mal zu einer Radikalisierung gekommen. Wie nehmen Sie das im Alltag in Thüringen wahr?
Greifenstein: Ich glaube, es wäre falsch zu denken, dass man hier an jeder Ecke auf einen offen auftretenden Neonazi trifft. Die haben sich im Stil auch sehr gewandelt. Das ist ein Vorurteil, das man aus den 1990er-Jahren noch hat, dass Nazis Springerstiefel und Bomberjacke tragen.
Womit wir es hier zu tun haben, sind rechtsextremistische Einstellungen, die in einem guten Drittel der Gesellschaft tief drinsitzen und auch weitervererbt werden von Generation zu Generation. Die haben eine sehr große Selbstverständlichkeit. Zum Beispiel ein Satz wie: "Deutschland ist gefährlich überfremdet". Das ist ein Satz, den man auch aus Studien kennt – aus der Mitte-Studie zum Beispiel. Dahinter verbirgt sich die Angst vor "den Ausländern, die uns die Jobs wegnehmen". Diese Ansichten werden in der Familie weitergegeben. Es gibt heute Leute, die erst Ende 20 oder Anfang 30 sind, die aber mit diesem Satz aufgewachsen sind. Die wird man auch mit aller Empirie, dass in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt Arbeitskräfte fehlen, nicht vom Gegenteil überzeugt bekommen.
Frage: Wir sprechen mit Ihnen nicht nur als Thüringer, sondern auch als kirchlicher Beobachter. Welche Rolle spielt die Kirche in diesem Gemenge? Wir hören von kirchlichen Stimmen seit Jahren schon, dass die Christen "klare Kante" zeigen müssen. Bereits beim Katholikentag 2016 in Leipzig gab es eine große Diskussion, ob Vertreter der AfD eingeladen werden oder nicht. Anscheinend hat diese "klare Kante" seitdem ja nicht viel gebracht, wenn wir uns die Umfrageergebnisse im Jahr 2024 anschauen.
Greifenstein: Ich würde nicht behaupten, dass es gar nichts gebracht hat. Es ist enorm wichtig, gerade hier in Ostdeutschland und besonders im ländlichen Raum, der nach wie vor demokratischen Mehrheit den Spiegel vorzuhalten und zu sagen: Wir sehen euch, wir verstärken euch. Wir stehen auch an eurer Seite. In der Öffentlichkeit und offensiv politisch aufzutreten liegt - je nach Region - nicht in der Mentalität vieler Ostdeutscher. Manche haben nie gelernt, dass das wichtig ist. Die gesellschaftlich aktiven Bürgerinnen und Bürger sind häufig aus dem ländlichen Raum abgewandert in die Großstädte oder nach Westdeutschland.
Dass sich die Kirchen, wie in den letzten Tagen und Wochen evangelische und katholische Kirchenvertreter, ganz deutlich positionieren, ist enorm wichtig, weil es die Leute in der Fläche stärkt. Damit sollte man aber nicht unbedingt die Hoffnung verbinden, dass man die sehr Überzeugten wieder zurückgewinnt. Es geht vielmehr darum, deutlich zu machen, dass es in der Gesellschaft einen demokratischen Schutzraum braucht. Die Kirche kann so ein Schutzraum sein.
Frage: Wie sieht das denn bei Ihnen in der evangelischen Gemeinde in Bad Frankenhausen in Nordthüringen aus? Wissen Sie, ob Sie da AfD-Wähler als Gemeindemitglieder haben? Wie stellen die sich dar? Und vor allem viel wichtiger: Wie geht man mit denen um?
Greifenstein: Da bin ich ganz beim systematischen Theologen Michael Haspel. Es gibt keinen Faktengrund, der uns die Sicherheit vermitteln könnte, dass die politischen Ansichten innerhalb der Kirchenmitgliedschaft anders aussähen als in der Mehrheitsbevölkerung. Das gilt übrigens Ost wie West. Wir sehen das auch hier in der Region. Auch die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt, dass die politische Überzeugungen von Christen in diesem Land nicht anders aussehen als im Rest der Bevölkerung.
Frage: Was heißt das aber für die Gemeinden?
Greifenstein: In den Gemeinden sind ja nicht alle Kirchenmitglieder aktiv, sondern immer nur ein sehr kleiner Teil davon. Für die Gemeinden im Osten bedeutet das, dass es durchaus zu Konflikten kommt mit AfD-Mitgliedern oder Wählern, die vielleicht trotzdem weiter im Kirchenvorstand tätig sein wollen.
Es ist aber nicht so, dass alle Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen zur Diskussionsveranstaltung werden. Im Gegenteil, das Politische ist sowieso eher was für den Privatraum. Da gibt es durchaus auch Parallelen zum Religiösen. Ist Religion Privatsache? Ist Politik Privatsache? Es ist mir in meinen jetzt bald 36 Jahren im Osten ganz selten passiert, dass jemand wirklich fragt: Wo stehst du politisch? Das wird in den Privatraum zurückverwiesen.
Es gibt natürlich immer wieder Anknüpfungspunkte, wo wir ganz konkret an theologischen Inhalten in den Gemeinden solche Konfliktpunkte haben. Wenn man zum Beispiel über die Schöpfungsgeschichte spricht und über den Segen, der da auf den Menschen liegt, männlich wie weiblich. Wenn wir über die Segnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften – evangelisch wie katholisch – sprechen, da gibt es schon immer auch mal Konflikte.
Was aber den Kern der engagierten Christen angeht, da sehen wir in den neuesten Befragungen eine Bestätigung dessen, was ich auch beobachte: Der Kern ist äußerst demokratisch, sehr engagiert in vielen Ehrenämtern, weltoffen und nächstenliebend. Es ist also nicht so, dass man hier auf braune Gemeinden trifft. Aber Konflikte gibt es natürlich.
„Dass sich die Kirchen, wie in den letzten Tagen und Wochen evangelische und katholische Kirchenvertreter, ganz deutlich positionieren, ist enorm wichtig, weil es die Leute in der Fläche stärkt.“
Frage: Das heißt, es liegt nicht daran, dass Gemeindemitglieder vor rechtem Gedankengut gefeit wären, sondern es ist eher eine andere Zielgruppe, die dadurch angesprochen wird?
Greifenstein: Ich denke, evangelisch sowieso und zunehmend auch katholisch muss man sich von dem Gedanken einer Formierung in der Kirche verabschieden. Bloß weil ein Bischof etwas sagt oder eine Synode etwas entscheidet, heißt es ja nicht, dass das alle auch immer glauben. Überhaupt nicht.
Im Unterschied zum Beispiel zu nicht weltanschaulich geprägten Vereinen wie Feuerwehren oder Sportvereinen ist in der Kirche völlig klar, dass die Auseinandersetzung geführt wird und dass es ein Wertefundament gibt, an dem man nicht vorbeikommt.
Da sehe ich eigentlich die schleichende Normalisierung, wie sie Michael Haspel beschreibt, eher gesamtgesellschaftlich. Die ist jenseits der Kirchenmauern, um in der Metapher zu bleiben, noch viel normaler. Wenn also konkrete Muster der Menschenfeindlichkeit, wenn konkrete rechtsextremistische Einstellungen problematisiert werden, dann in den Kirchen oder von linken politischen Akteurinnen – Sozialdemokratie, Grüne, Linke.
Frage: Sehen Sie denn da die Kirche nicht auch in der Verantwortung, eine Lösung anzubieten? Wir sehen, dass in Deutschland gerade hunderttausende und Millionen Menschen auf die Straße gehen und sagen: Wir sind nicht die schweigende Mehrheit. Wenn es kirchlich sowieso schon dieses Engagement, dieses Wertekonstrukt gibt, dann müsste sich die Kirche ja mehr dafür einbringen, das voranzutreiben.
Greifenstein: Das ist auch das, was wir hier konkret erleben. Es gibt jenseits der ganz großen Demos in Berlin, Köln oder Düsseldorf auch viele kleine Demonstrationen, auch in kleinen Ortschaften und Städten in Ostdeutschland. In Nordhausen, hier um die Ecke, waren es 1.500. In Sondershausen waren wir 400 Menschen.
Es gibt aber auch Demos in Städten, wo es schon seit Jahrzehnten Konflikte mit Neonazis und Rechtsextremen gibt, wo das Angstlevel in der Gesellschaft ziemlich hoch ist; in Pirna, Döbeln oder Riesa. Das ist schon klasse! Auch in Gera und in Sonneberg gehen Menschen auf die Straße. Da sind natürlich auch Christinnen und Christen dabei und nicht selten auch Kirchenmitarbeitende und Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich bei der Organisation engagieren.
Es gibt sogar Orte, da trauen sich die politischen Parteien nicht mehr, Demos zu organisieren, weil sie befürchten, es kommt niemand, wenn LINKE, SPD, CDU und Grüne einladen. Wenn aber der Pfarrer und die Kirchengemeinde einladen und alle das zusammen machen, dann genießt das nach wie vor ein größeres Vertrauen. Es gibt also auch im Osten eine demokratische Zivilgesellschaft und die Kirchen gehören dazu.
„Ich denke, evangelisch sowieso und zunehmend auch katholisch muss man sich von dem Gedanken einer Formierung in der Kirche verabschieden. Bloß weil ein Bischof etwas sagt oder eine Synode etwas entscheidet, heißt es ja nicht, dass das alle auch immer glauben.“
Frage: Jetzt stehen wir ein gutes halbes Jahr vor den Landtagswahlen, wo die nicht unrealistische Gefahr besteht, dass es zu einer Mehrheit für die AfD und Björn Höcke in Thüringen kommen kann. Haben Sie Angst davor oder denken Sie, dass am Ende doch die demokratische Kraft stark genug sein wird?
Greifenstein: Es gibt sicherlich keinen Anlass, die Landtagswahl in Thüringen auf die leichte Schulter zu nehmen. Wir haben ja bereits erlebt, wie schwierig das auch sein kann mit der Ministerpräsidentenwahl. Sowohl in Thüringen als auch in Sachsen stellt sich mit den Landtagswahlen im Herbst die Frage nach der Regierungsfähigkeit des Bundeslandes. Das wurde bisher eigentlich immer dadurch gelöst, dass es zum Ende des Wahlkampfs eine Zuspitzung gab zwischen der AfD als "Opposition" und der starken Partei des jeweiligen Amtsinhabers. Also hier in Thüringen war das bisher Bodo Ramelow von der Partei "Die Linke". In Sachsen ist es immer die CDU gewesen.
Das ist allerdings nicht unproblematisch. Es bedeutet, eine CDU zu wählen, die selbst sehr konservativ ist, die aber nach dem Wahltag immer vergisst, wer sie eigentlich gewählt hat. Ich glaube, viele Sachsen sind immer wieder überrascht, dass sie von einer Koalition aus CDU, SPD und Grünen regiert werden, weil die Regierungspolitik schon sehr konservativ ist. Ich würde mich an Stelle der amtierenden Regierungsparteien im Moment nicht so sehr darauf verlassen, dass die Leute immer wieder zur Fahne zurückkommen.
Das Problem geht allerdings über die Landtagswahlen hinaus, was vielen gar nicht so direkt bewusst ist. Wir haben noch ein paar mehr Wahlen dieses Jahr. Mal abgesehen von der Europawahl, an der wir alle teilnehmen, stehen im Frühjahr auch noch Kommunalwahlen an. Die sind auch ganz wichtig, weil das soziale Leben vor Ort organisiert wird. Das heißt, da wirklich gegenzuhalten, gegen einen gesellschaftlichen Rechtsruck, in dem sich Menschen mit extremen Einstellungen sicher fühlen können, das ist echt schwer. Das braucht Mut und Durchhaltevermögen. Ich glaube aber schon, dass es gelingen kann. Einfach, weil es tatsächlich stimmt: Wir sind mehr! Das stimmt auch im Osten noch. Es braucht hier viel mehr Kraft, das auf die Straße zu bringen und positive Zeichen auszusenden. Aber ich denke, es kann gelingen.