Berliner Künstlerseelsorger Pater Georg Maria Roers im Interview

Antisemitismus in der Kunst: Jesuit verurteilt Vorfälle bei Berlinale

Veröffentlicht am 03.03.2024 um 12:00 Uhr – Von Roland Müller – Lesedauer: 

Berlin ‐ Georg Maria Roers hat als Künstlerseelsorger in Berlin einen engen Draht zur Kunstszene. Der Jesuit kritisiert im katholisch.de-Interview, dass antisemitische und gegen den Staat Israel gerichtete Klischees auch von Künstlern aufgegriffen werden – wie jüngst bei den Protesten auf der Berlinale.

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Bei der Preisverleihung des Filmfestivals Berlinale in der Hauptstadt gab es vor einer Woche neben zahlreichen Solidaritätsbekundungen mit den Palästinensern auch offene Kritik an Israel. Sogar von einem "Genozid" in Gaza war die Rede. Der Künstlerseelsorger sowie Kunst- und Kulturbeauftragte des Erzbistums Berlin, Pater Georg Maria Roers SJ, kritisiert im Interview mit katholisch.de diese Vorfälle bei der Berlinale – und fordert für den anstehenden Ramadan zu einem Fasten von antisemitischen Hassparolen auf.

Frage: Bei der Berlinale gab es einen Skandal um israelfeindliche Aussagen und bei der Kunstausstellung Documenta 2022 wurde mit Blick auf ein Kunstwerk gar von Antisemitismus gesprochen. Warum kommen aus der Kunstszene immer wieder antiisraelische und antisemitische Äußerungen?

Roers: Diese Äußerungen sind im gesellschaftlichen Diskurs insgesamt wieder hoffähig geworden, nicht nur in der Kunst. Da werden alte Traditionen wiederbelebt, von denen ich dachte, die seien längst ad acta gelegt. Es gab jüngst auch an der Universität der Künste (UdK) in Berlin fragwürdige Szenen bei einer Solidaritätsaktion für Palästina. Und die Frage, ob die UdK ein Antisemitismus-Problem habe, bejahte ihr Präsident Norbert Palz ausdrücklich. In bestimmten Gruppen unter den Studenten könne das Problem nicht wegdiskutiert werden. Antisemitismus taucht in unserer Kultur leider immer wieder auf. Ende des 19. Jahrhunderts war es die sogenannte "Judenfrage", die etwa auch Karl Marx in seinen theoretischen Schriften ausdrücklich erwähnt hat. In der politischen Linken hat sich daraus ein Antisemitismus entwickelt, der seit den 1960er Jahren lebendig ist. Die Klischees der Palästinenserorganisation PLO werden bis heute in erschreckender Weise übernommen und auf offener Bühne zur Schau gestellt – völlig einseitig. Sie richten sich direkt gegen die Existenz des Staates Israel. Auf der Berlinale wurde das Band der Solidarität mit der jüdischen Kunst und Kultur quasi zerschnitten.

Frage: Von der Berliner Landesregierung, aber auch von der Bundesregierung gibt es Bemühungen, Antidiskriminierungsvorgaben für die Kunst zu erlassen. Wie wirksam und sinnvoll ist das?

Roers: Das ist eine Gratwanderung: Auf der einen Seite ist es richtig, die Grenze da zu setzen, wo purer Hass bedenkenlos ein Podium bekommt. Auf der anderen Seite ist die Kunstfreiheit ein hohes Gut, das es zu schützen gilt. Meinungsvielfalt, Kontroversen, Dispute gehören zu einer lebendigen Demokratie. Das gilt für alle Medien, doch Nachrichten, die nur noch aus einer Überschrift bestehen, werden heute so groß gemacht, dass eine differenzierte Betrachtung unter den Tisch fällt. Polarisierung ist meistens ein schlechter Weg. Aus einer Stimmung heraus Gesetzte zu machen, kann in eine Sackgasse führen. Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) will Fördermittel als Druckmittel einsetzten. Ich verstehe sein Anliegen und teile es, aber seine "Antidiskriminierungsklausel" hat nur einen Monat bis Ende Januar überlebt. Er hat sie selbst zurückgezogen.

Frage: Für viele Künstler ist die staatliche Förderung ihrer Kunst zur Finanzierung sehr wichtig. Auch hier könnte der Staat ansetzen, um gegen bestimmte politische Aussagen vorzugehen.

Roers: Es ist nicht die Aufgabe des Staates, Künstlerinnen und Künstler auf ihre political correctness hin zu prüfen. Das wird in Diktaturen praktiziert, aber nicht in Demokratien. Selbstverständlich ist jeder Bürger dazu angehalten, sich an Gesetz und Ordnung zu halten. Schiller bemühte sich darum, das Theater zu einer moralischen Anstalt zu machen, in dem Sinne, dass der Zuschauer ein mehr und mehr aufgeklärter Mensch werde. Die Kunst will in all ihren Sparten den Menschen mit anderen Welten konfrontieren. Es ist ähnlich wie eine Weltreise – nur auf kleiner Bühne. Im Netz geschieht das zuweilen auch. Ich tauche ab in einen anderen Kosmos und komme bereichert und angeregt wieder in der analogen Welt an. Die Kunst kann mich triggern, ärgern, erfreuen und enttäuschen. Aber ich werde nie Harry Potter sein oder Inspektor Callahan in "Dirty Harry" von Clint Eastwood. Künstler dürfen Fehler machen wie andere auch. Aber sind sie immer Vorbilder? Wenn Sie es nicht sind, darf die Politik sie bestrafen? Das wären merkwürdige Vorstellungen.

Achermittwoch der Künstler
Bild: ©Leo Seidel/Stiftung St. Matthäus Berlin

Der Schriftsteller Senthuran Varatharajah spricht beim Aschermittwoch der Künstler 2024 in Berlin.

Frage: Sie stehen als Künstlerseelsorger in engem Kontakt mit Kunstschaffenden. Wie nehmen die Künstler, die zu Ihnen kommen, die antiisraelischen Äußerungen und die Maßnahmen der Politik dagegen wahr?

Roers: Ich bin mit einer jüdischen Künstlerin darüber im Gespräch. Und ich bin da ganz solidarisch. Auf Hetze kann man nur aufgewühlt reagieren, wenn man selbst betroffen ist. Alles andere wäre ein Märchen. Es wäre perspektivisch wichtig, vielleicht im geschützten Rahmen, nicht übereinander, sondern miteinander zu sprechen. Aber das ist oft schon gar nicht mehr möglich. Das macht mich traurig. Ich fürchte, solange der Krieg in Palästina andauert, werden beide Seiten unversöhnt bleiben. Immerhin steht ja ein Waffenstillstand im kommenden Ramadan in Aussicht. Ein Fasten von Hassparolen und Hetze gegen Juden wäre genauso notwendig. Die Politik stößt bei den handelnden Personen eines Krieges mit Waffen und Worten an Grenzen.

Frage: Bilden die Menschen, die zu Angeboten der Künstlerseelsorge bei Ihnen in Berlin kommen, den Durchschnitt der Kunstschaffenden?

Roers: Was bitte, soll der Durchschnitt der Kunstschaffenden sein? Was für die Künstlerinnen und Künstler gilt, das gilt für alle, die von ihrer Arbeit leben wollen. In der Kunst ist es ein hohes Risiko, diesen Anspruch zu haben. Davor habe ich den allergrößten Respekt. Jede und jeder, der eine Kunst-Akademie besucht weiß, dass nur 4% der Abgänger davon leben können. In welchem Beruf gibt es das? Künstler können selbstverständlich auch Christen sein, aber nicht alle, die mir begegnen, sind es. Danach frage ich auch nicht. Ich nähere mich meist über das Werk den Künstlern an. Und das ist oft ein sehr spezieller Blick. Kunstwerke mit einer sakralen Aura finden sich immer wieder. Und nicht selten steht eine ganze Lebensphilosophie dahinter. Das ist bei jedem Schriftsteller so. Jeder Schauspieler versucht, seiner Rolle möglichst nahe zu kommen. Aber dann gibt es wieder die Zeit, in der sie als Menschen unter Menschen leben wollen. Ohne jedes Brimborium.

Frage: Der Aschermittwoch der Künstler ist ein bekanntes Format Ihres Seelsorgeangebots. Thematisieren Sie dort auch Themen, wie den Antisemitismus oder antiisraelische Ressentiments in der Kunstszene?

Roers: In diesem Jahr hat der in Berlin lebende Schriftsteller, Philosoph und Theologe Senthuran Varatharajah am Aschermittwoch die Künstlerrede in der St. Matthäus-Kirche am Kulturforum gehalten. Der Titel lautete "Im Herzen einer Ästhetik des Lesens" und Thema der Rede war die eigene Fluchterfahrung. "Wie aus dem Nichts; wie ein Mensch, nach zu langer Flucht; wie ein müder Odysseus, der, zehn Jahre zu spät, als Bettler unerkannt heimkehren konnte." Varatharajah wurde vor 40 Jahren in Jaffna auf Sri Lanka geboren. Viele Menschen in Deutschland haben auf ihrer Flucht traumatisierende Erfahrungen gemacht. Die Juden sind ja praktisch nach dem Krieg in ihr Heimatland geflüchtet. Das sehen die Palästinenser freilich anders. Letztlich ist dieses Phänomen ein koloniales Erbe mit allen seinen Folgen. Das macht es bis heute so kompliziert.

Von Roland Müller