NGL-Verband beschäftigt sich mit dem Umgang mit beschuldigten Künstlern

Musik von Missbrauchstätern: Wollen wir das wirklich noch singen?

Veröffentlicht am 07.03.2024 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Musik im Gottesdienst soll die frohe Botschaft mit verkünden. Doch was ist, wenn Künstler unter Missbrauchsverdacht stehen? Braucht es eine schwarze Liste belasteter Lieder? Was wird Betroffenen gerecht? Christliche Musiker haben dazu eine klare Meinung.

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Einst war "Laudato si" der Hit an jedem Lagerfeuer. Doch seit 2022 steht sein Schöpfer Winfried Pilz unter Missbrauchsverdacht. Pilz hat noch viele anderen geistliche Lieder geschrieben, auch im Gotteslob sind sie zu finden. Kann man seine Lieder und die anderer Beschuldigter noch fröhlich singen – oder bleiben sie im Hals stecken? Mit dieser Frage hat sich der "Verband für Christliche Popularmusik" auf der Tagung "Wes Lied ich sing" auseinandergesetzt. Im Interview mit katholisch.de berichten der Komponist Thomas Laubach und die Geistliche Begleiterin des Verbands Stefanie Lübbers über die Ergebnisse – und warum geistliche Musik nicht einfach von ihren belasteten Urhebern getrennt werden kann.

Frage: "Laudato si" ist immer noch ein beliebtes Lied, auch nach den Missbrauchsvorwürfen gegen Winfried Pilz. Wie reagieren Sie, wenn das Lied im Gottesdienst gesungen werden soll?

Laubach: So oft kommt das ja zum Glück gar nicht mehr vor. Wenn "Laudato si" aber doch in einem Gottesdienst ganz unbefangen gesungen wird, tue ich mir schwer damit. Das Lied ist mit dem, was wir heute wissen, ungeeignet für den gottesdienstlichen Kontext. Ein Gottesdienst stellt eine gewisse Zwangssituation dar: Gottesdienste besuche ich nicht wie Konzerte, wo ich wegen des Künstlers oder Künstlerin hingehe. Was an Musik gespielt wird, kann ich in der Regel vorher nicht absehen. Ich werde vielmehr bestimmten Inhalten ausgesetzt, und das Setting sieht nicht vor, dass ich aufstehe und protestiere. Sollte das Lied aber gespielt werden, würde ich hinterher mit den Verantwortlichen das Gespräch suchen.

Lübbers: Bei "Laudato si" denke ich eher ans Zeltlager, Singen am Lagerfeuer. Das ist eine Situation, wo ich nicht sofort eingreifen würde – aber auch nicht mitsingen. Hinterher würde ich die Verantwortlichen ansprechen, auf den Hintergrund des Liedes hinweisen, ohne die Leute vor den Kopf zu stoßen.

Stefanie Lübbers und Thomas Laubach
Bild: ©privat, Montage katholisch.de

Stefanie Lübbers ist Theologin, Bildungsreferentin in Haus Ohrbeck, Mitglied in der Kirchenmusikkommission des Bistums Osnabrück und Geistliche Begleiterin im Verband für Christliche Popularmusik in den Diözesen Deutschlands (VCPD). Thomas Laubach (Weißer) ist Professor für Theologische Ethik an der Universität Bamberg, Liedautor von u.a. "Da berühren sich Himmel und Erde". Der VCPD wurde 2022 gegründet und will die christliche Popularmusik in der Kirche stärken. Jährlich veranstaltet er die Überdiözesane Fachtagung Neues Geistliches Lied.

Frage: Für Sie beide ist klar, dass sich "Laudato si" nicht mehr unbefangen singen lässt. War das auch Konsens bei Ihrer Tagung?

Lübbers: Es ist jetzt nicht so, dass der Verband für Christliche Popularmusik eine schwarze Liste mit zehn Liedern beschließt, die nicht mehr gesungen werden dürfen. Es geht darum, eine Haltung zu entwickeln, die Situation einzuschätzen und dann verantwortlich zu handeln. Wir müssen ernst nehmen, dass Musik immer mit Emotionen zu tun hat. Mit Musik sind Erinnerungen verbunden – gute, aber möglicherweise auch sehr dunkle. Da ist es unsere Verantwortung, die Bedürfnisse von Betroffenen im Blick zu haben – dass sie nicht einfach in eine Liturgie kommen und mit Musik konfrontiert werden, die sie traumatisiert.

Laubach: Ich stelle mir dabei die Frage: In welcher Kirche will ich eigentlich leben? Was ist das für eine Kirche, in der Lieder oder Texte oder Kunstwerke von Menschen in den Gottesdienst integriert werden, deren Handeln dem Evangelium diametral entgegenstand? In der Auswahl der Kunstwerke, die wir liturgisch nutzen, zeigt sich, wie sich die Kirche selbst versteht, wie sich die Glaubensgemeinschaft selbst versteht.

Frage: Kunstwerk und Künstler trennen, wie es in säkularen Debatten vorgebracht wird, ist also kein Argument, das für Gottesdienste und geistliches Liedgut in Frage kommt?

Lübbers: Liturgie hat eine klare Aufgabe: Liturgie ist das Vergegenwärtigen und Feiern der Heilszusage Gottes. Das zu feiern mit einem Lied von jemandem, der Täter ist, geht nicht zusammen.

Laubach: Natürlich kann man darüber sprechen, Kunstwerk und Künstler zu unterscheiden. Das ist aber eher eine Frage dessen, was mit meiner Musik in der Rezeption geschieht: Ich denke als Komponist oder Texter vielleicht, dass ein Lied zu Hochzeiten passt, aber dann wird es gerne für Beerdigungen genommen – das habe ich nicht mehr in der Hand, wenn ich meine Werke in die Öffentlichkeit stelle. Mit dem Argument der Trennung kann man aber Musik von belasteten Künstlern nicht reinwaschen: Wir schreiben selbstverständlich die Namen der Urheberinnen und Urheber aufs Liedblatt, diese Verbindung ist immer da. Auch materiell: An die Urheber oder ihre Erben fließen die Tantiemen.

Frage: Bei Winfried Pilz ist das das Kindermissionswerk "Die Sternsinger".

Laubach: Ja, die Sternsinger haben heute alle Rechte an den Werken von Pilz, auch "Laudato si". Dort hat man einen guten Umgang damit gefunden: Sie veröffentlichen das Lied selbst nicht mehr, und die Tantiemen, die durch die Verwendung durch andere eingehen, werden für Kinderschutzprojekte verwendet. Das ist ein klares Zeichen, wie Erben Verantwortung übernehmen können. Das Urheberrecht besteht 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers, der Urheberin. Aus dieser Perspektive habe ich im Nachgang unserer Tagung den Vorschlag gemacht, diese Frist zu übernehmen: 70 Jahre Pause für die Musik von aus heutiger Sicht belasteter Künstler, dann bewertet man neu.

Frage: Herr Laubach, Winfried Pilz hat für Ihren Liedruf "Du bist das Brot, das den Hunger stillt" Strophen geschrieben, beides ist im Gotteslob. Wie gehen Sie persönlich damit um?

Laubach: Ich plädiere dafür, dass in einer Neuauflage des Gotteslobs die Strophen von Winfried Pilz entfernt werden. Ursprünglich gab es nur den Liedruf. Der war für die Gabenbereitung gedacht. Die weiteren Strophen kamen später hinzu. Insofern können diese Strophen auch problemlos gestrichen werden.

Franz von Assisi bei der Vogelpredigt
Bild: ©KNA

Der Text von "Laudato si" geht auf den heiligen Franz von Assisi zurück.

Frage: Unter Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern wird man kaum auf die Idee kommen, "Laudato si" auf einen Gottesdienstablauf zu schreiben, schon weil das Lied schon vor dem Bekanntwerden der Vorwürfe unter Profis nicht sonderlich beliebt war. Viele verbinden aber aus ihrer Jugendzeit Gutes mit dem Lied und wollen es zum Beispiel bei Taufen oder Hochzeiten singen. Wie geht man damit um?

Lübbers: Das sind immer Einzelfallentscheidungen. Meine Erfahrung ist, dass Leute selbst sehr offen sind, andere Musik zu wählen. Die emotionale Verbindung mit Abenden in der Jugendzeit am Lagerfeuer gibt es, und vielleicht kommt man auf dieses Lied auch deshalb, weil man sich von der Kirche etwas entfernt hat und einfach kein großes Repertoire an geistlichen Liedern kennt. "Laudato si" ist schon länger unbeliebt, das stimmt, das liegt an der musikalischen Qualität – und da fährt man bei der Vorbereitung von Hochzeitsgottesdiensten sehr gut, wenn man Alternativen aufzeigt. Abends bei der Party legt man ja auch die Musik auf, die in der heutigen Situation passt, und macht nicht Kinderdisco mit Rolf Zuckowski.

Laubach: Es geht nicht darum vorzuschreiben, dass man etwas nicht mehr singen darf. Ich möchte das umdrehen und fragen: Wollt ihr bei eurer Taufe oder eurer Hochzeit Lieder singen von jemandem, der seine Macht, seine Position, sein Charisma gegenüber jungen Männern ausgenutzt hat? Es geht darum, den Menschen gegenüber transparent machen, dass es Vorwürfe oder erwiesene Taten gibt. Dann können sich Glaubende entscheiden, wie sie damit umgehen wollen.

Frage: In Passau hat das Bistum nach den Enthüllungen gegen Pater Norbert Weber schnell und deutlich reagiert und angekündigt, seine Kompositionen aus dem Eigenteil des Gotteslobs zu entfernen. In Köln gibt es noch keine klaren Vorgaben der Erzdiözese mit Blick auf die Werke von Winfried Pilz. Was ist da das richtige Vorgehen? Was soll ein Bistum, was soll ein Bischof tun?

Laubach: Der Ruf nach Entscheidungen von oben ist oft etwas wohlfeil. Wo man gerne selber die Dinge regeln will, pocht man auf Eigenständigkeit und sagt, der Bischof soll sich raushalten, aber bei unangenehmen Sachverhalten ruft man schnell nach einem Machtwort. Wir als Kirchenmusikerinnen und -musiker stehen selbst in der Pflicht, auf allen Ebenen. In Passau hat zum Beispiel der Diözesanmusikdirektor Alternativen zu den Werken von Weber aufgezeigt: Wenn ihr eigentlich gerne diesen Liedruf von Weber verwendet hättet, ist dieser hier eine gute Alternative.

„Offen sein für Neues, gemeinsam nach neuen Worten suchen.“

—  Zitat: Stefanie Lübbers

Frage: Oft sind Vorwürfe verjährt oder Beschuldigte ohne juristische Klärung der Vorwürfe verstorben. Im Fall Pilz war es so: Es gab glaubwürdige Vorwürfe von einem Betroffenen, aber erst nach dem Tod des Beschuldigten. Wie geht man mit dieser Ungewissheit um?

Laubach: Winfried Pilz ist kein verurteilter Täter im juristischen Sinn. Wir wissen aber aus den Schilderungen, wie Pilz Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt hat. Wir können nicht postum ein Urteil nachholen. Wir müssen uns aber zu den Vorwürfen verhalten. Das gilt auch bei noch lebenden Tätern. In Frankreich gibt es aktuell den Fall des Dominikaners André Gouzes, dem Missbrauch vorgeworfen wird. Natürlich gilt für ihn die Unschuldsvermutung. Das heißt aber nicht, dass man nicht auf die Vorwürfe reagieren kann und muss. Sein Verlag hat sich entschieden, bis zur Klärung der Vorwürfe nichts mehr von ihm zu verkaufen. Bei alledem muss man die Betroffenen in den Blick nehmen und sofort handeln, auch wenn Beschuldigte nicht oder noch nicht rechtskräftig verurteilt sind.

Lübbers: Für Betroffene ist dieser Zwischenraum zwischen Vorwurf und Urteil eine große Belastung, wenn sich Verantwortliche formaljuristisch darauf zurückziehen und nichts tun. Da ist es leider in der Vergangenheit häufiger vorgekommen, dass man Betroffene in diesem Schwebezustand allein gelassen hat mit dem Verweis auf noch nicht abgeschlossene Verfahren. Da wäre es wichtig, Beschuldigte erst einmal aus ihren Tätigkeiten abzuziehen, und bei beschuldigten Künstlern eben erst einmal auf ihre Lieder zu verzichten.

Frage: … und nimmt dann in Kauf, dass man ein geschätztes Lied verliert.

Lübbers: Ja, das ist dann auch mit Verlusterfahrungen verbunden, wenn ein geschätztes Lied zu einem belasteten wird. Das muss man anerkennen und kann es produktiv machen: Offen sein für Neues, gemeinsam nach neuen Worten suchen.

Laubach: Glaube hat viel mit Verlusterfahrungen zu tun – das beginnt schon mit dem Verlust des Kinderglaubens. Es gehört zum Glauben, diesen immer wieder zu revidieren. Und das gilt auch für seine Ausdrucksformen. Aber ich möchte auch betonen: Dabei kann man auch wachsen. Oftmals verliert man nicht nur einen Teil des Glaubens, man gewinnt auch Neues. Das Gewinnen würde ich da stärker in den Mittelpunkt stellen als der Verlust von möglicherweise liebgewonnenem Liedgut: Wir stellen uns den Ambivalenzen unserer Kirche als einer Institution, in der es Missbrauch gibt, und unserer Rolle darin. Wir reflektieren unseren Umgang mit Betroffenen und richten unser Handeln nach ihnen aus, auch in der Musik.

Von Felix Neumann