Betroffene müssten ihre Geschichten selbst erzählen

Präventionsbeauftragter: Brauchen bei Missbrauch andere Gedenkkultur

Veröffentlicht am 24.05.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 
Präventionsbeauftragter: Brauchen bei Missbrauch andere Gedenkkultur
Bild: © Privat

Hildesheim ‐ Missbrauch sei Teil der Bistumsgeschichte, sagt der Hildesheimer Präventionsbeauftragte Martin Richter im katholisch.de-Interview. Er spricht über die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe zur Erinnerungskultur und über Pfarreien, die blockieren.

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Die Frage nach dem Umgang mit Missbrauch beschäftigt die ganze Kirche in Deutschland. Im Bistum Hildesheim hat sich eine Arbeitsgruppe nun damit beschäftigt, wie eine Erinnerungskultur an Missbrauchstaten aussehen könnte. Dieses Konzept wurde nun im Bistum vorgestellt. Martin Richter leitet die Stabsabteilung Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Im Interview spricht er über das Konzept und seine Aufnahme.

Frage: Herr Richter, welche Ideen gibt es zur Erinnerung an Missbrauch in der Kirche?

Richter: Eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus dem Bistum, der Wissenschaft und Betroffenen hat sich unterschiedliche Module dafür überlegt. Denn Betroffene haben uns gesagt, dass verschiedene Angebote an verschiedenen Orten nötig sind, um möglichst viele Menschen zu erreichen – auch die, die sakrale Räume aufgrund traumatischer Erfahrungen nicht mehr betreten. Deshalb haben wir unterschiedliche Bausteine entwickelt. Der eine ist eine Kick-Off-Veranstaltung, bei der vor der kirchlichen Öffentlichkeit die generelle Haltung zum Thema Missbrauch klar gemacht wird. Ein weiterer Punkt sind Mahnmale, die zentral vor dem Hildesheimer Dom, aber auch in betroffenen Gemeinden aufgestellt werden sollen. Da wäre es zum Beispiel möglich, von einem Mahnmal eine große und mehrere kleine Versionen produzieren zu lassen. Diese Mahnmale können dann aber nicht installiert werden, ohne den Kontext deutlich zu machen. Da braucht es Gesprächsformate, damit Gemeinden mitgenommen und informiert werden.

Frage: Gibt es noch weitere Komponenten?

Richter: Dazu gehört eine Wanderausstellung, in der Betroffene durch Fotos und Texte von ihrem Leid berichten. Damit in Verbindung steht auch, über eine Aktion im Dommuseum nachzudenken. Das Bistum Hildesheim blickt auf über 1.200 Jahre Geschichte mit Licht und Schatten. Zu Letzterem gehören die Verbrechen der sexualisierten Gewalt. Dazu kommt ein Nachdenken über Begriffe: Wen nennen wir einen Täter, wen einen Verdächtigen? Welche Jubiläen oder Gedenktage von Priestern und Bischöfen feiern wird noch? Wer darf Titel behalten, wem erkennen wir sie ab? Da spielt auch die Bischofsgrablege eine Rolle. Denn gegen Bischof Heinrich Maria Janssen (im Amt 1957-1982) gibt es erhebliche Vorwürfe, die zu der Forderung einer Umbettung führen. All das muss nun diskutiert werden.

Frage: Sie haben bereits von einer Kick-Off-Veranstaltung gesprochen. Ist das angesichts der schon seit Jahren laufenden Missbrauchsaufarbeitung nicht viel zu spät? Und wo ist der Unterschied zwischen Aufarbeitung und Gedenken?

Richter: Die Aufarbeitung ist ein Prozess, den das Bistum Hildesheim betreiben muss. Es wird keinen Endpunkt geben, auch wenn es Stimmen gibt, die sich das wünschen. Es geht darum, sich immer wieder zu erinnern und zu reflektieren. Das alles soll nicht rückwärtsgewandt, sondern auf die Zukunft gerichtet sein. Was lernen wir aus der Geschichte? Darum geht es. Deshalb wollen wir möglichst viele Menschen in Bistum, Gemeinden und Einrichtungen mitnehmen und mit ihnen besprechen, wie Erinnerung funktionieren könnte.

Hildesheimer Dom
Bild: ©stock.adobe.com/ Veronika

Der Hildesheimer Dom ist der Mittelpunkt der Diözese.

Frage: Ist das nicht auch ein Eingeständnis, dass die bisherige Aufarbeitung sehr mangelhaft war? Man kann ja nur etwas gedenken, wenn ausreichend vorher aufgearbeitet wurde. Beim Blick auf das Konzeptpapier drängt sich die Einsicht auf, dass das zu wenig geschehen ist.

Richter: Seit spätestens 2011 fragen wir hier im Bistum Hildesheim, wie Missbrauch hätte verhindert werden können. Im Herbst 2021 wurde die neue Stabsabteilung Prävention, Intervention und Aufarbeitung eingerichtet, wurden strukturelle Veränderungen eingeführt, um das Bewusstsein zu schärfen. Da war die Frage nach der Aufarbeitung immer schon mit drin. Natürlich war und ist das aus der Perspektive der Betroffenen alles viel zu spät. Aber jetzt hat unsere Arbeit durch die vielen Studien Hand und Fuß, eine Grundlage. Darin stecken mehrere Möglichkeiten, Modulbausteine aufzugleisen und aktiv zu werden.

Frage: Ein anderer Punkt sind die angedachten Mahnmale. Aus der Erfahrung des Gedenkens etwa an den Holocaust oder dem Unrecht in der DDR wird klar, dass das Aufstellen von Mahnmalen auch schnell zu einer entleerten, ritualisierten Gedenkkalenderkultur führen kann. Wie wollen Sie das verhindern?

Richter: Das wird eine große Herausforderung, nicht zuletzt deshalb, weil es Gemeinden gibt, die sich dem Thema nicht annähern mögen, weil sie es belastend finden oder es schon so lange her ist. Wir brauchen eine andere Kultur im Bistum in dieser Frage. Das ist Teil unserer Bistumsgeschichte und damit auch jeder Pfarrei – selbst dann, wenn es dort nicht zu Taten gekommen ist. Uns ist klar, dass viele Betroffene schon hochbetagt und gesundheitlich angeschlagen sind. Deswegen zeichnen wir ihre Stimmen auf, manchmal auch als Videos. So können sie selbst ihre Geschichten erzählen, auch für die Zukunft.

Frage: Was machen Sie denn mit Gemeinden, die sich dem Gedenken verweigern?

Richter: Dieses Gedenken und Erinnern kann nur funktionieren, wenn es nicht verordnet wird, sondern es als Impuls aus der Gemeinde herauskommt. Wenn es diesen Impuls nicht gibt, dann kann man versuchen zu überzeugen und zu motivieren. Aber man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass es Gemeinden gibt, die sich dieser Herausforderung nicht stellen. Für die Betroffenen ist die Konzeption dieser Bausteine auch ein Empowerment. Wir haben noch nicht darüber gesprochen, wie wir mit Ablehnung umgehen – aber Fragen wie diese stellen sich immer. Am Ende geht es darum, wie wir heute und in Zukunft Kirche sein wollen.

„Das Interesse der Öffentlichkeit ist sehr groß, wie sich die Kirche in diesen Fragen aufstellt.“

—  Zitat: Martin Richter

Frage: Steht denn in erster Linie die kirchliche Öffentlichkeit im Fokus oder wollen Sie auch in die Gesamtgesellschaft hineinwirken?

Richter: Ziel sind erstmal unsere Katholikinnen und Katholiken, aber natürlich auch die breite Öffentlichkeit, die wir darüber informieren wollen. Das Interesse der Öffentlichkeit ist sehr groß, wie sich die Kirche in diesen Fragen aufstellt.

Frage: Wie hat sich die Arbeit in den Gruppen gestaltet?

Richter: Als Arbeitsgruppe aus Betroffenen, Bistumsvertretern und Personen aus der Wissenschaft haben wir das Konzept erarbeitet. Nach einigen Beratungsschleifen im Bistum und mit externen Beratern haben wir Menschen aus dem Bistum eingeladen, im Rahmen von Foren daran mitzudenken. Zwei digitale Foren waren gut besucht, aus interessierten Bistumsmitgliedern, aber auch weiteren Betroffenen oder Mitarbeitenden in der Pastoral in der Fläche, darunter auch Priester. In den Foren ging es uns darum, Stimmen einzuholen und an eine Priorisierung zu gehen. Dabei wurden uns manchmal auch noch wertvolle Impulse gegeben – etwa, dass die Galerie der Bischöfe im Bischofshaus direkt am Eingang hängt. Wenn Betroffene dorthin kommen, sehen sie die direkt, das kann traumatisierend wirken. Deshalb werden diese Bilder künftig nicht mehr im Eingangsbereich zu sehen sein.

Frage: Was hatten Sie für einen Eindruck, wie ist das Konzept angekommen?

Richter: Das ist sehr gut angekommen. Natürlich gibt es immer die Kritik, dass das viel zu spät und viel zu wenig ist. Das ist für uns immer eine Herausforderung, aber es zeigt uns auch, dass unser Anliegen an der richtigen Stelle ankommt. Immer wieder wurde die Grablege der Bischöfe angesprochen, das bewegt die Betroffenen gerade am meisten. Da spüren wir den Druck, dass das Bistum Hildesheim eine Entscheidung trifft. Dazu kommt aber auch eine klare Haltung der Bistumsleitung, die sich auf das Konzept sofort zurückgemeldet hat, sich bedankt hat und gesagt hat, wir wollen mit der Arbeitsgruppe ins Gespräch kommen. Ich bin also zuversichtlich, dass es unser Konzept in die Umsetzung schafft.

Von Christoph Paul Hartmann