"Sensus fidelium": Athanasius und seine Zeit als Wegweisung für heute
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Lehrmäßige Geschlossenheit und weltkirchliche Einheitlichkeit ist eine gern beschworene Fiktion, wenn nicht gar eine manipulative Lüge. Der heutige Gedenktag des heiligen Athanasius von Alexandrien (ca. 300 – 373) liefert dazu ein treffliches Exempel. Es war alles andere als ausgemacht, dass er später als Kirchenvater erinnert wird, denn es war ebenso alles andere als ausgemacht, dass die 325 von Kaiser Konstantin einberufene Kirchenversammlung in Nizäa (dem heutigen Iznik) heute als das erste Ökumenische Konzil zählt. Das dort formulierte (trinitarische) Glaubensbekenntnis ist bis heute in Geltung, obwohl es in den Jahrzehnten danach höchst umstritten war. Zahlreiche Kirchenversammlungen mit gegenseitigen Verurteilungen und heftige Anfeindungen der Bischöfe untereinander, deren verwirrende Gemengelage auch versierte Expert*innen ins Trudeln geraten lassen, belegen alles – nur nicht eine Lehrautorität der Bischöfe. Angesichts dieser mit harten Bandagen ausgetragen Streitigkeiten muten die gegenwärtigen episkopalen Dissense geradezu harmonisch an, auch wenn sie die entscheidende Frage aufwerfen, wem im Kirchenvolk eigentlich Autorität zukommt.
Es waren zur Zeit des Athanasius sicherlich nicht die kirchlichen Amtsträger, es waren auch nicht die staatlichen Autoritäten und es waren auch nicht die subtilen Argumente der theologischen Zunft, die auch heute noch die Fachwelt eher verwirren dürfte – und das Gros der Gläubigen nicht interessierte. Was interessierte, war die Kernsubstanz des Glaubens, dass Gott als "für uns Menschen und zu unserem Heil" entschieden ist, dass er sich als er selbst uns zuwendet – und nicht mittels eines Mittlers, der nur "ein bisschen Gott" ist. Und in der Tat: Es war das Kirchenvolk, nicht die episkopalen Autoritäten, dem die entscheidende Rolle zukam, indem die Gläubigen sich als Souverän erwiesen.
In den 1860er Jahren publizierte der 2019 heiliggesprochene John Henry Newman nicht zuletzt im Blick auf die Zeit des Athanasius einen wegweisenden Artikel: "Über das Zeugnis der Laien in Fragen der Glaubenslehre". Belehrt durch die geschichtlichen Fakten steht für ihn fest, dass "die der unfehlbaren Kirche anvertraute göttliche Tradition weit mehr durch die Gläubigen als durch den Episkopat verkündet und aufrechterhalten wurde". Der hier angesprochen "sensus fidelium" mag weit gefächert sein, doch dürften im Kern die Gläubigen hinsichtlich der Gegenwartstauglichkeit der Kirche den Lehrämtlern dergestalt den Spiegel vorhalten, dass sie mit den Füßen abstimmen. Deswegen: Episkopen, die Geschichte ist Lehrmeisterin!
Der Autor
Oliver Wintzek ist Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Katholischen Hochschule in Mainz. Zugleich ist er als Kooperator an der Jesuitenkirche in Mannheim tätig.
Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.