"Du" oder "Sie"? Von Chancen und Risiken in der Pastoral

Klerikale Kumpanei: Wenn Priester selbstverständlich duzen

Veröffentlicht am 03.05.2024 um 00:01 Uhr – Von Philipp Müller – Lesedauer: 
Gastbeitrag

Mainz ‐ In kaum einer Institution spielen Titel in der Anrede eine so wichtige Rolle wie in der Kirche. Doch Priester sind schnell beim "Du" – ob untereinander oder gegenüber ihrer Gemeinde. Der Mainzer Pastoraltheologe Philipp Müller findet das bedenklich und warnt vor übergriffigem Verhalten.

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Vor einiger Zeit habe ich eine Woche in einer klösterlichen Gemeinschaft verbracht. Dort bestand die Möglichkeit, täglich frühmorgens die Eucharistie zu feiern. Auch ein anderer Priester war dort. Nachdem wir uns bekannt gemacht hatten, fing er selbstverständlich an, mich zu duzen. Wenn er gefragt hätte, ob ich mit dem Du einverstanden sei, dann hätte ich mein Okay gegeben. So empfand ich sein Verhalten als distanzlos und blieb beim Sie, während er mich weiter duzte. Zwei, drei Tage lang ging das so. Schließlich habe ich mein Unbehagen in einem freundlichen Ton artikuliert und gesagt, in meinem beruflichen Umfeld sei das selbstverständliche Du nicht üblich; wenn er wolle, könne er mich weiterhin duzen, während ich lieber beim Sie bleibe. Dabei hatte ich nicht den Eindruck, dass er mit meiner Sichtweise etwas anfangen konnte. Für ihn schien das Duzen unter Priestern ein Ausdruck von Mitbrüderlichkeit und damit ein legitimes Recht zu sein.

In unserer Gesellschaft ist man heute schneller beim Du als in früheren Generationen. Wer da nicht mitmacht, gilt schnell als arrogant. Mittlerweile werden in trendigen Restaurants oder bei manchem Frisör die Gäste und Kunden ungefragt mit Du angesprochen. In Berufen mit flachen Hierarchien ist das Du eine Selbstverständlichkeit. Es verringert die Barrieren und stärkt den Teamgeist. So gehört es zur Unternehmensphilosophie einer großen schwedischen Möbelkette, dass sich dort die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aller Hierarchieebenen duzen; das liegt daran, dass in Schweden seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in der gesamten Gesellschaft geduzt wird. In der direkten Kundenansprache ist man beim Sie geblieben, nicht jedoch in Werbeanzeigen, in denen das Du sehr offensiv eingesetzt wird.

Professor Philipp Müller
Bild: ©KNA/Harald Oppitz - Montage: katholisch.de

Philipp Müller ist Priester des Erzbistums Freiburg. Er lehrt Pastoraltheologie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und ist Spiritual am Mainzer Priesterseminar.

Ansonsten ist das Du oder Sie auch eine Generationenfrage. Das ungefragte Du erleben fast 70 Prozent der 70-jährigen und Älteren als übergriffig, aber nur 22 Prozent der 20-29-jährigen. Was den beruflichen Kontext angeht, ist unter Frauen die Quote derjenigen, die das Sie unter Kollegen bevorzugen, höher als unter Männern. Das Du oder Sie wirkt sich auch auf die Konfliktkultur aus: Eine fehlende Distanz, die das Du mit sich bringt, verleitet eher zu persönlichen Angriffen als das Sie. Neben einem "Du" oder "Sie" gibt es auch noch das "Hamburger-Sie", bei dem man sich zwar mit Vornamen anredet, aber beim respektvollen Sie bleibt.

Und wie sieht es in der Kirche aus? Anders als das bereits erwähnte schwedische Möbelhaus mit seinen egalitären Umgangsformen handelt es sich bei der Kirche um eine hierarchische Gemeinschaft. Zwar werden die Gläubigen in der Liturgie als Brüder und Schwestern angeredet, aber in kaum einer Institution spielen Titel in der Anrede eine so wichtige Rolle wie in der katholischen Kirche. Was überhaupt nicht geht, aber in einer Fortbildung für unterschiedliche pastorale Berufe geschehen ist: Ein Priester stellt sich als Pfarrer XY vor und erwartet von den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, gesiezt und mit Herr Pfarrer angeredet zu werden, während er selbst die anderen duzt und mit Vornamen anspricht. Grundsätzlich ist darüber nachzudenken, wie es auf die Mitarbeitenden in der Seelsorge wirkt, wenn etwa bei Dekanatskonferenzen die Priester untereinander und vielleicht auch mit Verantwortlichen der Bistumsleitung scheinbar selbstverständlich per Du sind, aber mit den anderen pastoralen Berufen per Sie.

„Grundsätzlich ist darüber nachzudenken, wie es auf die Mitarbeitenden in der Seelsorge wirkt, wenn etwa bei Dekanatskonferenzen die Priester untereinander und vielleicht auch mit Verantwortlichen der Bistumsleitung scheinbar selbstverständlich per Du sind, aber mit den anderen pastoralen Berufen per Sie.“

—  Zitat: Philipp Müller

Das Zweite Vatikanische Konzil spricht davon, dass die Priester, vornehmlich derselben Diözese und damit eines Presbyteriums, "in inniger sakramentaler Bruderschaft miteinander verbunden" sind (Presbyterorum ordinis 8). Der Priesterausbildung fällt die Aufgabe zu, die Seminaristen zu einer guten und stilvollen Form der Mitbrüderlichkeit heranzuführen, in der man wohlwollend miteinander umgeht und einander zu unterstützen bereit ist. Dieser Anspruch ist heute aktueller denn je, da mittlerweile ein beachtlicher Teil von Priestern aus anderen Ländern und Kontinenten bei uns seinen Dienst tut. Freilich darf dieser Anspruch von Mitbrüderlichkeit keine Art von Korpsgeist unter Priestern fördern, der auf dem Hintergrund des Missbrauchsskandals kritisch als klerikale Kumpanei einzuordnen wäre. Denn bei der Suche nach den systemischen Ursachen des Missbrauchs in der Kirche ist man auch auf männerbündische Strukturen gestoßen. Das selbstverständliche Duzen unter Klerikern, durch das sich Priester und Diakone von anderen in der Pastoral Engagierten bewusst abheben, kann hierfür ein Symptom sein. Mancher Übergriff und manches Verbrechen wären ohne männerbündische Seilschaften vermutlich nicht geschehen; oder es wäre eher aufgedeckt worden und hätte dem ein oder anderen Opfer großes Leid erspart.

Lehren aus dem Missbrauchsskandal

Aus dem Missbrauchsskandal lässt sich außerdem lernen, dass es für jeden und jede wichtig ist, auf die eigene Befindlichkeit zu achten und gegebenenfalls ein gefühltes Unbehagen ins Wort zu bringen. Signalisiert hier jemand, das Du als unangenehm oder gar als vereinnahmend und übergriffig zu empfinden, sollte das vom Gegenüber respektiert werden. Das Du kann zu einer größeren Nähe und Verbindlichkeit beitragen, ist aber hierfür keine Garantie. Sind Spannungen oder Konflikte im Raum, verleitet das automatische Du leichter zu Verletzungen, die einen umso tiefer treffen, je mehr sie unter dem Mäntelchen einer vermeintlichen Mitbrüderlichkeit firmieren. Manchmal ist ein gutes Sie besser als ein schlechtes Du. In einer apostolisch tätigen Ordensgemeinschaft in Paris, in der ich einige Zeit mitlebte, redeten sich die Patres mit Père und Vornamen an, blieben aber beim respektvollen "Vous", ohne dass dies dem gegenseitigen Wohlwollen geschadet hätte.

Das gegenseitige Du ergibt dann Sinn, wenn es für beide Seiten stimmig ist. Sich hierüber gut zu verständigen, gilt auch für die Priester. Denn die meisten von ihnen verstehen sich zutiefst als Seelsorger, und in seelsorglichen Begegnungen tragen sie Verantwortung dafür, dass ihr Gegenüber Respekt erfährt, die Freiheit des anderen gewahrt bleibt und das Nähe-Distanz-Verhältnis für beide Seiten stimmt. Was für den seelsorglichen Umgang mit anderen gilt, trifft auch auf den Umgang der Priester untereinander zu: Dieser sollte von einer Haltung der Behutsamkeit und des Respekts geprägt sein, in der das Verhältnis von Nähe und Distanz jeweils stimmig austariert werden kann. An der Frage, ob man zum vertraulichen Du wechselt oder lieber beim respektvollen Sie bleibt, wird das konkret.

Von Philipp Müller