Maßnahmen der Regierung beeinträchtigen Religionsfreiheit in der Ukraine

Die ukrainische Kirchenpolitik – auf Abwegen

Veröffentlicht am 04.05.2024 um 12:00 Uhr – Von Thomas Bremer – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die "Ukrainische Orthodoxe Kirche" wird von der Regierung des Landes massiv benachteiligt und gegängelt. Warum Präsident Selenski gegen die ehemals zu Moskau gehörende Kirche vorgeht und was das Problem dabei ist, erklärt Ostkirchenkundler Thomas Bremer in seinem Gastbeitrag.

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Am 12. April 2024 wurde das Privathaus des ukrainischen orthodoxen Priesters Mykolaj Danylewytsch vom Geheimdienst des Landes, dem SBU, durchsucht. Die Beamten beschlagnahmten das Telefon und den Computer des Geistlichen, zogen seinen Pass ein und beschuldigten ihn der Diskriminierung auf religiöser Grundlage sowie der Verherrlichung des russischen Angriffs.

Mykolaj Danylewytsch gehört der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) an, der von den Behörden vorgeworfen wird, eine russische Propagandaorganisation zu sein. Die Kirche hat sich jedoch in allen offiziellen Statements gegen den russischen Angriff ausgesprochen und sich im Mai 2022 von der russischen Kirche gelöst, zu der sie bis dahin gehört hatte. Staatlicherseits wird ihr diese Trennung aber nicht geglaubt, und seit Herbst 2022 haben sich die staatlichen Maßnahmen gegen die UOK intensiviert: Durchsuchungen und Strafverfahren gegen Personen, Entzug von Kirchengebäuden oder Auflösung von Gemeinden. Das ukrainische Parlament berät momentan ein Gesetz, das es ermöglichen soll, die Kirche ganz zu verbieten.

In der UOK hat Danylewytsch zwei wichtige Funktionen: Er ist stellvertretender Leiter des "Außenamts", das für zwischenkirchliche Beziehungen zuständig ist, und er koordiniert die Arbeit der Gemeinden im Ausland – nach der Trennung von der russischen Orthodoxie hat die UOK damit begonnen, ein Netz von inzwischen etwa 100 Gemeinden aufzubauen, um vor allem die Flüchtlinge geistlich zu versorgen.

Danylewytsch kritisierte Gesetz als Problem für Religionsfreiheit

In den Tagen vor der Hausdurchsuchung hatte eine Delegation der "Konferenz Europäischer Kirchen" (KEK) die Ukraine besucht. Danylewytsch nahm an einer Begegnung der Delegation mit dem ukrainischen Kirchenrat und an einem Gespräch mit einem UOK-Bischof teil; dabei benannte er das besagte Gesetz als Problem für die Religionsfreiheit in der Ukraine.

Offensichtlich waren die Arbeit mit den Auslandsgemeinden und die Thematisierung des Gesetzentwurfs gegenüber ausländischen Vertretern der Grund dafür, dass der SBU kurz darauf gegen Danylewytsch vorging. In der Presseerklärung des Geheimdienstes war zu lesen, dass Danylewytsch in seinem Telegram-Account zum Gebet für die russischen Okkupanten aufgerufen und russische Propaganda verbreitet habe. Die von ihm organisierten Auslandsgemeinden, so heißt es in sowjetischer Diktion, "verbreiten unter dem Vorwand der angeblichen spirituellen Sorge für ukrainische Migranten die Propagandanarrative Russlands". So habe Danylewytsch versucht, "unser Land in der internationalen Arena zu diskreditieren".

Doch was hat er gepostet? Die vom SBU genannten Begriffe kommen in seinem Telegram-Account nicht vor; vielmehr rief er zu Gebeten für die ukrainischen Soldaten auf. Den Zusammenhang mit den Okkupanten hat der SBU offenbar erfunden. Am Tag des russischen Überfalls, am 24. Februar 2022, postete Danylewytsch um 5 Uhr: "Putin hat wortbrüchig unser Land angegriffen! Wir segnen alle für die Verteidigung der Ukraine! Lasst uns beten und verteidigen! Die Kirche ist mit dem Volk! Gott, schütze die Ukraine!" Auch die zahlreichen späteren Posts lassen nichts erkennen, was russische Propaganda wäre.

Bild: ©KNA/Andrey Lomakin

Zwischen den beiden großen orthodoxen Kirchen in der Ukraine herrscht eine große Rivalität.

Danylewytsch kritisiert aber die Maßnahmen der Regierung, die gegen die UOK gerichtet sind, und die (zuweilen gewaltsamen) Übernahmen von Gemeinden der UOK durch die konkurrierende "Orthodoxe Kirche der Ukraine" (OKU). Die Bischöfe beider Kirchen überziehen sich gegenseitig mit Vorwürfen und Beschimpfungen – angesichts dessen bleibt die Diktion von Danylewytsch geradezu ungewöhnlich sachlich. Er setzt die andere Kirche nicht herab, und selbst wenn er konkrete Aktionen kritisiert, mahnt er immer zur Einheit, die die Ukraine gerade jetzt brauche. Bis zur Hauptverhandlung wurden Meldeauflagen gegen ihn verhängt; er darf nicht mehr ins Ausland reisen, was ihm die Betreuung der dortigen Kirchengemeinden erschwert.

Diese Ereignisse stehen in einer Reihe mit anderen Aktionen der ukrainischen Behörden gegen die UOK. Unter Präsident Petro Poroschenko wurde 2018 mit kräftiger Unterstützung des Staates die OKU gegründet. Präsident Selenski, Poroschenkos Nachfolger, hat sich zunächst nicht für Religionsfragen interessiert; nach seiner Wahl nahmen die Maßnahmen dann auch ab – dazu gehörte vor allem die Umregistrierung von UOK-Gemeinden zu solchen der OKU. Einige Monate nach dem Beginn des russischen Großangriffs jedoch änderte sich die ukrainische Religionspolitik.

Übernahmen von Kirchengemeinden sind großer Streitpunkt

Einige wichtige Posten im Regierungsapparat wurden neu besetzt, und die UOK wurde zum Objekt massiver Maßnahmen. Hunderte Durchsuchungen wurden durch den Geheimdienst bei Priestern, Bischöfen und in Klöstern durchgeführt, doch wurden lediglich 73 Verfahren eröffnet, von denen nur 22 zu Verurteilungen geführt haben – angesichts der Zahl von etwa 8.000 Klerikern der UOK eine eher kleine Zahl. Neben dem genannten Gesetz gibt es zahlreiche andere Initiativen, wonach etwa die UOK ihren Namen ändern (und sich "russisch" nennen) müsste, oder ein Gesetz, das ihr den Zugang zur Militärseelsorge verwehrt, obwohl viele Soldaten an der Front der UOK angehören. Der Hohe Kommissar der UN für Menschenrechte, Volker Türk, hat sich in seinen Berichten über die Ukraine mehrfach besorgt über die Bedrohung der Religionsfreiheit gezeigt (und zugleich mit Recht darauf hingewiesen, dass es in den russisch besetzten Gebieten überhaupt keine Religionsfreiheit gibt).

Ein großer Streitpunkt sind die Übernahmen von Kirchen. Die dazu nötigen Abstimmungen der Gemeindemitglieder sind häufig intransparent. Oft werden die Transfers von den lokalen Behörden organisiert, obwohl nur Gemeindemitglieder das Recht haben, solche Versammlungen einzuberufen. In einer Reihe von Fällen haben Stadt- oder Gemeinderäte einfach beschlossen, dass die Tätigkeit der UOK auf ihrem Gebiet verboten ist. Das widerspricht der Verfassung des Landes, weil Kommunalorgane dafür nicht zuständig sind, wird aber nicht beanstandet. Nicht selten kommt es zu Gewaltakten, bei denen die UOK-Gemeinde aus ihrer Kirche vertrieben wird, die dann der OKU zugesprochen und auf ihren Namen offiziell registriert wird. Es gibt zahlreiche Videos, in denen zu sehen ist, dass die Polizei anwesend ist, aber nicht eingreift. Wenn Vertreter der UOK sich öffentlich gegen solche Akte äußern oder die Legitimität der OKU bezweifeln, werden gegen sie oft Verfahren wegen "Anstachelung interreligiösen Hasses" eröffnet.

Es ist unbestritten, dass es in der UOK Kollaborateure mit den russischen Angreifern bzw. Besatzern gab und gibt. Zudem verhält sich die Kirchenleitung oft ungeschickt und ambivalent. Doch waren alle ihre offiziellen Äußerungen von Anfang an sehr klar gegen den russischen Großangriff gerichtet. Die Behörden verfolgen die Individuen (und das ukrainische Recht hält dazu alle Mittel bereit), doch darüber hinaus wird auch die Kirche, der sie angehören, als Ganze diffamiert. Die Religionsbehörde, die es in sowjetischer Tradition in der Ukraine gibt, begründet die Maßnahmen mit einem Gutachten, das sie hat erstellen lassen. Es kommt zu dem Ergebnis, dass die UOK nach wie vor Teil der russischen Orthodoxie ist. Doch hatten sich die Experten, die von derselben Behörde zur Erstellung des Gutachtens ausgesucht wurden, schon vorher für ein Verbot der UOK ausgesprochen; sie waren damit nicht neutral. Das Ergebnis des Gutachtens, das zudem methodische Mängel aufweist, war also vorhersehbar.

Bild: © (Archivbild)

Dr. Thomas Bremer war von 1999 bis 2022 Professor für Ostkirchenkunde und Ökumenik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

Wie verhalten sich die anderen Kirchen in der Ukraine in dieser Situation? Die OKU unterstützt das geplante Gesetz und bezeichnet die UOK in ihren Stellungnahmen nur als "Moskauer Patriarchat in der Ukraine" oder als "Struktur" (der russischen Orthodoxie). Sie bestreitet oder verschweigt die Anwendung von Gewalt bei der Übernahme von Gemeinden. In ihren Äußerungen in sozialen Medien überziehen die Vertreter der OKU diejenigen der UOK oft mit Vorwürfen und Beschimpfungen; sie bestreiten auch die Kanonizität der UOK und verbreiten Anschuldigungen ohne Beweise, ohne dafür jedoch belangt zu werden.

Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche verhält sich äußerst zurückhaltend, obwohl sie selbst jahrzehntelang in der Sowjetunion verboten war und nur im Untergrund existieren konnte. Ihr Oberhaupt, Großerzbischof Schewtschuk, warnte vor einem Verbot der UOK mit dem Argument, dass man ihr damit einen Märtyrerstatus verleihen würde. Das Problem der Einschränkung der Religionsfreiheit wird nicht aufgegriffen. Der griechisch-katholische Nachrichtendienst RISU fährt seit langem eine regelrechte Kampagne gegen die UOK, die dort gleichfalls nie mit ihrem richtigen Namen genannt und über die nur sehr selten neutral berichtet wird.

Mediale Verleumdungskampagne gegen UOK

Auch der "Allukrainische Rat der Kirchen und religiösen Gemeinschaften" bemüht sich, die UOK zu marginalisieren. Zu einem Treffen mit dem Ministerpräsidenten wurde der Vertreter der UOK ausdrücklich ausgeladen; zu einer Reise des Rates in die USA wurde kein Vertreter der UOK mitgenommen. Im Bericht über das Treffen mit der Delegation der KEK auf der Website des Rates wird die Religionsfreiheit in der Ukraine betont; die kritische Nachfrage des Vertreters der UOK – Mykolaj Danylewytsch, dessen Haus kurz darauf vom Geheimdienst durchsucht wurde – wird verschwiegen.

Es lässt sich eine mediale Verleumdungskampagne gegen die UOK beobachten, die auch von Vertreterinnen und Vertretern anderer Religionsgemeinschaften geführt oder unterstützt wird; die Denunziationen führen zu einer realen Bedrohung von Mitgliedern der UOK. Keine andere Religionsgemeinschaft in der Ukraine zeigt bisher die Bereitschaft, diese wachsende gesellschaftliche Ausgrenzung der UOK durch Dialog oder zumindest Versachlichung zu bekämpfen.

Da die politischen und administrativen Maßnahmen nur gegen die UOK gerichtet sind, muss man von einer massiven Einschränkung der Religionsfreiheit sprechen. Die Behörden argumentieren mit der angeblichen Zugehörigkeit der UOK zur russischen Kirche und verschweigen gleichzeitig die eindeutigen Stellungnahmen der UOK seit Kriegsbeginn sowie die zahlreichen Aktivitäten der Kirche zur materiellen und psychologischen Unterstützung der ukrainischen Armee und der zivilen Opfer, die ihre pro-ukrainische Haltung zeigen. Für die Vergehen Einzelner die Institution verantwortlich zu machen, der sie angehören, widerspricht rechtsstaatlichen Grundsätzen. Die Ukraine, die wegen des ungerechtfertigten russischen Überfalls all unsere Solidarität verdient, muss die Grundsätze von Rechtsstaat und Menschenrechten in dieser Situation besonders konsequent einhalten, zumal sie die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstrebt. Sollten sich die gezielten Maßnahmen gegen die UOK fortsetzen oder sogar verschärfen, ist diese Orientierung an den europäischen Grundsätzen jedoch in Gefahr.

Von Thomas Bremer