Was lief gut, was nicht? Blick in eine der ersten Großpfarreien
Was viele deutsche Diözesen im Moment ganz akut beschäftigt, ist in Essen fast schon ein alter Hut. Das Ruhrbistum war eine der ersten Diözesen in Deutschland, die sinkende Kirchensteuereinnahmen und Personalrückgang zum Anlass genommen hatten, um flächendeckend über die Pfarreienstruktur nachzudenken. Mitte der 2000er Jahre begann der Umbau – 2007 wurden die ersten Großpfarreien im Bistum Essen eingerichtet. Eine von diesen war St. Urbanus in Gelsenkirchen-Buer. Seither läuft dort der Prozess, der aus früheren Einzelgemeinden eine große Pfarrei machen soll – gerade in den Köpfen der Gläubigen.
St. Urbanus ist eine von drei Großpfarreien in Gelsenkirchen und deckt den Norden der Stadt ab. Auf ihrem Gebiet bestanden bis zur Großfusion 16 Gemeinden, die sich allerdings teilweise schon vor dem großen Strukturprozess zu Großgemeinden oder Kooperationseinheiten zusammengeschlossen hatten. Ihr Zentrum ist die Propsteikirche St. Urbanus, insgesamt sind es vier Gotteshäuser, in denen regelmäßig Gottesdienst gefeiert wird. Das Pastoralteam besteht aktuell aus 13 Personen, darunter sechs Priester.
Zeitweise größte Pfarrei Deutschlands
Propst Markus Pottbäcker ist seit 2014 Leitender Pfarrer und moderiert seitdem das Zusammenwachsen in Gelsenkirchen-Buer. Mit nominell über 40.000 Katholikinnen und Katholiken galt St. Urbanus zahlenmäßig eine Zeit lang als größte Pfarrei in Deutschland. Auf den "Titel war man durchaus ein wenig stolz, sagt Pottbäcker. Inzwischen sind es noch knapp 30.000 Mitglieder. Natürlich nimmt nur ein Bruchteil von diesem am kirchlichen Leben teil oder besucht Gottesdienste.
Wenn kleine Gemeinden nicht für sich bleiben, sondern in einem größeren Bezugsrahmen miteinander wachsen, können auch Erfahrungen (wieder) möglich werden, die in der einzelnen Gemeinde so nicht (mehr) zu finden sind – soweit die Idee hinter Großpfarreien. Die Realität ist oft eine andere: Die Ankündigung von Großpfarreien löst vor Ort oft Unsicherheiten und Ängste aus – diese münden nicht selten in Proteste sowie Konkurrenz- und Verteilungskämpfe zwischen den einzelnen Standorten. Und in der Folge zum Bruch mit der Kirche bei manchen Gläubigen bis hin zu Kirchenaustritten.
Auch in Gelsenkirchen war das zum Teil der Fall, sagt Propst Pottbäcker: "Diese Umstrukturierungsprozesse haben dazu geführt, dass Leute sich ganz von der Kirche abgewandt haben, weil ihnen der kleine Raum genommen worden ist." Gerade deshalb, weil der Schritt zur Großpfarrei oft mit Kirchenschließungen verbunden ist, was natürlich auch in St. Urbanus der Fall war. Ein schmerzlicher, aber notwendiger Schritt in Zeiten schwindender Mittel. Doch wird ihnen ihre "Heimatkirche" weggenommen, reagieren viele Menschen empfindlich – nicht selten auch solche, die mit der Kirche eigentlich nicht mehr viel zu tun haben.
Was Pottbäcker in diesem Zusammenhang auch bedauert: Oft gab es zwischen den Standorten innerhalb der Großpfarrei kein Aufeinanderzugehen. "Da wurde dann immer ganz generös gesagt, die anderen können gerne zu uns kommen – und das wurde euphemistisch als Willkommenskultur gekennzeichnet." Dabei sei man schlicht froh gewesen, dass man seine "eigene" Kirche behalten hat und sich deshalb vermeintlich nicht mehr bewegen musste. "Ein echtes Zusammenwirken hat es da nicht wirklich gegeben", sagt Pottbäcker. Blickt man auf das bisherige Zusammenwachsen in der Großpfarrei, müsse man zwei Ebenen unterscheiden: "Im Kirchenvorstand oder im Pfarrgemeinderat gibt es dieses Konkurrenzdenken nicht mehr." Auch das Pastoralteam sei eine Einheit geworden. "Aber auf die einzelnen Standorte hin kann man das noch nicht so sagen."
Keine Komplettverweigerung
Wobei der Prozess in St. Urbanus insgesamt konfliktärmer abgelaufen sei als in anderen Pfarreien, meint Martin Verfürth. Er ist Sprecher des Pfarrgemeinderats – es gibt inzwischen nur noch einen für die ganze Großpfarrei – und begleitet die Fusion von Beginn an. "Klar gab es immer mal Widerstand und irgendwelche Aktionen. Aber ich hatte das Gefühl, dass bei allen Vorbehalten, die es gab, doch immer kooperiert worden ist." Eine komplette Verweigerung habe er nie gespürt.
Geändert hat sich in den vergangenen Jahren erwartungsgemäß einiges – und zwar nicht nur, was die Anzahl der genutzten Kirchen angeht. "Es gab an den Standorten, die Befürchtung, wie das vor Ort weitergeht, weil es in den kleinteiligen Strukturen einfach Gewohnheiten gab, die sich so eingespielt hatten", weiß Verfürth. Von vielen davon musste man sich früher oder später trennen: Von 2015 bis 2018 gab es in der Pfarrei einen weiteren Prozess, der neue Umstrukturierungen beriet und beschloss. Die entsprechenden Voten wurden vom Essener Bischof Franz-Josef Overbeck bestätigt. Es ging dabei um eine Schwerpunktsetzung der seelsorglichen Arbeit mit den Themen Sozialpastoral, Neuevangelisierung, Familienpastoral und Citypastoral an verschiedenen Standorten in St. Urbanus. Diese orientierte sich auch an den Bedürfnissen in den jeweiligen Stadtteilen. So ist etwas die Sozialpastoral in Hassel, einem sozial schwächeren Stadtteil, angesiedelt.
Hier sieht Martin Verfürth, dass sich eine besondere Dynamik entwickelt hat. "Gerade in der Sozialpastoral passiert im Moment ganz viel. Da haben wir über Finanzquellen, die wir extern erschlossen haben, personell einiges möglich gemacht. Das finde ich wirklich großartig." Im Bereich Neuevangelisierung hat die Pfarrei ihre Fühler in Richtung Nordamerika ausgestreckt und sich von Konzepten wie "Divine Renovation" inspirieren lassen. "In diesen Konzepten spielen selbstgegründete Gruppen eine Rolle, die sich mit Glaubensfragen auseinandersetzen. Da bin ich gespannt, wie sich das weiterentwickelt." Manche Aufbrüche sind also vorhanden.
Bei all den angesprochenen Dingen sieht Propst Pottbäcker ebenfalls einen großen Vorteil der Großpfarrei, der sich auch in Gelsenkirchen-Buer zeigt. "Bei den ganzen Anliegen, die wir immer sehr vereinzelt im Bereich Caritas, Katechese oder Liturgie gemacht haben, gibt es jetzt bessere Möglichkeiten." Das heißt: Man kann sie größer aufziehen. "Das Sozialzentrum in Hassel hätten wir in einer kleinen Räumlichkeit in der Gemeinde St. Urbanus niemals hingekriegt, weder finanziell noch personell." Projekte ließen sich nun besser entwickeln und stemmen.
Mit der Großstruktur hat sich zudem die Arbeit der Gremien verlagert. "Wir als Pfarrgemeinderat haben gemerkt, dass wir kein Planungs- oder Veranstaltungsgremium mehr sein können", betont Martin Verfürth. Man sei verstärkt mit konzeptionellen Dingen beschäftigt. "Wir sind jetzt eher ein Gremium, das den Rahmen schafft, innerhalb dem man stärker andere Leute miteinbezieht." An den einzelnen Standorten gibt es kein gewähltes Gremium mehr, sondern ein vom Pfarrgemeinderat beauftragtes Team von Ehrenamtlichen, das mit den jeweiligen Hauptamtlichen die Arbeit vor Ort gestaltet. Ehrenamtliche gibt es allerdings auch immer weniger. "Das Interessante ist, dass sich solche Teams oft in Eigeninitiative bilden", so Verfürth. Deshalb sei ihre Motivation dann auch besonders groß.
Blickt man nun insgesamt auf das Glaubensleben in St. Urbanus, hat sich in den vergangenen Jahren viel geändert. Das hängt aber nur in sehr geringem Maße mit der Bildung der Großpfarrei zusammen, sagen die Verantwortlichen. Der Hauptgrund sei ein anderer: "Durch die Einschränkungen in der Corona-Zeit und die damals praktizierten Formen hat aus meiner Sicht bei nicht wenigen ein Hinterfragen dieser Abläufe stattgefunden, die entweder zu einer Distanzierung oder aber zumindest zu einer großen Ambivalenz diesen Formen gegenüber geführt hat", sagt Martin Verfürth. "Aber Menschen, denen Glaubensgespräche, Bibelkreise oder die Feier der Liturgie wirklich ein Anliegen waren, haben sich ihren neuen Ort gesucht, wenn die eigene Kirche geschlossen wurde." Propst Pottbäcker stimmt im Großen und Ganzen zu: "Grundsätzlich ändert der Rahmen erst einmal nichts am Inhalt." Natürlich sind bestimmte Aktivitäten zum Ende gekommen, weil Räume vor Ort fehlten. Der Pfarrer stellt sich jenseits von Strukturdebatten jedoch eine andere Frage: "Sind Bibelkreise oder Ähnliches noch geeignete Instrumente, mit denen wir auch in Zukunft operieren sollten? Oder müssten wir nicht weit kreativer sein?"
Der lokale Bezug fehlt zwar, aber ...
Wie lässt sich der "Erfolg" der Fusion in Gelsenkirchen-St. Urbanus nun bewerten? Martin Verfürth ist der Meinung, dass sie im Rahmen der Möglichkeiten und Voraussetzungen gelungen ist. "Ich sehe nicht, was man absehbar hätte anders machen müssen." Natürlich fehle nun oft der lokale Bezug. "Aber am Ende ist allen schon bewusst, dass um diesen Schritt kein Weg herumführt." Ein Fehler, den er jedoch sieht: Einige Kirchenschließungen fanden während der Corona-Pandemie statt. "Das haben wir als Pfarrei nicht gut aufgefangen. Die Kirche wurde zwar geschlossen, aber es kam niemand, der geguckt hat, was es noch an kirchlichem Leben an dem Standort gibt."
Dass der ein oder andere Fehler passiert ist, will auch Propst Pottbäcker nicht verneinen. Er fragt sich jedoch, ob die frühere Struktur der parochialen Kleinräumigkeit, auf die das Bistum Essen bei seiner Gründung 1958 setzte, so ein erstrebenswertes Ziel war – da auch schon damals abzusehen war, dass diese langfristig nicht aufrechtzuerhalten sei. Am Ende sei eine Pfarrei nur ein rechtlicher Rahmen, den es dann zu füllen gelte. Das bedeute aber nicht automatisch, dass die jetzige Struktur deshalb heilsam sei. "Natürlich sehe ich auch, dass in den Großpfarreien viel Entfremdung geschieht." Die Kontaktaufnahme zu den Leuten ist in der heutigen Großstruktur natürlich nicht mehr so leicht. Und wird wohl sogar noch schwieriger: Auf absehbare Zeit soll es in den Essener Bistumspfarreien ein weiterer Konzentrationsprozess geschehen, in einer Stadt wie Gelsenkirchen soll es dann nur noch eine Pfarrei geben. Somit stehen weitere Standorte in den früheren Einzelgemeinden auf dem Prüfstand. Es sind also weiterhin kreative Ideen gefragt, wie kirchliches Leben im Gelsenkirchener Norden unter sich ständig verändernden Voraussetzungen auch in Zukunft funktionieren kann.