Theologe: Bibel darf nicht für Moral instrumentalisiert werden
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Thomas Hieke lehrt als Professor für Altes Testament in Mainz. Hieke blickt auf die biblischen Erzählungen zu Homosexualität, Masturbation oder Ehebruch und setzt sie im Interview in den historischen Kontext. Im Blick auf die kirchliche Sexualmoral kritisiert er, dass oftmals passende Bibelstellen im Nachhinein gesucht werden, um ein existierendes Moralgebilde zu rechtfertigen. Gerade beim Thema Homosexualität und Queerness ist Hieke überzeugt: Früher oder später wird die Kirche (wie bei Galileo Galilei) ihren Standpunkt ändern.
Frage: Wie stand man zur Zeit des Alten Testaments zu Sexualität?
Hieke: Sexualität wurde vornehmlich als geheimnisvolle Kraft gesehen, mit der man Nachkommen erzeugen kann. Wenn man dann Nachkommen hat, müssen diese natürlich auch sozial abgesichert sein.
Das heißt, Sexualität in der Bibel hat immer eine soziale Komponente im Hintergrund. Das sage ich deswegen, weil das heute oftmals übersehen wird. Heute denkt man sich, zwei sind sich einig, es gibt gegenseitige Zustimmung und dann ist alles gut. Wir alle leben aber in Gemeinschaften, und das hängt auch im Hintergrund immer mit dabei. Im Alten Testament ist das noch viel stärker.
Im Alten Testament haben wir die Situation, die wir noch bis vor 40 oder 50 Jahren hatten, als es noch keine oder nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten der Verhütung gab. Das, was wir heute so etwas lapidar "die Pille" nennen, hatte es damals nicht gegeben, sodass man Sexualität in der Regel immer als einen Akt sehen musste, der potenziell zu einem Kind führt.
Frage: Und die Texte aus der Bibel sind dann ein Regelwerk, wie man damit im Alltag umzugehen hat?
Hieke: Ja, sie sind in dem Sinne ein Regelwerk, dass, wenn diese Nachkommen potenziell da sind, sie eine soziale Absicherung haben. Etwas übertrieben gesagt: Wenn zwei junge Leute miteinander geschlafen haben, waren sie verheiratet. Man musste damit rechnen, dass die Frau schwanger wird. Dann muss eine soziale Absicherung in Form einer Ehe da sein, mit allem, was dazugehört.
Frage: In der Bibel gibt es viele Stellen, die heute von der Kirche angeführt werden, wenn es um die sexuelle Norm geht. Du sollst nicht mit einem Mann zusammen liegen, wie du es mit einer Frau tust (vgl. Lev 18,22). Es gibt die Geschichte von Onan, die so interpretiert wird, dass man keine Masturbation betreiben soll, obwohl das im Originaltext auch anders gemeint war. Welche Rolle spielen diese Stellen?
Hieke: Am Beispiel Onan lässt sich das wunderbar darstellen. Man hat eine bestimmte Vorstellung, man will keine Masturbation. Dann sucht man krampfhaft in der Bibel nach einem Vers, der irgendwie passen könnte. Wenn man den Vers hat, muss man ihn chirurgisch von seinem Kontext lösen. Dann schreibt man in den Katechismus: Masturbation ist Sünde, Beweis siehe Bibelstelle. Das ist natürlich kein wirklich guter Umgang mit der Bibel, das in kleine Teile zu zerschneiden und irgendwie so herumzukleben als Dekoration. So ein Gebrauch von der Bibel ist aus meiner Sicht nicht zulässig und auch eine Versündigung an Gottes Wort.
Frage: Aber wer hat sich das denn ausgedacht, wenn Sie sagen, man wolle das in die Richtung drehen? Ist das ein Impuls gewesen, der schon in den Entstehungszeiten so gekommen ist oder wurde das erst später dafür genutzt, das als Rechtfertigung zu nehmen?
Hieke: Die Texte sagen erst mal das, was sie sagen. Das können wir heute auch herausfinden. Bei Onan ist es so, dass er die Sexualität mit der Frau seines verstorbenen Bruders nutzen will für die Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse. Aber in dem Moment, wo es dann tatsächlich zum Zeugungsakt käme, macht er das, was wir heute "Coitus interruptus" nennen und lässt, wie es dann im Bibeltext heißt, seinen Samen auf die Erde fallen (vgl. Gen 38,9).
Er lässt damit die Frau Tamar, die dringend ein Kind bräuchte, um wieder familiär integriert zu sein, im Regen stehen. Er nutzt also die Sexualität der Frau aus, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen.
Wir sehen, wenn man die Sache im Kontext betrachtet, dann kriegen wir aus der Bibel plötzlich Impulse für heutiges sexuelles Verhalten und die Gestaltung von Sexualität, die aber anders aussehen als irgendeine rigide Morallehre, die im Laufe der Jahrhunderte gewachsen ist. Diese rigide Morallehre, unter der wir heute vielleicht auch leiden, hat sich einfach entwickelt. Man hat in der Bibel nach irgendwelchen passenden Sätzen gesucht, und wenn man keine gefunden hat, dann hat man sie halt passend gemacht.
Frage: Das heißt, man könnte ein wenig zugespitzt sagen, die Bibel ist nicht so prüde, wie viele denken würden?
Hieke: Ja, aber vielleicht auch in anderer Hinsicht etwas prüder. Die Bibel erinnert uns nämlich ständig an unsere eigene Verantwortung. Das hört man vielleicht auch nicht so gerne heute, dass Sexualität einfach nicht ein "cooler" One-Night-Stand ist, sondern dass Sexualität einfach verdammt viel mit Verantwortung zu tun hat. Da meinen manche vielleicht, sich ein bisschen billig herausschleichen zu können.
Da werde ich ganz konservativ, wenn es um Verantwortlichkeit geht und um eine gestaltete Partnerschaft, wo beide gleichberechtigt sind und beide ihre Interessen einbringen können, das ist wichtig. Da möchte die Bibel hin. So gelingt Leben. Wenn der eine die andere ausnutzt oder umgekehrt, wenn eine Schieflage auftritt, dann ist es traurig, gefährlich, gewaltsam und manchmal einfach schlecht.
Frage: Inwiefern ist denn das katholische Bild von Homosexualität biblisch begründet? Da sagen ja auch Experten, man könne das damalige Bild nicht mit dem vergleichen, was wir heute unter festen Beziehungen bis hin zur Eheschließung verstehen.
Hieke: Das ist richtig. Dieses Konzept einer gleichberechtigten Partnerschaft mit Verantwortung für den anderen gibt es in diesem Sinne in der Bibel nicht. Man hat aber wohl wahrgenommen, dass es gleichgeschlechtliche Akte gibt. Man hat vielleicht auch wahrgenommen, dass manche da ihre Sexualität abreagieren und das vielleicht lieber machen, weil sie dann kein Kind zeugen, weil sie auch keines wollen.
Frage: Da sind wir wieder bei der Verantwortung.
Hieke: Der berühmte Vers Levitikus 18,22 steht ja auch in einem Kontext, wo es um Nachkommenschaft geht. In diesem Kontext werden Praktiken verurteilt, die nicht zu Nachkommenschaft führen. Das ist einmal der Beischlaf mit einer menstruierenden Frau. Das führt in aller Regel nicht zur Nachkommenschaft. Auch der Verkehr mit einem Tier führt nicht zu Nachkommenschaft, oder wenn man von seiner Nachkommenschaft jemand dem "Molech" gibt, das wird meistens als Kinderopfer gedeutet. Man könnte es aber auch als eine Chiffre deuten, dass man von seiner Nachkommenschaft, von seinen Kindern den einen oder anderen Esser am Tisch hinübergehen lässt zur fremden Besatzungsmacht, um den gut versorgt zu wissen, aber loszuwerden als Esser am Tisch. Dann geht dieses Kind oder dieser junge Mann oder diese junge Frau der eigenen Gemeinschaft aber natürlich verloren. Wenn sie zur Besatzungsmacht hinübergeht, übernimmt sie deren Religion und ist der eigenen Gemeinschaft verloren.
In diesem Kontext geht es auch darum, dass man nicht mit der Frau seines Nachbarn schlafen soll. Warum? Wenn da ein Kind herauskommt, gibt es Erbstreitigkeiten ohne Ende oder das Kind hat keine soziale Basis, wo es hingehört. Wenn man diesen Kontext genau beachtet, dann geht es nicht um Homosexualität. Da geht es nicht um eine verantwortete gleichgeschlechtliche Partnerschaft, sondern da geht es schlichtweg darum, dass man Nachkommen zeugt um jeden Preis für diese kleine, in ihrer Existenz bedrohte Gemeinschaft. Diese Nachkommenschaft gilt es aber auch im richtigen sozialen Kontext zu zeugen. Das war das oberste Gebot und alles andere hat man nicht verstanden.
„Wenn ich mir aber klar mache, dass es zwischen Himmel und Erde einiges gibt und zwischen Meer und Land das schöne Wattenmeer liegt, und zwischen Licht und Dunkel die Morgen- und die Abenddämmerung, dann muss ich schlussfolgern, dass es zwischen rein Mann sein und rein Frau sein vielleicht auch noch etwas geben kann.“
Frage: Wie sieht das denn in der Bibel mit geschlechtlicher Identität aus, die nicht Mann oder Frau ist? Gibt es darauf Bezüge? Oder sagt auf der anderen Seite die Abwesenheit von solchen Bezügen vielleicht auch etwas aus?
Hieke: So ein Konzept wie Queerness, das wir heute kennen, kennen wir auch noch nicht sehr lange. Da habe ich mir auch Gedanken gemacht, ob da biblisch etwas zu finden ist. Wenn ich auf den ersten Schöpfungstext schaue, werden die Natur und der Kosmos erschaffen – und das Ganze immer in zwei Polen: Himmel und Erde, Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Meer und Land. Das sind immer Paare.
Wenn ich mir aber klar mache, dass es zwischen Himmel und Erde einiges gibt und zwischen Meer und Land das schöne Wattenmeer liegt, und zwischen Licht und Dunkel die Morgen- und die Abenddämmerung, dann muss ich schlussfolgern, dass es zwischen rein Mann sein und rein Frau sein vielleicht auch noch etwas geben kann. Nicht viel, wir haben ganz wenig Wattenmeer. Ich weiß nicht, wie viel Promille der Meeresfläche überhaupt Wattenmeer sind. Aber das gibt es und es darf da sein. Überhaupt ist in dem ersten Schöpfungstext ganz viel nicht erwähnt, was es trotzdem gibt und was trotzdem auch unter das Wort Gottes "es war sehr gut" (Gen 1,31) fällt.
Frage: Hautfarben zum Beispiel.
Hieke: Zum Beispiel. Wenn ich das so betrachte, dann kann ich sagen: In diesem Text haben Menschen, die sich irgendwo zwischen männlich und weiblich finden und sich momentan nicht eindeutig festlegen können, oder sagen "Nein, ich bin halt da dazwischen" ihren Platz und sind als Geschöpfe Gottes so wie wir alle "sehr gut".
Frage: Kommt irgendwann der Punkt, wo auch die Kirche als Institution das so sagen wird? Sagt sie irgendwann "es ist doch okay so, wie ihr seid"?
Hieke: Ganz sicher, bei Galilei hat sie es ja auch so gemacht. Da hat es nur ein paar hundert Jahre gedauert. Es hat bis 1992 gedauert, dann wurde er rehabilitiert. Papst Johannes Paul II. hat damals gesagt, dass das Problem nicht in der Naturwissenschaft lag, sondern in der falschen Bibelauslegung. So müssen die Theologen, wie er da 1992 so schreibt, immer wieder mal schauen, ob nicht die Naturwissenschaft etwas mit hinreichender Wahrscheinlichkeit herausfindet, sodass es unvernünftig wäre, es abzulehnen. Ich glaube, dass wir mittlerweile in den Humanwissenschaften auch sehr weit gekommen sind, was die Beschreibung menschlicher Sexualität, menschlicher sexueller Identität und sexueller Orientierung betrifft, dass wir da sagen können, das ist mit hinlänglicher Wahrscheinlichkeit erwiesen und es wäre unvernünftig, es zurückzuweisen.
Insofern ist meine Hoffnung, dass diese Vernunft sich irgendwann in der kirchlichen Lehre so durchsetzt, dass man die kirchliche Lehre wieder positiv wahrnimmt als etwas, was Orientierung gibt. Das bräuchten wir nämlich dringend.