Der Katholikentag in Erfurt heilt das Trauma von Stuttgart
Das große Unwetter kam erst am Ende: Die Abschlussveranstaltung auf dem Domplatz musste am Samstagabend abgebrochen werden. Der heftige Platzregen ist vorbeigezogen. Trotz Abbruch war die Stimmung auf den Straßen gut, als es wieder trocken war. Nach dem Trauma des Stuttgarter Katholikentags vor zwei Jahren, als zu wenige Menschen in eine zu große Stadt zu einer zu örtlich und thematisch zerfaserten Veranstaltung kamen und kaum die übliche fröhliche Stimmung in den Straßen zu spüren war, hat Erfurt dieses Katholikentagsgefühl wieder zurückgebracht. Gruppen singen zusammen. Trauben von Ordensleuten flanieren. Eine Masse von Menschen in den Uniformen der Laienbewegung – viele Funktionsjacken, Pfadfinderkluften und -halstücher, bunte T-Shirts der vielen Verbände – bevölkert die Stadt. Das Must-have-Accessoire war in diesem Jahr die regenbogenfarbene Stofftasche des Verbandes der Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten mit der Aufschrift "Mein Gott diskriminiert nicht": die farbenfrohe Tasche hat das inklusive und optimistisch-offene Gottesbild perfekt abgebildet, das die Mitte der engagierten Katholiken trägt.
Die Stimmung in Erfurt war gut, kurze, aber umso heftige Regenschauer an den ansonsten erstaunlich sonnigen Tagen wurden weggesteckt und weggelächelt, man rückte in den Zelten der Kirchenmeile einfach etwas enger zusammen. Der Erfurter Katholikentag ist nach Besucherzahlen der kleinste seit vielen Jahre. Etwas mehr als 20.000 Tickets wurden verkauft. Das ist zwar deutlich weniger als die 27.000 Tickets in Stuttgart, im Gegensatz zu 2022 wurde Erfurt aber von vornherein kleiner konzipiert: Weniger Hallen, weniger und kürzere Laufwege. Die Helfer mit den "Halle überfüllt"-Schildern sind wieder zurück, und auch die Gruppen kamen wieder.
Die Gruppen aus Pfarreien und Verbänden stellen wesentliche Kontingente der Teilnehmenden. Vor Stuttgart war wegen der Pandemie erst spät klar, ob und wie der Katholikentag aussehen würde und wie viele Beschränkungen Corona noch erfordert – zu spät für viele Gruppen, um sich zu koordinieren. Das kompaktere Konzept dürfte den nächsten Katholikentag in Würzburg prägen, auch wenn dann wieder eine Stadt und ein Bistum die Großveranstaltung tragen, wo es anders als in Thüringen noch eine selbstverständlichere Kirchlichkeit und vor allem mehr Kirchenmitglieder gibt.
Die Politik ist zurück, aber die CDU fremdelt
Neben den Teilnehmenden ist auch die Politik wieder zurück: Prominente Politikerinnen und -politiker aus Bund, Ländern und dem Europaparlament haben bei vielen Podien mitdiskutiert. Hier spielte den Veranstaltern der politische Kalender in die Hände: In Wahljahren sei es immer einfacher, die Politik für Veranstaltungen zu motivieren. Weiterhin angespannt ist das Verhältnis zwischen CDU und ZdK. Einst kaum auseinanderzudividieren, ist dieses Verhältnis gerade seit dem Vorsitz von Friedrich Merz deutlich abgekühlt. Prominente katholische Bundespolitiker haben bei der letzten ZdK-Wahl den Einzug ins Laienkomitee verpasst. Woran es dieses Mal lag, darüber gibt es unterschiedliche Darstellungen: Aus CDU-Kreisen verlautet, dass die Veranstalter Merz keine attraktiven Veranstaltungen angeboten hätten und er deshalb nur am Rande bei einem Empfang der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgetreten sei. Aus ZdK-Kreisen dagegen heißt es, die Zusammenarbeit mit der CDU sei ausgesprochen schwierig gewesen, lange ausgesprochene Einladungen versandeten oder wurden abgelehnt, Angebote von Seiten der Partei seien ausgeblieben.
Die Rede von Merz beim Adenauer-Empfang war betont staatstragend. Sichtlich war er darum bemüht, trotz der Spannungen die Gemeinsamkeiten mit den katholischen Engagierten zu betonen. Keine Spur von der populistischen Autofahrerpartei-Rhetorik, stattdessen ein Rundumschlag zur Verantwortung Deutschlands in Europa und der Welt, zur Demokratie und sogar zum Klimawandel. Die Anwesenden – vor allem Verantwortungsträger aus den Verbänden und diözesanen Räte – applaudierten höflich. Bekannte CDU-Mitglieder aus dem ZdK klatschten betont zurückhaltend und kurz. So schwarz das ZdK trotz zunehmenden grünen Einsprengseln ist: Hier ist Laschet- und Kramp-Karrenbauer-Land, mit Merz werden die organisierten Katholiken größtenteils nicht warm.
ZdK in Krisenstimmung
Dass das neue kleinere Konzept des Katholikentags zum Erfolg werden würde, war unmittelbar vorher lange nicht ausgemacht. Traditionell tagt das Katholikenkomitee bis zur Eröffnung des Katholikentags anderthalb Tage. Die Tagesordnung dieser kurzen Sitzung war überbordend. Der Fall der von den Bischöfen abgelehnten Kandidatin für das Kuratinnenamt der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg, Viola Kohlberger, nahm großen Raum ein. Der Unmut unter den Laien ist groß darüber, dass die Bischöfe nach Jahren des Diskutierens über Macht beim Synodalen Weg nun ohne Begründung und ohne Vorwarnung ihre Macht in dieser Personalfrage ausgeübt haben.
Solche Konflikte können zusammenschweißen. Doch der Frust, über den viele ZdK-Mitglieder während der Tage in Erfurt unverblümt erzählten, war hausgemacht: Die Debatte über ein neues Leitbild uferte angesichts zahlloser Änderungsanträge völlig aus. Für einen wenig spektakulären – weil völlig vorhersehbaren – Aufruf, bei der Europawahl für Solidarität, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Nachhaltigkeit zu stimmen, war Zeit. Das Leitbild konnte nicht abgestimmt werden und musste vertagt werden.
Neben dem verbändetypischen Kleinklein an Änderungsanträgen gab es dabei auch kontroverse Fragen darüber, wie sich das Katholikenkomitee eigentlich selbst versteht: Ist das ZdK "die" Stimme oder "eine" Stimme der katholischen Zivilgesellschaft – und will man überhaupt von "katholischer Zivilgesellschaft" sprechen? "Katholische Zivilgesellschaft" ist gewissermaßen die Aktualisierung des Selbstbildes, das der erste Katholikentag 1848 in Mainz hatte: das der "Heerschau" des Katholizismus. Solche martialischen Bilder, die die damalige katholische Zivilgesellschaft über den Kulturkampf begleitet haben, tragen heute nicht mehr und trotz Zeitenwende nicht wieder. "Katholische Zivilgesellschaft" mit seinem doppelten Sinn eines demokratischen Wirkens nach innen in die Kirche und hinaus in die Gesellschaft träfe heute das, was das Zentralkomitee tatsächlich tut.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – vor seiner Wahl war er eigentlich als Präsident des Evangelischen Kirchentags gesetzt – würdigte in seiner Rede bei der Eröffnung die katholische Zivilgesellschaft und würdigte das Engagement der vielen Christinnen und Christen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Zugleich war die Rede aber auch von der Sorge geprägt, was mit dieser Ressource für das Zusammenleben und den Gemeinsinn passiert angesichts des rapiden Mitglieder- und Bedeutungsverlusts der Kirchen. Anders als in Stuttgart, wo er scharf die Versäumnisse beim Umgang mit Missbrauch anprangerte, war dieses Mal Sorge präsenter als Kritik. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir schwärmte davon, wie die Katholikinnen und Katholiken miteinander umgehen: Im Katholikentag sah er eine Vision davon, wie die Gesellschaft aussehen könnte, "wenn sich alle mit Respekt begegnen, zuhören und ausreden lassen".
Tatsächlich gab es in der aufgeheizten Stimmung vor den vielen anstehenden Wahlen – noch während des Katholikentags wurde der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter in Aalen bei einem Wahlkampfauftritt angegriffen und verletzt – in Erfurt keine größeren Zwischenfälle. Rechte Störer blieben wohl aus, obwohl das für derartige Veranstaltungen ungewöhnlich hohe Polizeiaufgebot zeigte, dass man durchaus mit Konfliktpotential rechnete. Die einzige größere Störung fand beim Kanzler-Podium statt – und relativierte Özdemirs großes Lob. Klimaaktivistinnen und -aktivisten störten die Veranstaltung mit Zwischenrufen, der Kanzler kanzelte sie ab, das Publikum rief "raus, raus!" – und sang "Herr, gib uns deinen Frieden", als das gute Dutzend Aktivisten von Ordnern und ZdK-Generalsekretär Marc Frings nach draußen eskortiert wurde. Im Zweifel schlägt Harmonieseligkeit und einmal den Kanzler sehen anscheinend die Bereitschaft zum Diskurs über drängende Fragen. In der Abschluss-Pressemeldung der Bischofskonferenz ist bezeichnenderweise davon die Rede, dass aus Erfurt "wichtige politische Signale in unser Land gesendet" wurden. Ob sie auch empfangen werden, ist eine andere Frage.
Spirituelle Kraftquelle für Engagierte
Die Entwicklung der Katholikentage zeigt eine Verschiebung der Gewichte und Schwerpunkte in der Kirche in Deutschland. War das selbstbewusste Verbandswesen, das nach 1848 lange das katholische Milieu prägte, lange eine große und integrierende Bewegung, ist der Laienkatholizismus heute pluraler geworden: Progressive wie konservative Jüngere fremdeln mit den stringent durchstrukturierten und dadurch bisweilen behäbigen und bürokratischen klassischen Verbänden. Mindestens seit der Würzburger Synode in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre verschwimmt die Aufgabenteilung zwischen Verbandskatholizismus und Bischöfen: hier das Wirken in die Welt, da das geistliche Regiment. Heute beschäftigen die Verbände sich viel stärker mit Reformdebatten, die noch vor wenigen Jahrzehnten vor allem von den ZdK-distanzierten Reformgruppen aus dem Wir-sind-Kirche-Umfeld geführt wurden. Zugleich führt der Bedeutungsverlust der Kirchen dazu, dass in der Öffentlichkeit wenn überhaupt bischöfliche Stimmen gehört werden und politische Positionen der Bischöfe so relevanter werden – zumal im politischen Berlin die eigentliche Lobbymacht der Kirche das von der Bischofskonferenz getragene Katholische Büro und nicht das vor wenigen Jahren von Bonn in die neue Hauptstadt umgezogene Generalsekretariat des ZdKs ist.
Diese Gewichtsverschiebung hat auch Auswirkungen auf die Zukunft der Katholikentage: Während altgediente ZdKler die große Geschichte von 1848 fortfolgende betonen und die politischen Podien ins Zentrum stellen, gehen die Überlegungen bei den Bistümern als Mitausrichtern stärker in die Richtung von Glaubensfesten. Das ist durchaus plausibel: Natürlich kommen noch viele Spitzenpolitiker. Was Bundeskanzler Olaf Scholz aber in Erfurt abgeliefert hat, hätte er genauso auch bei einer Gewerkschaft oder bei jeder anderen Veranstaltung sagen können, so allgemein blieb es. Obwohl das zu erwarten war, war auch sein Podium überfüllt: Eine Motivation für Katholikentagsbesucher ist immer auch der Promifaktor. Personen ziehen zu Podien, weniger die Themen, so sehr sie auch in die Gesellschaft wirken sollen.
Immer wichtiger wird eine zweite Motivation: Der Katholikentag als spirituelle Tankstelle. Nicht nur das Kanzlerpodium, auch die Taizé-Nacht der Lichter im Dom war überfüllt. Die Bibelarbeiten am Morgen waren gut besucht. Die Frage, warum man nach Thüringer Tradition am Vormittag keine Fronleichnamsprozession veranstaltet, war eine der kontroverseren. Der Grund ist einfach: Fronleichnam ist in Thüringen schlicht kein staatlicher Feiertag, für viele der Besucher aus dem Westen eine Überraschung. Für Würzburg verlautet aus Bistumskreisen bereits, dass diese spirituellen Aspekte noch gestärkt werden sollen. Auch wenn dafür manche im ZdK ihre Vorstellung vom Katholikentag etwas verändern müssen: Um Kraftquelle für die katholische Zivilgesellschaft zu bleiben, auch wenn sich die Reihen lichten, braucht es beim Katholikentag beides: Politik und Gebet. Erfurt hat gezeigt: Beides sind Baustellen, an denen weiter gearbeitet werden muss. Nach dem Trauma von Stuttgart ist nach diesem erfolgreichen Katholikentag dafür aber eine gute Ausgangsbasis gesetzt.