Wie arbeiten kirchliche Interessenvertreter in der EU-Hauptstadt?

Auf den Menschen ausgerichtet: Katholische Lobbyarbeit in Brüssel

Veröffentlicht am 08.06.2024 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Berlin/Brüssel ‐ Die EU-Hauptstadt Brüssel ist auch der Arbeitsplatz tausender Lobbyisten, die Einfluss auf Europas Politik zu nehmen versuchen. Auch katholische Institutionen mischen dabei mit. Wie und mit welchem Ziel, zeigt beispielhaft ein Blick auf die Bischofskommission COMECE und den Deutschen Caritasverband.

  • Teilen:

Es ist eine beeindruckende Zahl: Rund 350 Millionen Europäer sind in diesen Tagen aufgerufen, ein neues Europäisches Parlament zu wählen. Die Europawahl gilt damit nach der gerade erst beendeten Parlamentswahl in Indien als zweitgrößte demokratische Wahl der Welt. Und auch wenn das Europäische Parlament weiterhin nicht so viele Befugnisse wie etwa der Deutsche Bundestag hat, so ist es seit seiner Gründung doch immer mächtiger geworden. Gemeinsam mit der Europäischen Kommission und dem Rat der Europäischen Union bestimmt das Parlament heute mit seinen derzeit 705 Abgeordneten über Gesetze und Regeln, die unmittelbaren Einfluss auf das Leben der Menschen in Europa haben.

Dieser Einfluss macht das Parlament und Brüssel als wichtigsten Ort der EU-Institutionen auch für Lobbyisten interessant. Laut "Lobbycontrol" nehmen Schätzungen zufolge rund 25.000 Interessenvertreter mit einem Jahresbudget von 1,5 Milliarden Euro in der europäischen Hauptstadt Einfluss auf die Institutionen des Staatenbundes. Etwa 70 Prozent von ihnen arbeiten nach Angaben des Vereins für Unternehmen und Wirtschaftsverbände. "Sie genießen privilegierte Zugänge zu den Kommissaren. Und sie überhäufen die Abgeordneten mit ihren Änderungsanträgen für Gesetzesvorlagen", beschreibt "Lobbycontrol" die Arbeit der Lobbyisten in Brüssel.

COMECE als bekannteste katholische Lobbyorganisation in Brüssel

Neben Unternehmens- und Wirtschaftsvertretern versuchen aber auch noch andere "Spieler", Einfluss auf die EU-Institutionen zu nehmen. So auch die katholische Kirche. Die wohl bekannteste katholische Interessenvertretung in Brüssel ist dabei die EU-Bischofskommission COMECE – die Abkürzung steht für die lateinische Bezeichnung "Commissio Episcopatum Communitatis Europensis" –, in der sich die katholischen Kirchen aller Mitgliedsstaaten zusammengeschlossen haben. Die COMECE entstand 1980 und damit ein Jahr nach der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments und soll den Dialog der Kirche mit den EU-Institutionen pflegen sowie katholischen Anliegen in Brüssel Gehör verschaffen. Präsident der COMECE ist seit vergangenem Jahr der italienische Bischof Mariano Crociata, für Deutschland ist Essens Oberhirte Franz-Josef Overbeck Mitglied der Einrichtung.

Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

Der italienische Bischof Mariano Crociata ist seit 2023 Präsident der COMECE und damit einer der wichtigsten katholischen Lobbyisten in Brüssel.

Laut ihrem Statut soll die COMECE an den politischen Prozessen der EU mitwirken, die Aktivitäten der EU beobachten und die nationalen Bischofskonferenzen darüber informieren sowie Meinungen und Ansichten der Kirche zum europäischen Integrationsprozess an die EU-Institutionen übermitteln. Um diesem Auftrag nachzukommen, stehen COMECE-Vertreter im regelmäßigen Austausch mit EU-Beamten und Mitgliedern des Europäischen Parlaments. Man leiste dabei Beiträge, "die das Gemeinwohl und einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz fördern", heißt es bei der Bischofskommission. Rechtlich geregelt wird die Arbeit der COMECE und anderer Kirchen und Religionsgemeinschaften dabei seit 2009 durch Artikel 17, Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, den sogenannten Lissabon-Vertrag. Dort heißt es: "Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog."

Mit einem eigenen Büro in Brüssel vertreten ist auch der Deutsche Caritasverband. Das Haus in der Rue de Pascale in Sichtweite des Europäischen Parlaments hat der Verband nach eigenen Angaben 1990 gekauft, um "durch die ständige Präsenz in Brüssel die Interessen der Caritas gegenüber der Europäischen Union besser vertreten zu können".

Caritas: Europas Politik im Sinne der Menschen mitgestalten

Geleitet wird das Büro derzeit von Lisa Schüler. Dass sich ihr Verband ein eigenes Büro in Brüssel leistet, erklärt sie gegenüber katholisch.de mit den politischen Zielen des Verbandes: "Während wir in unseren Diensten und Einrichtungen vor Ort ganz konkret Menschen in Notsituationen helfen, wollen wir gleichzeitig langfristig die sozialen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Menschen verbessern." Die Caritas habe dabei schon relativ früh erkannt, dass Armut und soziale Ausgrenzung nicht an nationalen Grenzen stoppten, sondern nur auf europäischer und internationaler Ebene angegangen werden könnten. Ihrem Verband sei es deshalb ein Anliegen, die europäische Politik im Sinne der Menschen mitzugestalten. "Wir wollen denjenigen, die im politischen Betrieb oft überhört bleiben, auf EU-Ebene eine Stimme geben", so Schüler.

„Als einzelner Abgeordneter ist es unmöglich, sich in jedes Dossier bis in die technischen Details einzuarbeiten. Daher sind gerade Abgeordnete darauf angewiesen, Wissen aus der Praxis zu erfahren.“

—  Zitat: Caritas-EU-Büroleiterin Lisa Schüler über den Wert von Lobbyisten

Angesprochen auf den häufig schlechten Ruf von Lobbyisten in der Öffentlichkeit, geht Schüler argumentativ in die Offensive und beschreibt den Nutzen, den Interessenvertreter aus ihrer Sicht bringen: "Gerade in Brüssel haben Abgeordnete und Politiker:innen eine unglaublich große Bandbreite an Themen abzudecken. Als einzelner Abgeordneter ist es unmöglich, sich in jedes Dossier bis in die technischen Details einzuarbeiten. Daher sind gerade Abgeordnete darauf angewiesen, Wissen aus der Praxis zu erfahren." Auch die Caritas könne in diesem Sinne eine Brücke zu den Menschen vor Ort bilden. "Wir wissen aus unseren Einrichtungen und Diensten, was die Menschen an Unterstützung benötigen." Je unterschiedlicher die Perspektiven sind, die Interessenvertreter einbringen, desto besser können etwa die EU-Parlamentarier die Auswirkungen politischer Entscheidungen einschätzen, ist Schüler überzeugt. Lobbyismus will sie deshalb auch nicht in Hinterzimmer verbannt sehen, sondern die entsprechenden Gespräche als wichtigen Teil eines guten Entscheidungsfindungsprozesses verstanden wissen.

Als eine ihrer wesentlichen Aufgaben in Brüssel nennt Schüler das Monitoring von Gesetzesvorhaben. Ihr Büro versuche immer auf dem Laufenden zu sein, welche Initiativen auf EU-Ebene diskutiert würden. "Aufbauend auf diesen Informationen erstellen wir eine erste Bewertung, ob die jeweilige Initiative möglicherweise eine Auswirkung auf die Menschen hat, die Hilfe und Unterstützung bei der Caritas suchen, oder auf die Rahmenbedingungen zur Erbringung sozialer Dienstleistungen haben könnte." Sei dies der Fall, stimme sich ihr Büro mit den Fachexperten der Caritas in Deutschland und mit europäischen Partnern ab. In enger Zusammenarbeit erarbeite man dann eine "faktenbasierte Bewertung". "Diese bringen wir dann wieder in den politischen Prozess ein, beispielsweise durch die Teilnahme an öffentlichen Konsultationen der EU-Kommission oder in persönlichen Gesprächen."

Sorge vor Erstarken populistischer und nationalistischer Strömungen

Aktuell ist Schüler – wenig erstaunlich – vor allem mit der Europawahl und insbesondere der Sorge vor einem Erstarken populistischer und nationalistischer Strömungen beschäftigt. "Im Vorfeld der Wahlen haben wir die Menschen dazu aufgerufen, die eigene demokratische Verantwortung wahrzunehmen und sich an den Wahlen zum EU-Parlament zu beteiligen", erzählt sie. Gleichzeitig habe man mit einem umfassenden Positionspapier konkrete Visionen entwickelt, wie man sich die EU in der nächsten Legislaturperiode vorstelle – nämlich friedlich, sozial und verantwortlich. "Wir fordern eine Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt", betont die Büroleiterin. In der zu Ende gehenden Legislaturperiode habe die Caritas beispielsweise die Überarbeitung der europäischen Asylpolitik kritisch begleitet und sich für ein menschenwürdiges Asylsystem eingesetzt.

Bild: ©Christian Schwier/fotolia.com

Von der Europawahl erhofft sich Caritas-Vertreterin Schüler, dass möglichst viele Menschen ein Zeichen setzen und sich gegen "rückwärtsgewandte und mit Falschbehauptungen argumentierende Parteien" positionieren.

Dass sich die Europäische Union immer wieder in ihrer Existenz rechtfertigen muss, findet Schüler fatal. "Es muss möglich sein, EU-Politik zu hinterfragen, ohne die EU als Konstrukt in Frage zu stellen." Sie selbst sieht etwa die Politik der EU im Asyl- und Migrationsbereich kritisch. "Gleichzeitig bin ich und sind wir als Caritas zutiefst überzeugt, dass die großen Fragen und Krisen unserer Zeit nur gemeinsam bewältigt werden können. Die EU als Friedensprojekt stellt die Grundlage für Zusammenarbeit in Europa dar."

Die Institutionen der EU stehen laut Schüler vor der ständigen Herausforderung, Menschen aus 27 verschiedenen Kulturen und verschiedenen Sprachen vereinen zu müssen. "Dafür müssen Arbeitsweisen und Verhandlungen immer wieder neu ausgerichtet und täglich Kompromisse gefunden werden." Dass inzwischen europaweit nationalistische, populistische und sogar rechtsextreme Parteien erstarken und sogar an Regierungen beteiligt sind, bereitet Schüler in diesem Zusammenhang große Sorgen. "Diese Strömungen und Parteien verbreiten das gemeinsame Narrativ, dass die Europäische Union ein 'Bürokratiemonster' sei, das abgeschafft werden muss. Die EU ist und bleibt aber das Friedens- und Versöhnungsprojekt Europas." Je stärker falsche Behauptungen über die EU von den Menschen aufgegriffen würden, desto instabiler könnten ihre Institutionen in Zukunft werden, fürchtet sie.

Armut bekämpfen, Klimaschutz vorantreiben

Von der Europawahl erhofft sich Schüler, "dass möglichst viele Menschen in ganz Europa ein Zeichen setzen und sich mit ihrer Stimme gegen rückwärtsgewandte und mit Falschbehauptungen argumentierende Parteien positionieren". Sie wünscht sich, dass durch die mediale Aufmerksamkeit rund um die Wahl möglichst vielen Menschen bewusst wird, dass die vielen Freiheiten und Errungenschaften in Europa nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis harter Arbeit sind.

Für die neue Legislaturperiode sieht sie vor allem zwei Themen, die ihrer Ansicht nach unbedingt weitergebracht werden müssen: "Zum einen muss europaweit Armut bekämpft werden. Dafür benötigt es gemeinsame Anstrengungen, etwa durch einen europäischen Rahmen für Grundsicherungssysteme. Zum anderen muss sozial gerechter Klimaschutz weiter vorangetrieben werden." Als Caritas habe man konkrete Forderungen für die neue Legislaturperiode vorgeschlagen, wie die Vision des Verbands für ein friedliches, soziales und gerechtes Europa umgesetzt werden könne. So viel scheint also schon festzustehen: Lisa Schüler und ihrem Büro wird die Arbeit auch nach der Europawahl nicht ausgehen.

Von Steffen Zimmermann