In der Arena befindet sich eine Kapelle – und in ihrer Nähe ein Fan-Friedhof

Beten und Pilgern auf Schalke: Blick in die "Seele" eines EM-Spielorts

Veröffentlicht am 27.06.2024 um 00:01 Uhr – Von Nicola Trenz (KNA) – Lesedauer: 

Gelsenkirchen ‐ Im Gelsenkirchener Stadtteil Schalke schlägt nicht nur zur Europameisterschaft das Herz im Fußball-Takt. In der Arena liegt die älteste Stadionkapelle Deutschlands. Über Beten, Pilgern und auch "Ins-Gras-Beißen" im Zeichen des Fußballs.

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Fußballtempel, ewige Treue, Teamgeist: Wenn es um das Runde geht, das ins Eckige muss, werden nicht nur zur Europameisterschaft die ganz großen Zusammenhänge beschworen. Landauf, landab wird für das gewünschte Ergebnis der Fußballgott verantwortlich gemacht, pilgern die Fans zum Stadion. Irgendwie folgerichtig, dass es in Gelsenkirchen auch offiziell einen Pilgerweg gibt. Der führt nicht nur entlang von Fankneipen und Stadien, sondern führt direkt zum "Mythos Schalke" – und zu Gott.

Hinter dem Pilgerweg, genannt "Extratour 04", steckt das katholische Bistum Essen. 15 Kilometer führt die Tour entlang der "Schalker Meile", der Hauptschlagader des blau-weißen Stadtteils von Gelsenkirchen - aus der Stadt raus bis ins Grüne. Unscheinbare Markierungen weisen den Weg. Pilgerwege laden ein zur Auseinandersetzung mit der Umgebung, sich selbst und Gott, lautet die Botschaft des Bistums. Das gilt auch für die Fußballhochburg Gelsenkirchen.

Ein Heiliger mit Fußballschuhen

Der Pilgerweg beginnt an der Kirche Sankt Josef. Blau-weiße Kerzen brennen dort, und ein Kirchenfenster zeigt den heiligen Aloisius von Gonzaga, Patron der Jugend, mit Fußballschuhen, blau-weißen Stutzen und Ball. Geöffnet ist Sankt Josef an Spieltagen. Von dort streift der Weg die Arena auf Schalke, Gastgeberin für vier EM-Spiele.

Nur mit Anmeldung kommt man dort an einen ungewöhnlichen Ort im Herzen des Stadions: die Stadionkapelle. Ihr Altar steht in einer Achse zum Anstoßpunkt. Laufen die Fußballprofis vom Rasen zurück Richtung Umkleiden, führt der Spielertunnel - passend zum Ruhrgebietsverein gestaltet wie ein Bergwerksstollen – geradewegs auf die Glastür der Kapelle. "Auf dem Platz geht man aus sich heraus – in der Kapelle geht man in sich", erklärt der evangelische Stadionpfarrer Ernst-Martin Barth.

Offene Kirche Schalke
Bild: ©KNA/Nicola Trenz

Die Kirche Sankt Josef befindet sich auf dem Schalke-Pilgerweg – und lädt Fans an Heimspielwochenenden zum Verweilen ein.

Spieler und Mitarbeitende können hier für einen Moment innehalten. Taufschale und Osterkerze erzählen davon, dass hier schon 2.000 Kinder und Erwachsene getauft wurden und 600 Trauungen und Jubiläumshochzeiten stattfanden. Immer wieder führen Barth oder auch sein katholischer Kollege Georg Rücker Besuchergruppen zur Kapelle. Gottesdienste in der Kapelle unterscheiden sich nicht viel von anderen Feiern. "Es erklingt höchstens mal das Vereinslied, oder es gibt einen Seitenhieb auf Dortmund", sagt Barth schmunzelnd mit Verweis auf den schwarz-gelben Fußballrivalen Borussia.

Die Kapelle betritt man durch ein mannshohes, halbiertes Kreuz. Passend dazu hat Künstler Alexander Jokisch die Altarwand gestaltet, spielt mit dem Gegensatz von Hell und Dunkel. Die Architektur, meint Barth, verbinde die Welt des Glaubens und des Fußballs gut miteinander. "Einerseits ist es ein Ort der Euphorie und der Ekstase, wenn Zehntausende Fans ihre Mannschaften anfeuern. Aber der Weg führt dann in den Austausch mit Gott, in Ruhe, in Frieden. Auch wenn viel los ist, ist es hier sehr still."

Die Kapelle in der 2001 erbauten "Arena auf Schalke" war die erste ihrer Art in Deutschland. Inzwischen haben auch das Berliner Olympiastadion, die Spielstätten in Frankfurt und Wolfsburg nachgezogen. Damals habe sich die Vereinsspitze einen solchen Ort gewünscht; die Kirchen seien zunächst skeptisch gewesen, erzählt Barth. Auffällig: Nichts in der Kapelle ist in den Schalke-Farben königsblau-weiß; nichts zeugt sonst vom Traditionsverein. Der Raum soll keine "Zauberbude" sein, in der Fanartikel zu geistlichen Devotionalien umgedeutet werden oder für Siege gebetet wird, erklärt Barth. "Für die Gesundheit der Spieler wird gebetet und, dass das Spiel fair läuft."

Ernst-Martin Barth
Bild: ©KNA/Nicola Trenz

"Man kennt die Menschen hier; man weiß, woran sie leiden, woran sie sich freuen, weil man selbst daran leidet und sich freut", sagt Stadionpfarrer und Schalke-Fan Ernst-Martin Barth.

Barth ist bekannt in der Vereinsspitze wie auch in Fankreisen, hat auch Kontakt zur Mannschaft. Wenn in der Arena gespielt wird, ist er da. "Den Urlaub richtet man natürlich danach", sagt der Geistliche, genauso wie vermutlich Tausende andere eingefleischte Fans. Und wie schimpft man als Stadionpfarrer auf der Tribüne? "Noch so gerade einigermaßen menschenfreundlich", meint der 64-Jährige und grinst.

"Man kennt die Menschen hier; man weiß, woran sie leiden, woran sie sich freuen, weil man selbst daran leidet und sich freut." Von klein auf ist Barth Fan der Königsblauen, seit elf Jahren Stadionseelsorger. "Natürlich werde ich beim Spiel auch mal gefragt, ob ich heute schon 'ne Kerze für den Sieg angezündet habe. So läuft es zwar ja nicht; aber wenn dieser Verein die Religion der Menschen ist, dann ist sie es. Da habe ich sie nicht zu belehren. Aber ich spreche mit ihnen darüber, und dadurch hat man ja auch die Chance, für andere Sichtweisen zu werben."

Fußball sorgt für Zusammenhalt

Warum gehört Kirche auch an einen Ort, der auf den ersten Blick mehr mit Fangesängen und, ja, auch mit Alkohol als mit Gott zu tun hat? "Weil die Menschen hier sind", sagt Barth. Außerdem sei das Stadion ein Ort von Freude und Zusammenhalten. Gerade Schalke 04 sei auch immer ein Verein gewesen, der die Menschen zusammengebracht habe. Tagsüber Kohle und Stahl, Fußball in der Freizeit. "Wir haben in Gelsenkirchen große soziale Probleme. Der Bergbau ist weggebrochen, große Arbeitgeber sind weggebrochen. Wir haben die höchste Arbeitslosigkeit der ganzen Bundesrepublik. Und dann haben wir Menschen, die alles für ihren Verein tun, die überall hinfahren, ganz viel an Zeit für diesen Verein opfern, auch an Geld. Das ist schon faszinierend."

Hier sieht Barth Parallelen zwischen Fußball und Glauben. Zudem eint Fans wie Gläubige die Beständigkeit: "Blau und weiß ein Leben lang". Oder sogar darüber hinaus. Führt der Pilgerweg Extratour 04 doch weiter zum Friedhof Suntum mit einem Gräberfeld für exakt 1904 Verstorbene. In Sichtweite der Arena und aufgebaut wie ein Fußballstadion – für die ewige Ruhe im Tor, am Mittelkreis oder auf dem Stammplatz.

Von Nicola Trenz (KNA)