Bischof war früher nur für Liturgie der syro-malabarischen Kirche zuständig

Theologe: Bei den Thomaschristen hatten Laien eine Leitungsfunktion

Veröffentlicht am 15.08.2024 um 00:01 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 

Bonn ‐ Seit 2017 ist der indische Theologe und Priester Jyothish Joy im Bistum Münster. Erfahrungen mit Synodalität hat er aus seinem Heimatland und erklärt im katholisch.de-Interview, was die katholische Kirche in dieser Hinsicht von den Thomaschristen lernen könnte.

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Konzepte wie Synodalität oder Ideen aus dem deutschen Reformprojekt wie der Synodale Ausschuss und der vorzubereitende Synodale Rat sind für die Thomaschristen in Indien gewissermaßen nichts Neues. Schon im 4. Jahrhundert habe man ähnliche Gremien gekannt, erzählt der seit 2017 im Bistum Münster tätige Priester Jyothish Joy im Interview mit katholisch.de. Seit Herbst 2023 ist er in Münster mit einer halben Stelle als Seelsorger in der Katholischen Hochschulgemeinde tätig. Die andere halbe Stelle nutzt er für seine Promotion und sein Forschungsprojekt zur Synodalität bei den Thomaschristen. 

Frage: Pater Joy, Sie arbeiten seit 2017 im Bistum Münster und forschen mit einer halben Stelle zum Thema Synodalität bei den Thomaschristen. Was kann die lateinische Kirche von anderen katholischen Kirchen lernen? 

Joy: Die Kirche könnte zum Beispiel schauen, wie die bestehenden synodalen Strukturen weiter gestaltet werden können. Die Kirche ist eine Versammlung von Gleichberechtigten. In der syro-malabarischen Kirche gibt es die Idee des Palliyogam. Das Wort leitet sich ab von "Palli", der Kirche, und "Yogam", der Versammlung. Das allein zeigt schon, worum es damals ging. Das dauerte bis zur Ankunft der portugiesischen Missionare im 16. Jahrhundert. Danach wurden westliche Strukturen eingeführt. Jede Pfarrei war autonom und wurde von einem Gremium geleitet, dem Palliyogam. In diesem Gremium war jede Familie auf dem Territorium der Pfarrei vertreten. Einer von der Familie war in diesem Palliyogam als Mitglied, der Vorsitzende war der älteste Priester der Gemeinde. In diesem Gremium wurde alles besprochen und entschieden, was die Gemeinde betraf. Alle hatten die gleichen Rechte und Pflichten, alle waren stimmberechtigt. So wurde damals die Gemeinde geleitet. Jedes Mitglied hatte eine Stimme und niemand, auch kein Priester oder Bischof, konnte sich über die Beschlüsse hinwegsetzen.  

Frage: Wie ein Pfarrgemeinderat, nur mit Leitungskompetenz? 

Joy: Genau. Es war kein Beratungsgremium, sondern eines, das Entscheidungen treffen musste. Dieses Gremium hatte viele Aufgaben. Wenn zum Beispiel jemand Priester werden will, muss das Gremium dies zuerst bestätigen. Oder wenn eine Erwachsenentaufe stattfinden sollte, dann muss das von dem Gremium genehmigt werden. Ein solches Gremium gab es nicht nur auf Pfarreiebene, sondern auch für Regionen. Dieses Regions-Palliyogam bestand aus mindestens vier Pfarreien bzw. deren Repräsentanten. Und für die ganze Kirche der Thomaschristen gab es ebenfalls ein solches Gremium.  

Frage: Für ein Bistum oder für die ganze Kirche? 

Joy: Zu der Zeit gab es noch kein Bistumskonzept. Also neben dem Palliyogam auf Pfarreiebene gab es das für die Regionen und eins für die gesamte Kirche der Thomaschristen. Schon damals gab es für dieses Gremium eine Art Doppelspitze, denn der Bischof war nicht für die Leitung zuständig. Zu der Zeit kamen die Oberhirten von der chaldäischen Kirche und sie hatten nur liturgische Aufgaben inne. Die Thomaschristen und die chaldäischen Christen hatten das gleiche Erbe, den Apostel Thomas. Der eigentliche Leiter der Thomaschristen war ein Erzdiakon – der Erzdiakon von ganz Indien.  

Eine Liturgie im syro-malabarischen Ritus
Bild: ©picture alliance / NurPhoto | Creative Touch Imaging Ltd

Bei den Thomaschristen waren Liturgie und Leitung getrennt: Der Erzdiakon war für die politische, finanzielle und gesellschaftliche Aufgaben zuständig, der Bischof nur für die Liturgie.

Frage: Wie sah diese Doppelspitze aus? 

Joy: Der Erzdiakon war für die Leitung zuständig, der Bischof nur für die Liturgie. Der Bischof war das geistliche Haupt. Der Erzdiakon hatte alle politische bzw. gesellschaftliche und finanzielle Aufgaben. Der Erzdiakon aber hat die christliche Gemeinde geleitet. In wichtigen Fragen musste er allerdings das Gremium konsultieren.  

Frage: Was waren Aufgaben des Gremiums, das für die Kirche Indiens zuständig war? 

Joy: Eine der Aufgaben war, dass Ausgesandte des Gremiums, das für die Gesamtkirche in Indien zuständig war, neue Bischöfe bestellt hat. Man ersuchte beim Patriarchen der chaldäischen Kirche Bischöfe für Indien. Dies waren aber zu der Zeit Mönche, anders als heute. Dieses System, Bischöfe zu bestellen, ging vom 4. bis zum 16. Jahrhundert ohne Probleme. Ebenso war die Doppelleitung für die Bischöfe damals in Ordnung, aber auch für die Laien, denn diese hatten dadurch nicht nur Mitspracherecht, sondern vor allem Entscheidungsgewalt. 

Frage: Für heutige Verhältnisse ist das fast unvorstellbar. Das heißt, Laien waren in dem Gremium präsent und waren keine Berater, sondern waren an der Kirchenleitung beteiligt?  

Joy: Genau. Und noch etwas anderes: Die Priester waren damals verheiratet, die meisten jedenfalls. Es gab aber auch unverheiratete Kleriker. Aber um auf die verheirateten Priester zurückzukommen: Deren Familien gehörten auch zur Gemeinde, sie waren ein Teil davon – nicht über ihr, sondern mittendrin. Ich merke das, wenn ich orthodoxe Kirchen dort besuche. Der Kleriker und seine Familie gehören normal dazu, man ist irgendwie auf gleicher Ebene.  

„Die damalige Idee von Doppelleitung war für die Bischöfe in Ordnung, aber auch für die Laien, denn diese hatten dadurch nicht nur Mitspracherecht, sondern vor allem Entscheidungsgewalt.“

—  Zitat: Pater Joy

Frage: Nach dem 16. Jahrhundert wurde das Konzept dann abgeschafft? 

Joy: Als die portugiesischen Missionare nach Indien kamen, waren die Beziehungen noch gut. Später hatten die portugiesischen Bischöfe angefangen, die Thomaschristen zu latinisieren. Dann gab es Streit zwischen den Thomaschristen und den Missionaren. So wurde die Kirche gespalten. Ein Teil der Thomaschristen blieb mit der römisch-katholischen Kirche verbunden, das sind die syro-malabarischen Christen. Der andere Teil spaltete sich ab – das ist die orthodoxe Kirche in Indien. Mit den Jahren wurde die syro-malabarische Kirche dann immer mehr latinisiert, das Konzept des Palliyogams hat seine Kraft verloren und die "neue" Pfarreistruktur wurde eingeführt.  

Frage: Gibt es das noch immer in der syro-malabarischen Kirche? 

Joy: Ja, die syro-malabarische Kirche hat das Palliyogam wieder eingeführt, aber in einer abgeschwächten Form und nur auf Pfarreiebene. Auf höherer Ebene habe sich dagegen die Theologie des Ersten Vatikanischen Konzils durchgesetzt – nicht mehr das Palliyogam, nicht mehr Laien oder die bereits erwähnte Doppelspitze, sondern der Bischof ist Herr über sein Bistum. Die Laien haben kein Leitungsamt mehr inne, sie sind nur noch zur Beratung da. Dagegen gab es keine wirklichen Proteste, denn die neue Struktur wurde vor über einigen Jahrhunderten eingespielt. 

Die neue abgeschwächte Form des Gremiums, die es nur auf Pfarreiebene gibt, beschäftigt sich mit einigen Fragen, die die Pfarrei betreffen. Beispielsweise muss der jährliche Finanzbericht dort besprochen und genehmigt werden. Und wenn die Pfarrei ein Grundstück verkaufen möchte, dann muss es ebenfalls in diesem Gremium diskutiert werden. Es gibt dazu ein weiteres System von ehrenamtlichen Verwaltern in jeder Pfarrei, den sogenannten "Kaikas". Diese werden von dem Gremium für ein Jahr gewählt und bestehen aus zwei bis drei Personen, wobei es natürlich auf die Größe der Pfarrei ankommt. In meiner letzten Pfarrei waren 250 Familien, die hatten zwei ehrenamtliche Verwalter. Diese Verwalter leiten die Pfarrei mit dem leitenden Pfarrer.  

Syro-malabarische Bischöfe mit dem Papst
Bild: ©picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Gregorio Borgia

Die syro-malabarische Kirche steht in Gemeinschaft mit der katholischen Kirche und erkennt den Papst als Kirchenoberhaupt an. Immer wieder besuchen daher auch syro-malabarische Bischöfe den Pontifex.

Frage: Nach der Latinisierung und der damit einhergehenden Strukturreform hat jede Pfarrei nicht mehr das Palliyogam als Leitungsgremium an der Spitze, sondern einen Pfarrer? 

Joy: Genau, heute gibt es einen leitenden Pfarrer in jeder Pfarrei. Das ist eine Kombination des westlichen und indischen Systems. Früher gab es zwar auch einen Pfarrer, aber der hatte nur liturgische Aufgaben inne. Um auf die ehrenamtlichen Verwalter zurückzukommen: Sie helfen dem Pfarrer in finanziellen und vermögenswirtschaftlichen Fragen.  

Frage: Waren Frauen an der Leitung beteiligt? 

Joy: Früher war das Konzept ziemlich patriarchalisch, denn es war nur Männern vorbehalten. Mitglied in diesem Leitungsgremium war immer der Vater als Haupt der Familie. Was Frauen angeht: Hin und wieder gab es mächtige Frauen, die sich durchgesetzt haben. In meiner Forschung habe ich gesehen, dass es eine ältere Frau gab, die sehr mächtig war und in ihrem Dorf eine Kirche erbauen wollte. Sie ist auf eigene Faust zum Bischof gegangen, um ihre Idee durchzusetzen. Das ist ihr auch gelungen. Also, einzelne Frauen gab es schon aber im Prinzip war das Konzept des Leitungsgremiums sehr patriarchalisch. Heute ist es so, dass jedes Gremium ca. 30 Prozent an Frauen haben muss.  

Von Mario Trifunovic