Liturgiewissenschaftler ordnet Kritik an Kult um jugendlichen Bald-Heiligen ein

Benini über Carlo Acutis: "Zu seiner Verehrung muss nicht jeder gehen"

Veröffentlicht am 30.07.2024 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Trier ‐ Warum verehren Menschen die Reliquien eines verstorbenen Menschen? Liturgiewissenschaftler Marco Benini aus Trier versucht im katholisch.de-Interview, den Kult um den seliggesprochenen 15-jährigen Carlo Acutis aus Italien einzuordnen – und erklärt, wie er persönlich dazu steht.

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Früher schon, zur Zeit der Reformation, wurde es diskutiert, ob der Reliquienkult sinnvoll ist. Doch bis heute ist es eine lange Tradition in der Kirche, dass Menschen als Selige oder Heilige verehrt werden und dazu ihre Gebeine der Öffentlichkeit zur Verehrung präsentiert werden. Marco Benini ist Liturgiewissenschaftler an der Theologischen Fakultät in Trier und erklärt im Interview mit katholisch.de, was den Kult um den Seligen Carlo Acutis für ihn sympathisch macht. Auch wenn er manches kritisch sieht. 

Frage: Herr Professor Benini, die vergangene Reise des Herzens von Carlo Acutis durch verschiedene Städte in Deutschland, Belgien und Holland, wie sehen Sie das im Rückblick? 

Marco Benini: Grundsätzlich finde ich es in Ordnung, dass der Selige Carlo Acutis durch Reliquien präsent gemacht wird. Ich finde ihn als Menschen sympathisch. Er war ein 15-jähriger Jugendlicher, der sich intensiv mit seinem Glauben auseinandergesetzt hat, der von der Eucharistie gelebt hat und der sich mit Wunder beschäftigt hat. Es ist tragisch und traurig zugleich, dass er so früh an einer sehr aggressiven Leukämie erkrankt und daran verstorben ist. Sein Leben zeigt, Heiligkeit ist auf kein bestimmtes Lebensalter festgelegt: Schon Jugendliche können heilig sein. Carlo Acutis kann für Menschen von heute ein Vorbild sein, denn er ist ein Zeitgenosse von uns gewesen. Seine Herz-Reliquie wurde übrigens bereits zum Weltjugendtag nach Lissabon gebracht. Es gibt neben ihm noch andere junge sympathische Heilige der Kirche, Mädchen wie Jungen. Er ist gerade der erste seliggesprochene Millennial der Kirche und das ist das Außergewöhnliche bei ihm. Letztlich ist er kein Star für sich, sondern macht durch sein Leben deutlich, wie Jesus an ihm gewirkt hat.

Frage: Können Sie verstehen, dass es Kritik an dieser Form der Verehrung eines toten Menschen gibt?

Benini: Ja, wenn sich der Kult verselbständigt, dann kann es schnell kippen und schräg werden. Auch wenn jemand denkt, die Reliquien könnten magisch wirken. Ein Heiliger will zu Jesus hinführen und steht eigentlich nicht selbst im Mittelpunkt. Schon früh gab es eine kritische Auseinandersetzung mit dem Reliquienkult der Kirche, besonders bei Übertreibungen etwa zur Zeit der Reformation, als manche Kirchen - zum Beispiel in Wittenberg - sich eines riesigen Reliquienschatzes rühmten, Ablässe propagierten und das Vertrauen mehr in die Reliquien setzten statt in Gott selbst. Zuvor schon wurde festgeschrieben, dass man Reliquien nicht verkaufen darf, um den Handel mit Reliquien einzudämmen. Man wusste oft gar nicht mehr, ob die Knochen echt sind oder nicht. Das war alles nicht in Ordnung. Daher hat die Kirche strenge Vorschriften erlassen für die Verehrung von Reliquien. Es gibt ein eigenes vatikanisches Schreiben, das das klar regelt. Die Instruktion heißt: "Die Reliquien in der Kirche: Echtheit und Aufbewahrung". Natürlich sind die Heilige Schrift, die Eucharistie und die Sakramente wichtiger als Reliquien. Dennoch gehört auch die Verehrung eines Heiligen in seinen Reliquien zur katholischen Glaubenstradition, die bis ins zweite Jahrhundert zurückreicht.

Frage: In dem Schreiben steht auch, dass ein Bischof bei der Entnahme der körperlichen Teile dabei sein soll. Wer übernimmt die Aufgabe der Entnahme der Organe oder Körperteile? Gibt es dafür einen speziellen Chirurgen im Vatikan?

Benini: Das weiß ich nicht genau, wer für diese Aufgabe zuständig ist. Ich denke jedoch, dass das jemand mit der nötigen anatomischen Expertise und den erforderlichen Fähigkeiten übernimmt.

Frage: Passt es überhaupt noch in unsere Zeit, dass man menschliche Überreste einer Leiche verehrt?

Benini: Ich jedenfalls kann es ganz gut nachvollziehen, dass es ein Bedürfnis nach konkreter Nähe gibt. Wenn jemand aus der Familie verstorben ist, dann haben viele weiterhin die Sehnsucht, diesem verstorbenen Menschen nahe zu sein und gehen dann auf den Friedhof an das Grab. Natürlich denkt man auch andernorts an den Verstorbenen, aber dort weiß man sich mit ihm besonders verbunden. Als Christen, die an die Auferstehung glauben, wissen wir, dass der Körper, also die sterblichen Überreste dort im Grab sind, die Person, ihre Seele aber bei Gott. Das Grab hilft, mit der verstorbenen Person in Kontakt zu bleiben. Das ist ein Schlüssel, um die Reliquienverehrung zu verstehen. Durch eine Reliquie kann ich mich einer verehrten Person nahe wissen. Eine Reliquie ist immer ein pars pro toto und steht als Stück für den ganzen Menschen. Bei Carlo Acutis wurde das Herz gewählt, weil es die Mitte der Person ist. Die Menschen erwarten sich etwas, wenn sie vor seiner Reliquie beten. Sie stellen sich vor, dass Carlo Acutis nun da ist. Es gibt so eine Sehnsucht nach Nähe und Konkretion auch im Glauben.

Bild: ©Philipp Lürken

"Es ist eine Art der Trauerbewältigung. Seine Mutter hat ein Buch über ihn geschrieben und vermarktet ihn damit ein Stück weit", sagt Marco Benini, Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität in Trier.

Frage: So eine Reliquienverehrung eines Menschen und die angestrebte Heiligsprechung ist mit großem Aufwand verbunden. So einen Hype um seine Person und sein Herz hätte Carlo Acutis vielleicht gar nicht gewollt?

Benini: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Carlo Acutis mit so einer großen Verehrung seiner Person gerechnet hat. Ich denke aber, dass er nichts dagegen gehabt hätte. Alles, was den Glauben sinnvoll stärken kann, ist erst mal gut. Carlo Acutis wollte ja viele Menschen erreichen, daher nutzte er das Internet für seine Glaubenskommunikation. Die Reliquien-Tournee führt dazu, dass Menschen sich mit seinem Leben beschäftigen. Auch wir reden jetzt deshalb darüber. Für seine eigene Mutter war es bestimmt ein großer Schmerz, dass sie ihn verloren hat und nichts mehr für ihn tun konnte. Das war bestimmt für alle seine Freunde ein Schock, als er 2006 so plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Viele wollen nun einiges über sein Leben und seinen Glauben wissen. Es ist eine Art der Trauerbewältigung. Seine Mutter hat ein Buch über ihn geschrieben und vermarktet ihn damit ein Stück weit. Ich habe sie sogar einmal zufällig in Washington kurz gesehen. Es ist bestimmt schön zu wissen, dass ihr Sohn Carlo in so vielen Herzen von Menschen weiterlebt. Man muss es nicht schlechtreden. Für mich wird dabei deutlich: Auch junge Menschen können andere dazu motivieren, Jesus nachzufolgen. Carlo Acutis ist zu einem Vorbild für andere Menschen geworden. Bestimmt schon zu seinen Lebzeiten. Er hat aus dem Evangelium gelebt, auch Obdachlose mit seinem Taschengeld unterstützt. Und gleichzeitig war er ein ganz normaler Junge, der gerne gegessen hat, sich mit dem Computer beschäftigt und Fußball gespielt hat.

Frage: Aber das heißt, dass wir Menschen eine Person erst durch seine Verehrung heilig machen?

Benini: Nein, Gott macht uns heilig. Unabhängig von jeder Heiligsprechung sind alle Menschen berufen, heilig zu werden und einmal nach dem Tod als seine geliebten Kinder ganz bei ihm zu sein. In dieser Gemeinschaft mit Gott – Himmel genannt – beten sie für uns. Bei Taufgesprächen sage ich den Eltern immer: Eltern kümmern sich um ihr Kind und die Großeltern auch. Wenn die Großeltern sterben und im Himmel sind, dann beten sie von dort aus weiterhin für ihr Kind. Diese Liebe ist ein Beziehungsband, das zwischen Erde und Himmel bestehen bleibt. Das geschieht genauso bei den Heiligen. Die Fürsprache der Heiligen meint, dass sie für uns im Himmel beten. Einige Menschen ragen durch ihr Verhalten zu Lebzeiten vorbildhaft hervor und werden dann durch einen Selig- und Heiligsprechungsprozess besonders gewürdigt.

Frage: Wäre es nicht besser, dass man den Körper von Carlo Acutis am Stück belässt und an seinem Grab betet?

Benini: Durch die Reliquien haben viel mehr Menschen die Möglichkeit, dem Heiligen näher zu kommen. Allerdings dass ein Mensch für diese Zwecke der Verehrung zerteilt wird, ist in der Kirche erst ab dem Frühmittelalter üblich. Früher hat man den Körper eines Heiligen oder Märtyrers am Stück gelassen. Man hat am Grab der verehrten Person eine Gedenkstelle oder dann eine Kirche errichtet, etwa in Rom St. Peter über dem Petrusgrab. Allerdings hat schon Ambrosius im vierten Jahrhundert Märtyrergebeine umgebettet. Heute ist klar geregelt, dass man erst nach der Seligsprechung Reliquien eines Menschen verehren oder sie auf einem Altar aussetzen darf. In vielen Altären finden sich Reliquien von Heiligen, auch wenn es nicht mehr vorgeschrieben ist. Das wurde neben der frühchristlichen Praxis, über den Gebeinen der Märtyrer die Messe zu feiern, auf eine Stelle in der Offenbarung des Johannes zurückgeführt, dass unter dem Altar die Märtyrer seien (vgl. Offb 6,9).

Frage: Steht Carlo Acutis für eine konservative Richtung innerhalb der Kirche und damit einer besonderen Eucharistiefrömmigkeit?

Benini: Es stimmt schon, dass er eine eher konservative Haltung innerhalb der Kirche anspricht. Schon allein, dass er eine Internetseite erstellt hat, auf der zahlreiche eucharistische Wunder aufgelistet und beschrieben werden, spricht dafür. Doch ich glaube, dass für alle Christen die Eucharistie zentral sein sollte. Für mich selbst ist die Feier der Eucharistie zentral und die Gegenwart Christi das eigentliche Wunder – nicht die aufgelisteten Wunder. Und ich feiere sie auch jeden Tag mit einer großen Freude.

Frage: Haben Sie die Reliquie des Carlo Acutis besucht?

Benini: Nein, bislang nicht. Wenn der Selige Carlo Acutis in der Herz-Reliquie nach Trier gekommen wäre, wäre ich dort hingegangen, weil er ein moderner, junger Heiliger ist. Ich wäre dafür aber nicht extra nach Köln oder München gefahren. Ich würde mir davon selbst keinen extra Zuwachs meiner Frömmigkeit versprechen. Zu seiner Verehrung muss nicht jeder gehen. Wer sich aber hingezogen fühlt, kann das gerne tun. Das soll jeder für sich entscheiden. Wenn das jemand nicht möchte, ist das auch gut. Es ist kein Gradmesser für den Glauben.

Von Madeleine Spendier