Kirchenhistoriker: Geschlechtlichkeit Jesu ist immer zeitabhängig
Jesus mit Brüsten oder die Seitenwunde als Uterus – die Kirchengeschichte aus 2.000 Jahren hat viele Christusbilder entstehen lassen, die mit ganz unterschiedlichen Genderbildern spielen. Der Erlanger Kirchenhistoriker Anselm Schubert hat diese Projektionen in seinem neuen Buch "Christus (m/w/d). Eine Geschlechtergeschichte" erforscht. Im Interview spricht er über zeitabhängige Blicke auf das Geschlecht und was sie für heutige Jesusbilder bedeuten.
Frage: Herr Schubert, in Ihrem Buch schauen Sie auf Genderbilder Christi. Inwiefern?
Schubert: Wie wir Jesus Christus sehen, hängt davon ab, was wir unter männlich, weiblich und androgyn jeweils verstehen. Ich habe versucht, zu rekonstruieren, dass sich das seit der Antike grundlegend geändert hat und, dass deshalb die Frage, ob ein Christus männlich oder weiblich ist, je nach Zeit ganz unterschiedlich beantwortet werden kann. Was uns aus heutiger Sicht androgyn erscheint, muss es nach antiker Vorstellung gar nicht gewesen sein, was uns heute weiblich erscheint, muss im Mittelalter nicht so angesehen worden sein – oder was in der frühen Neuzeit tatsächlich androgyn war, wäre im Mittelalter nie so betrachtet worden. Je nach Paradigma stellt sich die Geschlechtsidentität Christi völlig unterschiedlich dar.
Frage: Können Sie ein Beispiel nennen?
Schubert: In der Antike wurde Christus völlig selbstverständlich als Mann angesehen, als vollkommener Mann – das bedeutete vollkommene Männlichkeit als eine im Prinzip auf Asexualität beruhende vollkommene Beherrschung des Körpers und der Sexualität. Dabei sind aber gleichzeitig nach dem antiken Geschlechtermodell Männlichkeit und Weiblichkeit nicht komplett voneinander geschieden, sondern wurden in gleitenden Übergängen gedacht. Die Männlichkeit Jesu hatte da also nichts mit seinem biologischen Geschlecht zu tun, sondern ist ein Index für Vollkommenheit. Damit verbunden waren auch Vorstellungen, dass Frauen sich durch Askese in Männer verwandeln konnten. Die Geschlechtergrenzen, die die katholische Kirche bis heute so wahnsinnig stark hochhält, lässt sich am antiken Geschlechtermodell nicht beweisen.
Frage: Christus wurden in der Vergangenheit dezidiert weibliche Attribute zugeschrieben. Dazu gehören Brüste, seine Seitenwunde wurde aber auch als Uterus interpretiert. Woher kommt das?
Schubert: Das wissen wir nicht, denn wir haben nicht ausreichend Quellenmaterial. Diese Motive tauchen Anfang des 13. Jahrhunderts plötzlich auf. Sie kommen aus der Ordensmystik der weiblichen Orden, vor allem bei Dominikanerinnen. Es geht wohl in erster Linie um Identifikation. Vorstellungen vom Nähren und Gebären scheinen im Mittelalter vor allem mit Aspekten wie Fürsorge, Gnade, Erbarmen, Demut und Liebe verbunden worden zu sein. Das zeigt, dass sich hier das Christusbild geändert hat. Er war nicht mehr nur der ewige Gottessohn und unendliche Weltenherrscher, sondern wurde nun nahbarer gedacht. Hier geht es aber nicht um Geschlechtszuschreibungen, sondern um bestimmte Projektionen auf Christus. Wir haben es mit literarischen und theologischen Texten zu tun, nicht mit dogmatischen.
Frage: Ab der Aufklärung setzt sich dann ein "wissenschaftliches" Geschlechterbild durch – auch mit Blick auf Jesus?
Schubert: Ab dem späten 18. Jahrhundert entwickelt sich die Form des modernen Geschlechterverständnisses, die wir meist unausgesprochen in den heutigen Diskursen auch voraussetzen: Jenes eines essenziellen Unterschieds zwischen Männern und Frauen. Männer sind hart, erobernd, rational. Frauen fürsorglich, gebärend, privat, emotional und so weiter – die ganze patriarchale Partitur. Kaum, dass dieses Geschlechtermodell der Spätaufklärung allgemein akzeptiert wird, beginnen Theologen, sich Jesus distinkt männlich vorzustellen, was vorher eigentlich gar kein Thema war. Das zieht sich in der katholischen Kirche bis heute durch und hat Einfluss auf die Konzeption des Priestertums. Erst im 20. Jahrhundert kommt die Reaktion auf dieses explizite Männlichkeitsbild mit der feministischen Theologie und eine Debatte über die Geschlechtlichkeit Jesu. Das sind aber jeweils Diskussionen kleiner Kreise, der Mainstream der christlichen Kulturgeschichte bleibt immer der einer scheinbar völlig normalen, unthematisierten wie selbstverständlichen Männlichkeit, was immer man sich darunter vorstellt.
Frage: Dabei verhält sich Jesus in der Bibel doch eigentlich nicht besonders prototypisch männlich, oder?
Schubert: Das hängt davon ab, welche Schrift im Neuen Testament man sich anguckt: In den synoptischen Evangelien scheint – im Sinne der Aufklärung gesprochen – der Weisheits- und Menschheitslehrer durch, der über die grünen Hügel Galiläas streift und in Gleichnisse spricht. Das scheint nicht unserem Bild von hegemonialer Männlichkeit zu entsprechen. Das sieht in späteren Schriften anders aus: Man stelle sich den eingeborenen Gottessohn des Johannes-Evangeliums vor, dem die Hoheit niemals abhandenkommt. Er ist nicht nahbar, sondern immer eins mit dem Vater. Der Christus in der Apokalypse kommt als Weltenrichter – viel hegemonialer geht es nicht mehr. Das zeigt, dass es auch in der Antike unterschiedliche Vorstellungen von Männlichkeit gab, die in unseren heutigen Augen nur schwer zusammengehen. Wie das damals aussah, ist aber noch kaum erforscht.
Frage: Welche Rolle spielt da der Jesus so weithin unterstellte Zölibat?
Schubert: Das ist die Standardvorstellung vom Neuen Testament bis heute. Das heißt nicht unbedingt, dass der historische Jesus unverheiratet war. Es wurde aber von Anfang an so geglaubt. Die Frage danach wird auch eigentlich erst mit der Religionskritik in der Aufklärung gestellt. Im 19. Jahrhundert mit seiner bürgerlichen Moral stellt man sich dann Jesus manchmal als Witwer vor, um Ehe wie Zölibat unter einen Hut zu bekommen. Doch das alles bleibt wiederum auf kleinere akademische Kreise beschränkt. Bei möglichen Nachkommen Jesu sind wir dann endgültig bei Verschwörungen à la Dan Brown. Eine Ehe Jesu wird nirgends in der Bibel erwähnt – und dem wäre sicher so gewesen, wenn er eine geführt hätte. Den Zölibat halte also auch ich für die wahrscheinlichere Variante.
Frage: Wie sieht es denn mit einem queeren Jesus aus?
Schubert: Diese Sicht kommt erst in den 1990er Jahren auf und bewegt sich wiederum in Kreisen der Religionskritik oder zumindest der Kritik der traditionellen religiösen Vorstellungen. Da ist viel an Provokation dabei, das ist auch so gewollt. Damit machen wir aber heute genau das gleiche wie unsere Vorfahren in anderen Jahrhunderten: Wir projizieren unsere Geschlechterbilder von heute auf jemanden von vor 2.000 Jahren. Was hätte damals als queer gegolten? Etwas völlig anderes als heute. Aber diese Projektionen sind Teil einer lebendigen Auseinandersetzung mit Jesus, insofern würde ich das gar nicht verurteilen.
Frage: Es geht also immer um ein Selbstverständnis einer Zeit.
Schubert: Wir kommen als Menschen nicht darum herum, uns unsere Bilder von Gott zu machen, obwohl uns eigentlich aufgetragen ist, genau dies nicht zu tun. Die Bilder, die man sich von Jesus und seinem Geschlecht machen kann, können extrem divers ausfallen. Da kommt niemand um die eigene religiöse Sozialisation herum.
Frage: Was bedeutet das denn für uns heute?
Schubert: Jede Aussage, die wir über Jesus Christus machen, müssen wir immer auf die sich wandelnden historischen Paradigmen abklopfen. Floskeln wie etwa, dass Jesus einst als Mann oder als Frau wiederkommen wird, sind inhaltsfrei – denn was soll Mann-sein oder Frau-sein genau bedeuten? Die Antwort unterscheidet sich je nach Zeitkontext. Wir argumentieren immer mit unausgesprochenen Voraussetzungen, über die wir uns wenig Rechenschaft ablegen. Gerade in der Geschlechterfrage und bei der jetzigen Debatte um die Emanzipation diverser und anderer Lebensentwürfe hielte ich es für sinnvoll, wenn wir uns sehr deutlich klar machen würden, von woher wir eigentlich argumentieren. Sowohl die evangelische traditionelle Theologie als auch der offiziellen katholischen Theologie ist bis heute weithin einem Geschlechterverständnis des 19. Jahrhunderts verhaftet und projiziert das völlig unproblematisiert sowohl ins Markusevangelium als auch auf Thomas von Aquin. Dazu gehört zum Beispiel, dass es nur zwei von Gott geschaffene Geschlechter gebe, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Wenn wir uns klarmachen, wie vorläufig viele unserer vermeintlich natürlichen Vorstellungen von Geschlechterordnungen und wie historisch diese sind, dann steckt darin das Potenzial für eine Emanzipation von traditionellen essenzialisierenden Geschlechtervorstellungen. Was ein Individuum dann daraus macht, muss jeder selbst wissen – das ist nicht Aufgabe der Kirche.
Buchtipp
Anselm Schubert: Christus (m/w/d). Eine Geschlechtergeschichte. München: C. H. Beck 2024