Im Mittelalter war der Spott gegen die Kirche schärfer als heute
Man stelle sich heute folgendes Szenario vor: Die Sakristeiglocke bimmelt, und eine Schola beginnt mit einem gregorianischen Gesang. Doch schon nach wenigen Augenblicken merken Sie: Hier ist etwas ganz anders als sonst! Der Zelebrant ist gar kein Priester, sondern Ihnen als Bassist aus dem Kirchenchor bekannt – zudem trägt er zwischen zwei künstlichen Eselsohren eine Bischofsmitra und macht merkwürdige Sprünge anstatt Kniebeuge und Verneigung. Die lateinischen Texte (soweit Sie diese verstehen können) sind völlig verhunzt und mindestens doppeldeutig; nicht wenige enthalten derbe erotische Anspielungen. Statt "Amen" antwortet die Gemeinde um Sie herum entweder mit "Stramen" ("Prost!") oder mit dem Eselsschrei "I-A!". Die Geistlichen sind als Dirnen, Musikanten oder Tiere verkleidet, tanzen durch den Altarraum und stimmen zotige Gesänge an, deren biologische Konkretheit Ihnen die Schamesröte ins Gesicht treibt. Und der Diakon breitet auf dem Altar sein Essbesteck aus und verzehrt vor aller Augen die mitgebrachten Bratwürste! Und das alles an heiligstem Ort! Ein blasphemisches "Armageddon" für jene frommen Seelen, für die schon die jährliche Narrenmesse mit Kostümen und gereimter Predigt eine liturgische Horrorvision ist.
Zugleich ist das aber ein Stück Realität der Kirchengeschichte! Die eingangs geschilderten Szenen könnten aus einer "Eselsmesse" stammen (lat. Festum Asinorum oder asinaria festa), so wie sie in einigen mittelalterlichen Handschriften überliefert ist. Dass ausgerechnet der Esel die Hauptrolle in diesem liturgischen Narrenspiel übernimmt, hat mehrere Gründe: Zum einen ist es ein Tier, das in der Bibel des Öfteren erwähnt wird – so in der Bileams-Erzählung aus dem Buch Numeri (22-24) und bei der Flucht nach Ägypten (Mt 2,13-15). Letztere wurde übrigens schon im Mittelalter liturgisch-spielerisch nacherzählt, indem man an jedem 14. Januar ein junges Mädchen auf einen Esel setzte, zur Kirche führte und dort eine Messe feierte. Der Esel galt seit der Antike nicht nur als ein störrisches und eigensinniges Tier, sondern war aufgrund seiner Geschlechtsorgane, mit denen die Natur ihn üppig begabt hat, auch der Inbegriff von Potenz und sexuellem Begehren. Das öffnete das Tor für jede Art von zotigen Dichtungen und Doppeldeutigkeiten: Wenn z. B. in einem Prozessionsgesang aus dem Codex Egerton 2615 (British Library London) der Esel angefeuert wird mit dem Ruf "Hey, Sire asne, hey" (Voran, Herr Esel, voran), dann kann damit durchaus auch etwas anderes gemeint sein als die Aufforderung, schneller zu laufen!
Mindestens einmal im Jahr wurden im hohen und späten Mittelalter die liturgischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Hierin war die Kirche Erbin der römischen Antike, in der die sogenannten "Saturnalien" zur Zeit der Wintersonnenwende begangen wurden: üppige Festivitäten, in denen die eigentlichen Autoritäten nichts galten und Herren und Sklaven wie auch Erwachsene und Kinder ihre Rollen tauschten.
Schabernack und Narrenbischof
In den Klöstern und an den großen Stifts- und Kathedralkirchen, denen Schulen angeschlossen waren, hielt man es ebenso. Zumeist waren es die Tage vor dem Beginn der Fastenzeit, bevor man dem Fleisch sechs Wochen lang "Ade!" sagen musste ("Carne vale!"); aber auch die Tage nach Weihnachten – insbesondere der 28.12., das "Fest der Unschuldigen Kinder" – waren für derartigen Schabernack beliebt. Da wurde ein Kinderabt oder Narrenbischof bestimmt, der für einen Tag das Sagen hatte, während die sonstigen Autoritäten in dieser Zeit entmachtet waren und denen gehorchen mussten, die ihnen sonst untertan und zu Gehorsam verpflichtet waren. Das galt dann auch für das Heiligste, was ansonsten im Kloster oder im Stift begangen wurde: die Liturgie! Da blieb kein Stein mehr auf dem anderen – und alles wurde ins Gegenteil verkehrt, wobei man nicht selten die konkreten liturgischen Vorbilder (wie Gebete, Gesänge und Schriftlesungen) identifizieren konnte.
Die Eselsmesse war nicht die einzige liturgische Parodie; da gibt es z. B. in den "Carmina burana" (Codex clm 4660 der Bayerischen Staatsbibliothek München, eine mittelalterliche Handschrift mit vielen religiösen und moralischen Texten, aber auch Liebesgedichten und Spottversen) eine "Messe der Würfelspieler". In den Gesängen dieser Messparodie, die allesamt Vorbildern aus dem Repertoire des Gregorianischen Chorals nachempfunden sind, wird der fiktiven Gottheit Decius gehuldigt, der als himmlischer Patron der Würfelspieler angerufen wird. So wird aus dem Einzugsgesang "Gaudeamus omnes in Domino diem festum celebrantes sub honore Benedicti abbatis" (Lasst uns alle freuen im Herrn am Festtag des Abtes Benedikt) in der Würfelspielermesse "Lugeamus omnes in Decio diem festum deplorantes pro dolore omnium lusorum" (Lasst uns alle klagen in Decius am Festtag, an dem wir weinen über die Leiden aller Würfelspieler). Und die Ostersequenz "Victimae paschali laudes immolent Christiani" (Weihet dem Osterlamm, Christen, Gesänge des Lobes) wird ein Aufruf, dass die neuen Opfer der "Fünf" (damit ist die Augenzahl auf dem Würfel gemeint) Decius huldigen sollen: "Victimae novali zynke immolent deciani." Der Gesang wird jedoch immer wieder unterbrochen: "Ses" – Sechs – ruft eine Stimme dazwischen, um anzuzeigen, dass ein anderer Würfelspieler soeben die "zynke" (fünf) übertroffen hat. Bei beiden Gesängen wird die gregorianische Melodie erkennbar beibehalten.
Aber auch die Heilige Schrift ist vor der Verballhornung nicht sicher: Lautet die reguläre Ankündigung der Lesung aus dem Evangelium "Lectio sancti evangelii secundum Marcum" (Lesung aus dem heiligen Evangelium nach Markus), so wird daraus in der Würfelspielermesse "Lectio sancti evangelii secundum marcam argenti" (Lesung aus der Frohbotschaft nach dem falschen Silberling). Diese Perikope übrigens endet mit der Schilderung des Schicksals eines glücklosen Würfelspielers, der zuerst sein Vermögen und dann schließlich sogar seine Kleider verliert und am Ende der Partie nackt davonrennen muss!
"Der Trug sei mit euch"
Wer sich mit der lateinischen Liturgie ein wenig auskennt, der wird anhand der folgenden "Oration" (die bis hinein in die Klanggestalt der Wörter einem seriösen lateinischen Tagesgebet nachgebildet ist) das Prinzip der liturgischen Parodie plastisch nachvollziehen können: "Fraus vobis. Tibi leccatori. Ornemus. Deus, qui concedis trium deciorum maleficia colere: Da nobis in aeterna tristitia de eorem societate lugere. Per eiusdem dominum nostrum, qui tecum in unitate diaboli ludit et ludit per omnia saecula saeculorum." "Der Trug sei mit euch! Auch mit dir, du Schmarotzer! Lasset uns (uns) aufputzen! Gott, du hast uns gewährt, die Übeltaten der drei Würfel zu verehren. Schenke uns, dass wir in ewiger Traurigkeit ihre Gemeinschaft beweinen. Durch ihn, unseren Herrn, der mit dir in der Gemeinschaft des Teufels spielt und spielt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen."
Gerade diese Ähnlichkeit mit einer echten Oration macht die Parodie möglicherweise für manchen heute zu einer mentalen Herausforderung: Darf man mit heiligen Texten so umgehen? Ist das nicht Lästerung, Blasphemie?
Was bringt uns heute dieser Blick in die mittelalterliche Geschichte unserer Kirche? Sicherlich würde die "Eins-zu-eins"-Realisierung einer Eselsmesse – so wie sie zu Beginn des Artikels geschildert ist – heute in einem aktuell genutzten Kirchenraum massive und nachvollziehbare Irritationen hervorrufen. Die geistesgeschichtliche Entwicklung bezüglich des Humors und seiner Relation zum Religiösen ist seitdem andere Wege gegangen; schließlich ist es bezeichnend, dass Esels- oder Würfelspielermessen seit der Zeit der Reformation mehr und mehr aus dem Gebrauch kamen.
Aber drei Aspekte können uns – gerade angesichts aktueller Debatten über vermeintliche Sakrilege, die symbolisch für den Niedergang der christlichen Kultur in Europa stehen sollen – vielleicht weiterhelfen.
1. Es hat psychisch etwas enorm Entlastendes, einmal im Jahr die realen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen – besonders, wenn man sonst in strenger Ordnung und Hierarchie leben muss. Das muss nicht immer eine kirchliche Struktur sein: Viele Menschen empfinden ihren Arbeitstrott als Joch und sind für ein Ventil in besonders dafür bestimmten Festzeiten dankbar.
2. Der Bonner Professor Heinrich Lützeler, der sich im Kölner Karneval als Redner einen geradezu legendären Ruf erworben hat, wies in einem seiner Vorträge über die "kölsche" Narrenmentalität auf das Verhältnis zwischen Religion und Humor hin. Dass sich viele der berühmten Anekdoten und "Krätzje" mit dem rheinischen Katholizismus befassen und darauf ausgerichtet sind, diesen immer wieder in der Realität der Menschen zu "erden", erklärte Lützeler mit dem Charakterzug der Kölner, das Heilige zu wahren, indem man es nicht allzu sehr strapaziert! Die gesunde Distanz zum Heiligen – seien es heilige Personen, seien es heilige Handlungen wie Prozessionen – hilft gerade in den Lebenslagen, in denen es krumm und schief dahergeht, in denen so manches nicht gelingt … und das Leben dennoch lebens- und liebenswert ist! Der Kölner weiß, dass Gott auch auf krummen Wegen gerade schreibt …
3. Ein Blick in die "Carmina burana" verdeutlicht noch etwas: Neben den liturgischen Parodien stehen da moralische Gedichte – heftige Anklagen, die sich gegen das Verhalten des hohen Klerus und der Kurie in Rom richten: Prälaten, die sich nicht an das Evangelium halten – Kirchenrichter, die gegen Geld falsche Urteile fällen – Bischöfe, die Reichtum angehäuft haben, während Hungernde vor den Toren ihrer Paläste sitzen. Solche "Zelebranten" kann man damals wie heute nicht ernstnehmen – und das gilt auch weit über klerikale Kreise hinaus für all jene, die aktuell das "christliche Abendland" mit Zähnen und Klauen gegen "Dekadenz und Niedergang" meinen verteidigen zu müssen, zugleich aber elementare Inhalte des Evangeliums missachten! Wer – wie der ungarische Regierungschef Orban – die "metaphysische Verbindung zu Gott" einklagt, zugleich aber keinen Flüchtling in seinem Land aufnehmen lässt oder die Rechte queerer Menschen mit Füßen tritt, pervertiert das Evangelium schlimmer, als es die Parodien durch Esels- und Würfelspielermessen je vermöchten.
Der Autor
Stefan Klöckner ist Professor für Musikwissenschaft sowie Gregorianik und Geschichte der Kirchenmusik an der Folkwang-Universität in Essen.