Jörg Ernesti untersucht in neuem Buch Papstgeschichte seit 1800

Kirchenhistoriker: Schwächere Päpste kann man sich nicht mehr leisten

Veröffentlicht am 12.08.2024 um 00:01 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 

Bonn/Augsburg ‐ In seinem neuen Buch zeichnet der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti die Papstgeschichte seit 1800 nach. Im katholisch.de-Interview erklärt er, wie sich das Papsttum in den vergangenen 224 Jahren verändert hat – und inwiefern manche Entwicklungen Sorge bereiten können.

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16 Päpste gab es seit 1800. Seitdem hat sich naturgemäß viel getan in der Kirchengeschichte. Welchen Beitrag haben die einzelnen Kirchenoberhäupter geleistet? Und welche Entwicklungslinien lassen sich beim Papsttum feststellen? Diesen Fragen ist der Augsburger Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte, Jörg Ernesti, nachgegangen: In seinem neuen Buch "Geschichte der Päpste seit 1800", das seit diesem Montag erhältlich ist, bietet er Porträts der Päpste und beschreibt die Veränderungen, die das Papsttum in diesem Zeitraum erlebt hat. Im Interview mit katholisch.de erklärt der Experte für Papstgeschichte, warum er ausgerechnet das Jahr 1800 als Startpunkt ausgewählt hat, was das Papsttum und seine Vertreter seither besonders ausmacht – und wirft einen kurzen Blick in die Zukunft.

Frage: Herr Ernesti, Sie beginnen Ihre Darstellung im Jahr 1800 mit dem Amtsantritt Pius' VII. Warum haben Sie sich gerade für dieses Datum entschieden?

Ernesti: Es gibt eine monumentale Papstgeschichte von Ludwig von Pastor (1854-1928): Er beendet sie mit dem Jahr 1799 und er tut das ganz bewusst. Pius VI. wurde damals als Gefangener der Französischen Revolution in Valence dem Mob vorgeführt und als "Pius der Letzte" verspottet. Zu jener Zeit hat man geglaubt, dass das Papsttum passé sei. Und es war auch nicht ganz einfach, einen neuen Papst, der dann Pius VII. war, zu wählen. Das war eine große Zäsur.

Frage: Die Erfahrung der Französischen Revolution war für die Kirche in vielerlei Hinsicht traumatisch, auch ideengeschichtlich. Geht es also in den vergangenen 224 Jahren auch um ihren langen Schatten?

Ernesti: Bei den Päpsten bis zum Zweiten Vatikanum lässt sich natürlich ein Abarbeiten an der Französischen Revolution feststellen. Man verurteilt immer wieder die Idee der Menschenrechte, von Gregor XVI. über Pius IX. mit seinem "Syllabus errorum", Pius X. mit dem "Antimodernisteneid" bis hin zu Pius XII., der noch 1953 in seiner berüchtigten "Toleranzrede" ausdrücklich die Religionsfreiheit ablehnt. Das war ein langer, schmerzlicher Prozess, bis sich die Kirche zu den Prinzipen der Grundrechte bekannt und schließlich auch die Demokratie als Regierungsform bejaht hat. Das ist, wenn Sie so wollen, ein rückwärtsgewandtes Element in der Entwicklung des Papsttums. Ich sehe allerdings weit mehr fortschrittliche, zukunftsweisende Elemente in dieser Zeit. Ich würde sogar von einer "Neuerfindung" des Papsttums in dieser Epoche sprechen.

Frage: Inwiefern?

Ernesti: Es werden in der Amtsführung Elemente wichtig, die vorher nur eine geringe oder gar keine Rolle gespielt haben. Gerade mit dem Verlust des alten Kirchenstaats 1870 entsteht die Chance für die Päpste, sich in der internationalen Politik als überparteiliche neutrale Akteure zu positionieren. Und diese Chance wird gerade seit Leo XIII. genutzt. Mit dem Verlust der weltlichen Macht steigt zudem die Bedeutung des Papsttums als universaler Lehrer der katholischen Kirche, vielleicht sogar der ganzen Christenheit. Das kann man von den Päpsten des 18. Jahrhunderts so nicht sagen. Im 19. Jahrhundert erlebt das noch relativ neue Genus der päpstlichen Enzyklika eine erste Blüte. So konnte es dem Papsttum gelingen, auf neuen Wegen eine viel stärkere internationale Wahrnehmung zu bekommen, die es bis heute hat. Durch die Päpste seit 1800 ist die katholische Kirche stärker zu einer Papstkirche geworden, als sie das vorher war.

 Jörg Ernesti
Bild: ©Christopher Beschnitt/KNA

Jörg Ernesti ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg.

Frage: Was vermutlich auch am Ausbau der päpstlichen Kompetenzen in dieser Zeit liegt – Stichwort Erstes Vatikanisches Konzil (1869-1870).

Ernesti: Natürlich wurde die Lehrautorität der Päpste durch dieses Konzil stark ausgebaut. Aber in meinen Augen hat die Fixierung auf das Papstamt nicht unmittelbar mit dem römischen Zentralismus zu tun, sondern mit mehreren Faktoren. Da ist als erstes die mediale Ausstrahlung. Wie hat ein einfacher Mensch im Jahr 1700 vom Papst erfahren – außer eventuell durch fromme Gebetszettel? Da hat man heutzutage ganz andere Möglichkeiten. Und die Päpste wussten diese auch erstaunlich gut zu nutzen. 

Frage: Haben diese ganzen Veränderungen auch Einfluss auf die Wahlentscheidungen eines Konklaves? Oder anders gefragt: Ist der Papsttypus heute ein anderer als vor 250 Jahren?

Ernesti: Wenn sich die Kardinäle vor 1800 nicht auf einen Kandidaten einigen konnten, hat man halt einen alten, kränklichen Mann gewählt, um bald wieder neu wählen zu können. Das ist heute im Prinzip nicht mehr vorgesehen. Ein Papst ohne mediale Ausstrahlung, ohne persönliches Charisma, ohne politisches Gewicht, ist nicht mehr vorstellbar. Schwächere Gestalten im Papstamt kann man sich nicht mehr leisten.

Frage: Sehen Sie in dieser Papstzentrierung, die Sie beschreiben, auch Gefahren?

Ernesti: Sorgen bereiten kann die zunehmende Erwartungshaltung an einen Papst. Jeder Beobachter muss sich fragen: Wer kann diesem Profil auf Dauer noch genügen? Salopp gesagt: Wie kann man einen Papst Franziskus noch toppen? Da sehe ich schon die Gefahr der Überforderung für einen künftigen Papst. Denn auch ein Pontifex ist und bleibt Mensch. Jemanden für diese Rolle zu finden, ist gar nicht so leicht. Eine allzu starke Stellung des Papsttums kann im Übrigen das ökumenische Gespräch mit den anderen Kirchen erschweren. Paul VI., Johannes Paul II. und zuletzt Franziskus waren sich dessen bewusst und haben deshalb die konkrete Ausgestaltung des Primates zur Disposition gestellt.

Frage: Sie sprechen im Buch bei den Päpsten gerade im Blick auf die Lehrverkündigung von einer "halbierten Moderne". Was meinen Sie damit?

Ernesti: Bei der Eröffnungsansprache des Zweiten Vatikanischen Konzils von Johannes XXIII. ist die Aufbruchsstimmung spürbar: der frische Wind und der Leitakkord der Freiheit, der dem Konzil mitgegeben wird. Wenn man aber genau nachliest, stellt man fest: Für Johannes XXIII. ist klar, dass sich die Pastoral, die Verkündigung und das Kirchenrecht ändern müssen – das Dogma, die Doktrin ist im letzten doch unveränderlich. Und obwohl unter seinem Nachfolger das Konzil durchaus an einigen dogmatischen Stellschrauben gedreht hat, hat man Paul VI. auch Vorhaltungen gemacht. Karl Rahner schrieb 1971: Da ist einerseits mutiges Voranschreiten, andererseits ein Bremsen und Innehalten. Da ist Fortschrittlichkeit und da ist Rückständigkeit – und das mischt sich im Grunde genommen auf allen Gebieten.

Bild: ©picture alliance/Stefano Spaziani (Archivbild)

"Er hatte seine Größe, aber es sind auch einige Pannen passiert", sagt Jörg Ernesti über Benedikt XVI.

Frage: Das ist auch etwas, was man Papst Franziskus immer wieder vorwirft: Er wecke große Hoffnungen auf Reformen, ohne konkret etwas umzusetzen.

Ernesti: Ja, da zeigt sich eine gewisse Zaghaftigkeit. Nun ist mir beim Schreiben des Buches nochmal deutlich geworden, dass die katholische Kirche ein großer Tanker ist. Sie ist allein unter Franziskus um 150 Millionen auf fast 1,4 Milliarden Katholiken gewachsen. Es gibt unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Wahrnehmung von Modernität oder moderner Gesellschaft. Die Päpste sind bemüht, alle Ortskirchen mitzunehmen. Wenn Sie sich mit mehreren Päpsten beschäftigen, stellen Sie fest, dass ein Pontifex sehr viele Rücksichten nehmen, vieles austarieren muss. Er kann auch nicht so handeln, wie es ihm sonst persönlich liegen würde. Dieser Zwiespalt lässt sich auch bei Franziskus feststellen.

Frage: Kommen wir ganz konkret zur jüngeren Papstgeschichte. Sie bezeichnen Benedikt XVI. in Ihrem Buch als Übergangspapst. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Ernesti: Das ist eine Kategorie, die man in der Papstgeschichte auch vor 1800 häufig beobachten kann: Nach einem langen, ereignisreichen Pontifikat tendieren die Kardinäle im Konklave dazu, jemanden zu wählen, der schon vom Lebensalter her kein so langes Pontifikat verspricht. Oftmals wählt man dann einen engen Mitarbeiter des verstorbenen Papstes. Denn in einem langen Pontifikat passiert viel, auch doktrinär. Bei Benedikt ist es ja tatsächlich so gewesen: Er war ein enger Mitarbeiter von Johannes Paul II., er hat dessen Agenda weiter verfolgt, und war auch schon so alt, dass abzusehen war, dass er keine 25 Jahre Papst sein würde.

Frage: Welche Stellung hat er in der Papstgeschichte der vergangenen 224 Jahre?

Ernesti: Ich versuche in meiner Papstgeschichte nicht zu polarisieren, aber auch nicht zu verteidigen. Benedikt hat als Theologenpapst mit seinen Enzykliken wichtige Beiträge geleistet. Noch als Präfekt der Glaubenskongregation hat er Johannes Paul II. dazu gebracht, 2001 die neuen Richtlinien hinsichtlich der Missbrauchsbekämpfung zu erlassen. Er hatte seine Größe, aber es sind auch einige Pannen passiert, die sich nicht leugnen lassen, und das vor allem auf außenpolitischem Gebiet.

Frage: Papst Franziskus erinnert in einem Auftreten und in seiner Art enorm an Johannes XXIII. Wo knüpft er inhaltlich an?

Ernesti: Beim unkonventionellen Auftreten, beim Stil und auch von der Liebenswürdigkeit her sehe ich bei Franziskus in der Tat die Nähe zu Johannes XXIII. Inhaltlich ist der Bezugspunkt bei ihm aber Paul VI.: "Evangelii nuntiandi" von 1975 zitiert er oft; in den Sozialenzykliken ist ganz klar der Bezug zu "Populorum progressio" von 1967 zu erkennen. Und bei seinen Reisen in islamische Länder – denken Sie an Abu Dhabi – lässt er einen Bezug zu Johannes Paul II. erkennen. Er macht sozusagen da weiter, wo Johannes Paul mit seinen interreligiösen Weltfriedenstreffen in Assisi angefangen hat.

Frage: Wagen wir einen Ausblick: Welche künftigen Entwicklungen beim Papsttum erwarten Sie? Welche Linien werden in der Zukunft eine große Rolle spielen?

Ernesti: Ich finde es geradezu prophetisch, dass Papst Franziskus die Synodalität in der Kirche betont, also weniger zentralistisch arbeitet und die Peripherie stärkt, die Ortskirchen aufwertet und die Zusammenarbeit zwischen ihnen und dem Papsttum hervorhebt. Nur so kann kirchliche Entwicklung auch in Zukunft gelingen: Sie darf nicht von einer Person abhängen, sei sie auch noch so charismatisch, sondern das geht nur in der kirchlichen communio.

Von Matthias Altmann

Buchtipp

Jörg Ernesti: Geschichte der Päpste seit 1800, Verlag Herder 2024, 576 Seiten, ISBN: 978-3-451-39877-3, 38 Euro (Gebundene Ausgabe).