Himmelklar – Der katholische Podcast

Experte: Kirche wäre mit Feedbackkultur viel produktiver

Veröffentlicht am 11.09.2024 um 00:30 Uhr – Von Tim Helssen – Lesedauer: 
Erik Händeler
Bild: © Privat

Köln ‐ Erik Händeler ist Publizist, Wirtschaftswissenschaftler und Zukunftsforscher. Er ist der Überzeugung, dass Wirtschaft und Religion aufeinander angewiesen sind. Händeler erklärt im Interview auch, welche Kommunikationsstrukturen die Kirche braucht.

  • Teilen:

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Im ersten Augenblick scheinen Religion und Wirtschaft Gegensätze zu sein. Erik Händeler ist aber davon überzeugt, dass das eine ohne das andere nicht zu denken ist. Der katholische Publizist, Wirtschaftswissenschaftler und Zukunftsforscher erklärt im Interview, was die Wirtschaft vom Evangelium lernen kann und wo die Kirche ihre Kommunikationsstrukturen ändern müsste, um auch in kommenden Jahrzehnten zu bestehen.

Frage: Warum sind Religion und Wirtschaft Ihrer Meinung nach keine Gegensätze?

Händeler: Die Wirklichkeit ist etwas Ganzes. Das, was die Leute in ihren Köpfen haben und die Vorstellungen davon, was wichtig und wünschenswert ist, beeinflusst ihr Handeln, also auch ihr wirtschaftliches Handeln. Es gibt beide Richtungen, dass also Religion bzw. Weltanschauung die Wirtschaft prägt, aber es ist auch umgekehrt so, wenn sich in der Wirtschaft etwas verändert, wirkt sich das auf die Religion aus.

Ich bringe für beide Richtungen ein Beispiel. Das eine ist Max Weber (Soziologe und Nationalökonom, d. Red.). Der hat vor 120 Jahren festgestellt, dass die evangelischen Gebiete im Deutschen Reich industrialisiert waren – und die katholischen Gebiete nicht. Selbst in Mischgebieten wie in Baden, wo Katholiken und Protestanten nebeneinander wohnten, war es so, dass die Protestanten 50 Prozent mehr Einkommen zu versteuern hatten. Warum? Die Katholiken sind ja nicht dümmer nach der Gaußschen Normalverteilung.

Max Weber hat damals gesagt, das liegt an der Wirtschaftsethik der Konfessionen. Für den Katholiken heißt das beten und arbeiten. Also arbeiten auch, aber der schaut zum Himmel, das ist alles viel wichtiger. Für die Protestanten seit Luther gilt, die Arbeit ist geheiligt, Arbeit ist Mitwirkung an der Schöpfung Gottes und Konsum ist Sünde. Was macht also ein armer Puritaner, wenn er eine Handvoll Geld verdient hat? Wenn Konsum Sünde ist, investiert er es wieder. So entsteht der Kapitalismus und die Industrialisierung in den evangelisch geprägten Gebieten Europas und des Deutschen Reiches.

Frage: Wie wird denn heute auf die Entwicklungen der damaligen Zeit geblickt?

Händeler: Heute geht man aber eher davon aus, dass es die Bildung war, die eine Veränderung ermöglicht hat. Während vor über 100 Jahren der katholische Priester noch zu seinen Schäfchen gesagt hat, die Bibel braucht ihr nicht zu lesen, das erkläre ich euch hinterher schon, war für einen Protestanten klar, dass er selber die Bibel lesen muss. Er kann also lesen und schreiben und hat höher qualifizierte Jobs. Da haben wir den Zusammenhang, dass Religion die Wirtschaft beeinflusst.

Es ist natürlich interessant, dann die Frage zu stellen: Wie sieht es denn heute aus? Wie wirken sich die heutigen global verteilten Wertvorstellungen der Religionen auf das Verhalten und auf die Wirtschaft aus?
Ich bin selber in vielfältigen Gremien in der Kirche unterwegs. Ich bin aber natürlich auch in der Wirtschaft unterwegs. Meine Wirtschaftsleute hören sehr gerne zu, wenn ich über den Zusammenhang von Religion und Wirtschaft rede. Wenn ich aber in der Kirche unterwegs bin, dann wird es immer ein bisschen schwierig. Wir haben es vor diesem Gespräch in der Kaffeeküche erlebt, als Sie mich vorgestellt haben und einer Ihrer Kollegen gleich sagte: "Diese Wirtschaft tötet" (vgl. Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii Gaudium", d. Red.). Das ist das Erste, was man im Kopf hat. Er vermutete weiter: "Das wird doch sicher ein Streitgespräch", so als wenn das völlig unterschiedliche Werte sind, weil die Kirchenleute, die vielleicht von Kirchensteuermitteln leben, sich mit ewigen Wahrheiten und Werten beschäftigen, während die Wirtschaft sich nur um den schnöden Mammon kümmert.

Frage: Wie haben denn Bildung und wirtschaftliche Veränderungen die Kirche und den Glauben geprägt?

Händeler: Die Wirklichkeit ist etwas Ganzes. Ein Beispiel ist die Druckerpresse. In dem Moment, wo Johannes Gutenberg in Mainz die beweglichen Lettern zum Drucken erfunden hat, konnte man Flugblätter ganz billig herstellen. Der damalige Dorfpfarrer hatte aber keine Bildung und wurde dann mit so einem Flugblatt konfrontiert. Also hat die katholische Kirche mit Bildung reagiert, mit einem Priesterseminar und mit dem Jesuitenorden. Und die Reformation war natürlich auch eine Folge. Wenn jemand also die Druckerpresse erfindet, habe ich überspitzt gesagt am Ende einen Jesuitenorden.

Ein anderes Beispiel: Am Ende der Völkerwanderungszeit bleiben die Leute am Waldrand liegen, machen ihre Selbstversorgerdörfer. Um das Jahr 1000 kommt dann jemand auf die Idee mit dem Ochsenjoch, sodass man mit so einem Brett auf dem Ochsenhals fünfmal mehr Kraft umsetzen kann, um besser umzupflügen und mehr Nährstoffe und höhere Ernten zu kriegen. Auf einmal hat man Überschüsse zum Verteilen. Man trifft sich an den Flussübergängen und in den Ruinenstädten der alten Römer. So entsteht die mittelalterliche Stadt. Ein paar Handwerker bleiben da, ein paar Kaufleute, und die haben keine kirchliche Versorgung. Auf einmal gibt es Superreiche und ganz Arme. Das war in den Selbstversorgerdörfern nicht der Fall. Dann kommt der Franz von Assisi und konfrontiert diese neue Stadtgesellschaft mit dem Evangelium. So entsteht der Franziskanerorden im Mittelalter als Versorgung dieser neuen Lebensform Stadt. Wenn also jemand ein Ochsenjoch erfindet, habe ich am Ende einen Franziskanerorden.

Erik Händeler
Bild: ©Fotografie Martin Wiesler

Erik Händeler ist ein katholischer Publizist, Wirtschaftswissenschaftler und Zukunftsforscher.

Frage: Wobei das wahrscheinlich auch nicht direkt beabsichtigt war.

Händeler: Auch hier ist die Wirklichkeit etwas Ganzes. Ein bisschen haariger wird es, wenn ich an das Zweite Vatikanische Konzil denke. Vorher hatten wir geordnete Milieus und man ist aus dem Dorf nicht groß herausgekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam dann das Auto. Mit dem VW-Käfer kann ich meiner Nachbarschaft und meiner Großfamilie davonfahren. Wenn einem der Pfarrer zu liberal oder zu konservativ ist, fährt man sonntags drei Dörfer weiter. So wird die eine Gemeinde eben jubeln und die andere Gemeinde wird marienfromm und die nächste Gemeinde wird leer.

Das Auto ermöglicht also die Individualisierung im Glauben. Wie reagiert die Kirche? Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Ohne die gesellschaftlichen Umbrüche, die technisch möglich waren, hätte es das Zweite Vatikanum gar nicht in dieser Form gebraucht. Wenn man das akzeptiert, dass wir zwar unsere ewigen Wahrheiten haben, aber dass sich das Evangelium vielleicht im Laufe der Geschichte langsam materialisiert und erst langsam offenbart und jede technische Veränderung die Organisationsmuster in der Wirtschaft verändert und die Machtverhältnisse und am Ende auch die Kirche, dann können wir auch auf unsere heutigen Veränderungen viel lockerer schauen.

Frage: Aber warum sind denn dann Wirtschaft oder Veränderungen für viele Menschen, die in der Kirche beschäftigt sind, so "böse"? Warum sind die so negativ konnotiert?

Händeler: Es gibt natürlich eine Wirtschaft mit amerikanischem Ellenbogenstil, die die Leute ausbeutet. Da werden Machtverhältnisse ausgenutzt. Es gibt ein Denken in Quartalszahlen, wo man auf Kosten von Investitionen von Kunden und Vertrauen auf Mitarbeiter schaut, dass die Gewinne nach oben gehen. Dieses kurzfristige Gewinnstreben. Es gibt natürlich vieles zu kritisieren an einem Raubtierkapitalismus. Aber Wirtschaft an sich ist ja eine Tatsache. Wir müssen uns ja irgendwie versorgen mit Gütern.

Wir haben 45 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutschland. Die wollen ja nicht ihren Profit maximieren, nehme ich mal an, sondern die sehen überall Leiden und Probleme in der Gesellschaft und die wollen zur Versorgung dieser Gesellschaft beitragen. Die wollen eine Infrastrukturversorgung aufbauen und die erleben ja ihren Arbeitsalltag auch als gemeinsames Überleben. Diesen Teil übersehen wir, wenn wir von Wirtschaft reden. Man denkt da nur an Aktienkurse und an die Aussage "diese Wirtschaft tötet".

Frage: Was kann denn die Wirtschaft von der Kirche und vom Evangelium lernen?

Händeler: Die in der Wirtschaft existiert ja schon eine Haltung, die sehr unterschiedlich sein können. Da gibt es Führungsstile, die sind eine Gruppenethik. Der Einzelne muss sich der Gruppe unterordnen und andere Gruppen werden bekämpft. Das gibt es auch in religiöser Form – "wir sind die Rechtgläubigen, die anderen kommen in die Hölle". Das ist eine dumpfe Gruppenethik. Diese Art von Kultur ist heute in der Wirtschaft nicht mehr produktiv. Wenn ich den Einzelnen knechte und er seine Meinung nicht sagen darf, dann fehlt die Information, die wir gebraucht hätten, um das Projekt noch groß voranzubringen. Früher im Kaiserreich in der Massenindustrie hatten wir so eine Gruppenethik. Das ist heute nicht mehr adäquat.

Dann kam in den 70er-Jahren das Auto. In dem Moment, wo das Auto kommt, kann der Einzelne sich mehr selbst verwirklichen. Wir haben 50 Jahre hinter uns, wo wir immer mehr Individualismus hatten. Deswegen hatten wir auch mehr Wohlstand. Jetzt kommen wir aber in eine Phase der Wirtschaft, wo noch mehr Individualismus nicht noch mehr Wohlstand ist, weil die Dinge in der Wissensgesellschaft so komplex werden, dass der Einzelne es nicht mehr überblicken kann. Wir sind viel mehr auf das angewiesen, was andere können oder wissen.

Drei Mittelmäßige, die gut zusammenarbeiten, sind bedeutend produktiver als der Supercrack, wo es aber leider nicht gelingt, die Ergebnisse der Arbeitsteilung zusammenzuführen. Wohlstand wird in der Wissensgesellschaft eine systemische Leistung. Deswegen kommen wir jetzt in eine Phase, wo sich zwar der Einzelne in seinem Berufsleben in Freiheit entfalten können muss, aber nicht mehr für meine Kostenstelle oder meine Karriere, sondern wo ich will, dass das Gesamtprojekt vorangeht. Wo ich, wenn ich dem anderen mit meinem Wissen helfen kann, nicht frage, was mir das jetzt bringt, wenn ich das Gesamte voranbringen will.

Das ist eine Universalethik wie "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" oder Kants kategorischer Imperativ. Ich will es jetzt nicht an irgendwelchen Religionen und Konfessionen zunächst einmal festmachen, sondern das, was jetzt produktiven Umgang mit Wissen in der Wirtschaft ausmacht, ist eine Haltung von individueller Freiheit, aber mit Verantwortung für das Ganze. Das ist natürlich das, wie ich auch das Evangelium verstehe.

„Am besten sitzt der Bischof bei sich im Palais und wartet auf einen Konflikt. Und in den Konflikt geht er rein und kann dann im Gespräch den Glauben vermitteln. Dann wird es relevant, im Gespräch und in der produktiven Auseinandersetzung.“

—  Zitat: Erik Händeler

Frage: In allen Bereichen der Gesellschaft und auf der Welt stellen wir uns die Frage nach der Zukunft. Wie kann die Kirche handeln, um auf der einen Seite in der Zukunft zu bestehen, aber sich auf der anderen Seite nicht selbst aufzugeben und abzuschaffen?

Händeler: Sie schafft sich im Moment ab, indem sie sich nicht auf das Organisationsmuster einstellt, was in unserer Entwicklungsstufe jetzt wichtig ist. Um produktiv mit Wissen umzugehen, braucht man in einer Firma zwar eine klare Verantwortlichkeit, aber man braucht auch Transparenz. Man muss sagen, wie die Situation ist. Man muss die Leute mitdenken lassen und von der Sache her entscheiden.
Also: Bauen wir die Maschine, ja oder nein? Halte ich zu dem, mit dem ich befreundet bin oder halte ich zu dem, der das bessere Argument hat?

Da hat man in der Wirtschaft sehr stark gelernt, eher von der Sache her zu denken und nicht von der Person. Bei uns in der Kirche ist es immer sehr wichtig, wen man kennt. Wen kennt man im Vatikan, wen kennt man im Ordinariat? Bei Konflikten in der Pfarrei, wenn man jemanden kritisiert, geht es sehr viel über Beziehungen oder es geht um Macht. "Jetzt zeige ich dir mal, wer den Bischof besser kennt" oder "… wer im Pfarrgemeinderat mehr hinter sich versammeln kann". Wir machen es also über persönliche Beziehungen oder wir machen es über Macht – und nicht über Inhalt.

Im Berufsleben bricht eine Kultur auf und man lernt, über den Inhalt zu kommen. Wenn ich in der Wirtschaft spreche, dann finden mich auch viele Manager oder Geschäftsführer blöd. Die halten sich aber nicht damit auf. Die suchen sich das, was ihnen nützlich ist, und das nehmen sie mit. Wenn ich im kirchlichen Kreis unterwegs bin, natürlich sehr eng verbunden mit der Kultur an der Universität, warten die immer auf das, was nicht so durchdacht oder nicht so richtig erklärt ist oder was vielleicht falsch sein könnte, und stürzen sich darauf. Da ist natürlich kein konstruktives Arbeiten möglich. Das ist eine Ressourcenverschwendung ohne Ende. Man sollte jeden Gedanken aufnehmen und dann konstruktiv diskutieren und weiterentwickeln und da irgendwie was Schönes draus machen. Das fehlt uns ja völlig.

Die ganze Art, wie wir kommunizieren. Wenn ich vor 20 Jahren einen Sparkassen-Neujahrsempfang hatte, dann hatte ich einen schönen Vortrag, danach gab es Beifall und das Buffet. Wenn ich heute in der Wirtschaft unterwegs bin, kriege ich nur die Hälfte der Zeit, aber danach wird diskutiert. Und bei den ganzen Wortmeldungen merke ich, wo die mich falsch verstanden haben, wo ich an denen vorbeigeredet habe und wo die irgendwas auf mich projizieren. Erst da gewinne ich die Leute. So funktioniert Kommunikation.

Wie machen wir es in der Kirche? Wie kommuniziert ein Bischof? Mit einem Hirtenwort, einer Osterpredigt oder irgendeine Stichwortgeberin von der Presse- oder PR-Abteilung gibt auf YouTube Stichworte und der Bischof erzählt was dazu. 400 Leute klicken es an. So funktioniert Kommunikation nicht. Kommunikation funktioniert im Dialog.

Am besten sitzt der Bischof bei sich im Palais und wartet auf einen Konflikt. Und in den Konflikt geht er rein und kann dann im Gespräch den Glauben vermitteln. Dann wird es relevant, im Gespräch und in der produktiven Auseinandersetzung. Da muss man sich natürlich kritisieren lassen. Die Kirche wäre viel produktiver, wenn wir eine Feedbackkultur hätten. Wenn man bei uns im Diözesanrat den Bischof offen kritisieren würde, wäre das ein absoluter Tabubruch. Aber woher weiß der Bischof eigentlich, was die Leute denken? Die sagen ihm das nicht, weil das ja nicht eingeübt worden ist. Wir haben gar keine Kultur, wo die Ideen der Leute genutzt und aufgenommen werden.

Wenn man mal anfängt, darüber nachzudenken, wie bei uns Kommunikation funktioniert – das ist ja etwas, was den Glauben ausmacht. Es geht um Kirche, es geht um Gemeinschaft – und das funktioniert über Kommunikation. Und Kommunikation kann nicht hierarchisch sein. Kommunikation muss ein Geben und Nehmen und Widersprechen und ein Vorantasten sein. Deswegen finde ich es so gut in Gemeinden, wie ich das auch in Ingolstadt bei uns im Münster kenne. Sonntagabend, wo sich die Leute zum Austausch treffen, da funktioniert Kommunikation und Gemeinschaft.

Von Tim Helssen