Lateinamerika der zwei Geschwindigkeiten
Mehr als 500 Millionen und damit über 40 Prozent der Katholiken weltweit leben in dieser Region, die maßgeblich durch vier Jahrhunderte spanischer und portugiesischer Kolonialgeschichte geprägt ist. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte für die Ortskirchen Lateinamerikas vielfache Umbrüche.
Die traditionelle Allianz zwischen der Kirchenleitung und den herrschenden Eliten wurde aufgebrochen durch innere wie äußere Faktoren: Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) und die "Theologie der Befreiung" auf der einen und zahlreiche blutige Bürgerkriege und Militärdiktaturen auf der anderen Seite brachten die Kirche - nach vielen mit Schuld und Versagen beladenen Episoden - zu einer "vorrangigen Option für die Armen" und Unterdrückten. Dafür gerieten Bischöfe und Menschenrechtler ins Visier gedungener Mörder.
Schwieriger Umgang mit Befreiungstheologie
Die Sicht auf die sogenannte Theologie der Befreiung ist bis heute mit Ideologisierungen behaftet und umstritten. Für Papst Johannes Paul II. (1978-2005), den Papst aus dem kommunistisch regierten Polen, war der Gedanke an eine Verquickung von Christentum und Marxismus unerträglich. Auch sein oberster Glaubenshüter Joseph Ratzinger, der nachmalige Papst Benedikt XVI. (2005-2013), dachte im Umgang mit der Befreiungstheologie vor allem europäisch. Ein theologischer "Rollback" war die Folge: Die heutige Bischofsgeneration Lateinamerikas steht deutlich weniger "links" als die der 80er Jahre. Zugleich haben Botschaften der lateinamerikanischen Theologie Eingang in die offizielle Sozialverkündigung der Kirche gefunden.
Linktipp: Franziskus in den Armenhäusern Lateinamerikas
Zum zweiten Mal besucht der erste Papst aus Lateinamerika seinen Heimatkontinent. Eine Woche bereist er die drei ärmsten spanischsprachigen Länder Südamerikas. Die Erwartungen an Franziskus sind hoch - nicht nur von Seiten der Bevölkerung.So verschieden die gesellschaftliche, wirtschaftliche und kirchliche Lage in den Ländern des Subkontinents ist: In den vergangenen Jahren war in vielen Staaten Lateinamerikas - ausgehend von Venezuela, Ecuador und Bolivien - ein politischer Linksruck zu verzeichnen, den die katholische Kirchenführung der betreffenden Länder kritisch und vernehmlich begleitet. Dabei sind ihre Stellungnahmen nicht eigentlich (partei-)politischer Art, sondern auf das Anmahnen von Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde bedacht. Dies wird gleichwohl vielfach als politische Opposition wahrgenommen.
Kirche hat Vermittlungsprobleme
Weitere Positionen im sozialen Diskurs sind der Schutz der traditionellen Familie, der Lebensschutz oder der Kampf gegen Drogenkriminalität. Ein starker Trend in vielen Ländern des Kontinents ist die fast explosionsartige Ausbreitung evangelikaler Sekten. Einst von den USA massiv befördert als ein Gegengewicht zum "linken", befreiungstheologisch geprägten Katholizismus, gewinnen diese Gruppierungen mit massiver medialer Präsenz, einer rasant schnellen "Ausbildung" von Predigern und haltlosen Heilsversprechen großen Zulauf - vor allem dort, wo die "normale" katholische Pfarrseelsorge an die Grenzen ihrer Ressourcen stößt: in den Favelas, bei Verzweifelten und Heilsuchenden.
Tiefe Religiosität ist in Lateinamerika ein so allgemeines wie alltägliches Phänomen. Der Glaube ist hier viel stärker emotional als von kritischer Ratio geprägt als im Norden. Gemeinde ist oft noch tatsächlich Ort gemeinsamen Lebens, Lernens und Teilens. Hier gibt es "Kleine Gruppen", Basisgemeinden, Hauskirchen, für die sich Familien zusammenschließen, um Gottesdienst zu feiern. Junge charismatische Gemeinschaften unterhalb von "kirchlichen Strukturen" zu fördern, war ein Ansatz der Versammlung von Aparecida 2007, wo der Lateinamerikanische Bischofsrat CELAM eine neue "kontinentale Mission" beschloss. In den vom Modernisierungsschub erfassten Ländern Lateinamerikas hat die katholische Kirche nach wie vor eine starke Stimme, aber auch vielfältige Vermittlungsprobleme.