Debatte um demokratischere Strukturen sei oft von Zerrbild bestimmt

Seewald: Wer Teilhabe in Kirche möchte, will nicht Glauben diktieren

Veröffentlicht am 30.09.2024 um 12:36 Uhr – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Viele warnen vor demokratischeren Strukturen in der Kirche. Ihre Befürchtung: Dadurch könnten auch Glaubenswahrheiten von Mehrheiten diktiert werden. Der Dogmatiker Michael Seewald widerspricht – und sieht Missverständnisse in der Debatte.

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Der Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald weist die These zurück, dass mehr demokratische Strukturen in der Kirche die Glaubenslehre zur Verfügungsmasse einer Mehrheit machen würden. Man sollte sich auf die "Extremvorstellung, dass Glaubenswahrheiten in einer stärker demokratisch geprägten Kirche plötzlich von Mehrheiten diktiert werden, gar nicht erst einlassen", schreibt Seewald in der "Herder Korrespondenz" (Oktober-Ausgabe). Das allerwenigste, was in der Kirche entschieden werde, habe mit Glaubensfragen zu tun, sondern sei pragmatischer Natur. "Denjenigen, die mehr Teilhabe in der Kirche fordern, geht es eher darum, an solchen praktischen Entscheidungen beteiligt zu werden – und nicht darum, die Trinitätslehre oder die Christologie neu zu definieren."

Der Theologe fordert eine ernsthaftere kirchliche Auseinandersetzung mit demokratischer Kultur. Die Diskussion, inwiefern Demokratie in der Kirche möglich sei, sieht er von zwei Missverständnissen geprägt. "Erstens gilt es klarzustellen: Die Begriffe 'Kirche' und 'Demokratie' gehören verschiedenen Kategorien an. Die Kirche ist eine Organisation, Demokratie hingegen dient als Sammelbegriff für Prinzipien, nach denen Organisationen verfasst sein können, seien es nun staatliche Gebilde, Vereine oder Religionsgemeinschaften." Eine Folge dieses "Kategorienfehlers" sei eine Verlagerung der Debatte hin zur Frage nach dem Verhältnis der Kirche zum säkularen Staat – "als ob die These, die Kirche solle sich stärker am Organisationsprinzip der Demokratie orientieren, darauf hinausliefe, dass sie eine Kopie des Staates und seines säkularen Charakters werden müsste". Die Vorstellung, dass eine Demokratisierung in der Kirche zugleich eine Verweltlichung der Kirche mit sich brächte, führe somit in die Irre.

Frage werde sofort ins Extreme gewendet

Das zweite Missverständnis beziehe sich auf die inhaltliche Bestimmtheit des Demokratiebegriffs, so Seewald. "In manchen Kreisen, die betonen, die Kirche sei keine Demokratie, wird Demokratie als wahrheitsindifferente Herrschaft wechselnder Mehrheiten verstanden. Dabei handelt es sich jedoch um ein Zerrbild, da demokratische Organisationsprinzipien mehr beinhalten als nur die Herrschaft der numerisch stärksten Interessengruppe." Auch die Mehrheit bewege sich in einem normativen Rahmen, der etwa durch das Recht vorgegeben werde und dessen Einhaltung sogar gegen den Willen der Mehrheit von dazu befugten Amtsträgern durchgesetzt werden müsse. "Während einzelne Ordensgemeinschaften manche dieser Prinzipien seit Jahrhunderten praktizieren, ist eine umfassendere diözesane oder gar universalkirchliche Rezeption daran gescheitert, dass die Frage nach demokratischen Mehrheitsentscheidungen sofort auf dogmatische Fragen hin zugespitzt und ins Extreme gewendet wird."

Die Geschichte zeige, dass Demokratisierungsbewegungen traditionelle Ordnungen nicht notwendigerweise beseitigen, sondern diese auch integrieren könnten, sowie umgekehrt etablierte Ordnungen sich mit Demokratisierungsbewegungen arrangieren könnten. "Demokratisierung muss also kein Nullsummenspiel sein, bei dem eine Gruppe genau das gewinnt, was eine andere verliert." So müsse eine zunehmende Demokratisierung der Kirche nicht notwendigerweise eine Beseitigung der päpstlichen oder der bischöflichen Vorrangstellung bedeuten. Synodalität stelle nun einen zaghaften Versuch dar, ein Verhältnis der Kirche zu einer effektiven Teilhabe zu finden. "Die Abstände in der katholischen Kirche werden derzeit neu vermessen. Ob das zu einer Dynamisierung der Kirche führt, hängt auch davon ab, wie es den etablierten Ämtern und Institutionen in der Kirche – vor allem dem Papst und den Bischöfen – gelingt, sich zu den normativ gehaltvollen Vorstellungen guten Zusammenlebens, wie sie demokratische Gesellschaften prägen, in Beziehung zu setzen." (mal)