Im Wust der Bibeltexte schaffen Vorschriften Ordnung und offene Fragen
Wer am 19. Oktober in die Messe geht, wird als Evangelium wahrscheinlich Lk 12,8-12 hören, denn das ist für diesen Tag vorgesehen. Vielleicht ist es aber auch Mt 16,24-27 oder Mt 28,16-20. Denn mit dem hl. Johannes de Brébeuf und dem hl. Paul vom Kreuz fallen zwei nicht gebotene Gedenktage auf diesen Tag, die, sollten sie im Gottesdienst begangen werden, andere Lesetexte erfordern. Was wann im Gottesdienst gelesen wird – das ist eine reich entfaltete Kunst oder ziemlich verwirrend und durchgetaktet, wie auch immer man es sehen will.
Dass es ein gewisses System dafür gibt, welche Bibeltexte wann gelesen werden, ist ein altes Phänomen. Schon zur Zeit Christi gibt es dafür im Judentum Vorschriften: Dabei wird die Heilige Schrift zwar nicht vollständig, aber in wesentlichen Auszügen nach und nach chronologisch gelesen oder es werden einzelne Abschnitte ausgewählt. Diesen Gedanken übernimmt das Christentum, erklärt die Luzerner Liturgiewissenschaftlerin Birgit Jeggle-Merz: "Schon aus dem fünften Jahrhundert wissen wir von Perikopenlisten, also Sammlungen von Bibelstellen, die für die Gottesdienste zugeschnitten wurden." Das Wort Perikope (griech. perikopé, "rings umhauenes Stück") sagt es schon: Da wird etwas rundherum ausgeschnitten, um den Menschen im Gottesdienst etwas zu vermitteln. Zu dieser Zeit ist die Auswahl und Verlesung der Bibelstellen Chefsache und kommt dem Leiter des Gottesdienstes zu.
Im Mittelalter entwickelt sich der Gottesdienst immer mehr zu etwas, bei dem die Gemeinde nicht wie in der Alten Kirche mitfeiert, sondern dessen Zelebration durch einen Priester sie lediglich beiwohnt. Die Lesungen werden nun Teil des Messbuchs und verfestigen sich, es entsteht ein System aus Lesungstexten für die Sonntage des Kirchenjahrs: Ein Auszug aus dem Evangelium und in der Regel eine Lesung aus den Apostelbriefen. Diese sind jedes Jahr die gleichen. Gelesen wird also nur ein winziger Teil der Bibel, zudem fast ausschließlich aus dem Neuen Testament.
Neufassung durch Konzil
Das ändert sich erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) und der daraus folgenden Konstitution "Sacrosanctum concilium" (1969), in der das System der Leseordnung neu aufgesetzt wird – wenn es sich auch an Perikopenlisten der frühen Kirche orientiert. Den Gläubigen "soll die Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan werden, sodass innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift dem Volk vorgetragen werden" (SC 51). Im Laufe des 20. Jahrhunderts hatte es einen "Bibelfrühling" gegeben, Christinnen und Christen entdeckten die Bibel als Quelle und Vertiefung des Glaubens neu. Das erklärt das deutlich ausgeweitete Tableau an Texten, wenn auch immer noch wichtige Bibelstellen nicht gelesen werden. Von den insgesamt über 35.000 Bibelversen kommen etwas mehr als 12.000 im Gottesdienst vor, also lediglich etwa ein Drittel. Es gibt nun in Werktagsgottesdiensten immer zwei, in Sonntagsgottesdiensten drei Lesungen; für die Werktage gibt es einen zweijährigen, für sonntags einen dreijährigen Zyklus. Bei letzterem gilt grob das System: Für jedes synoptische Evangelium ein Jahr, da Markus kurz ist, wird mit Johannes aufgefüllt, dieser kommt zudem an einigen Feiertagen (zum Beispiel Weihnachten) verstärkt zum Tragen.
Die Leseordnung der Sonntage sieht so aus: Die erste Lesung stammt (außer in der Osterzeit) aus dem Alten Testament, die zweite aus den neutestamentlichen Briefen oder der Apokalypse. Die Auswahl der Lesung aus dem Alten Testament orientiert sich dabei an dem jeweiligen Evangelium. Völlig unabhängig davon ist die zweite Lesung. Hier wird ein biblisches Buch der Reihe nach gelesen. Man bezeichnet dies als „Bahnlesung“. Das Evangelium des jeweiligen Sonntags stellt aber den Hauptorientierungspunkt dar. Wenn die Texte aufeinander bezogen sind, kann für die Hörenden auch eine Sinnverwandtheit entdeckt werden. Kritisch wird heute allerdings gesehen, dass das Alte Testament lediglich als eine Art Erfüllungsgehilfe des Neuen Testaments daherkommt. "Heute würden wir das natürlich anders machen und das Alte Testament viel mehr für sich stehend würdigen", wirft Jeggle-Merz ein, "aber die im Januar 1964 gebildete Kommission hatte kein Vorbild in der Geschichte, auf das sie hätte zurückgreifen können –". Es gibt bereits Ansätze in der Wissenschaft, dem neuen Verständnis des Alten Testaments besser gerecht zu werden. "Aber das würde in der Regel zu noch mehr Texten im Gottesdienst führen. Einen goldenen Weg gibt es da bislang nicht." Auch sonst hat die Leseordnung Schwächen, so Jeggle-Merz: "Sie geht davon aus, dass die Leute jeden Sonntag in die Eucharistiefeier kommen und in Sachen Bibel firm sind – beides ist nicht gegeben." Doch sie betont auch: "Die momentane Leseordnung ist die Beste, die es in der katholischen Kirche jemals gab."
Die Texte in der Eucharistiefeier sollen allerdings nicht nur verlesen werden. Vielmehr steckt ein viel weitergehender Gedanke dahinter: "Dabei wird der Gottesdienst, der ganz aus dem Wort Gottes lebt, selbst zu einem neuen Heilsereignis. Er legt das Wort neu aus und lässt es neu wirksam werden", heißt es in der Pastoralen Einführung in das Messlektionar. "Die Kirche verkündet ein und dasselbe Mysterium Christi, wenn sie das Alte und wenn sie das Neue Testament im Gottesdienst verkündet. Denn im Alten Testament ist das Neue verborgen, und im Neuen Testament erschließt sich das Alte." Aus diesen Überlegungen heraus ergeben sich auch die Gründe für die hohe Verbindlichkeit der Leseordnung. Denn sie ist weltweit verbindlich. Am selben Tag sollen in Seoul, Washington und München die gleichen Texte in die Messe kommen. Dafür gibt es allerdings Einschränkungen, denn so uniform, wie sich die Kirche oft selbst sieht, ist sie selbstverständlich nicht. Deshalb gibt es neben den durchlaufenden Texten auch Hochfeste und Feste mit besonderen Bibeltexten, die verpflichtend die eigentlich anstehenden Texte ersetzen. Daneben gibt es gebotene Gedenktage, die begangen werden müssen und nicht gebotene Gedenktage, bei denen es im Ermessen des Zelebranten liegt, ob sie begangen und die damit verbundenen Bibeltexte gelesen werden.
Generell gilt jedoch, für die Bibeltexte wie für alle Texte des Messbuchs: "Kein anderes Gottesdienstformat kennt eine solch hohe Verbindlichkeit in Texten und Riten wie die Eucharistiefeier", formuliert es Jeggle-Merz. Gebete zu verändern, Lesungen willfährig auszutauschen, zu verändern oder auszulassen, ist also generell unzulässig, immer und für alle. Einzige Ausnahme: Aus "pastoralen Gründen" kann sonntags im deutschen Sprachgebiet eine der beiden Lesungen entfallen. Im Rest der Welt werden immer drei Texte verlesen.
Hohe Verbindlichkeit
Ansonsten aber darf rein kirchenrechtlich gesehen an den Texten nichts geändert werden. Weder von Lektorinnen, noch von Priestern. Dagegen steht die vielfach bekannte Praxis in Gemeinden, Texte kurzerhand zu ändern oder entfallen zu lassen. "Da gibt es eine Spannung zwischen den Idealen des kirchlichen Lehramts und der Praxis an der Basis", so Jeggle-Merz. Sie sieht aber eine Alternative. "Bei Wort-Gottes-Feiern gilt die Verbindlichkeit nicht, da kann frei gewählt werden, welches Wort Gottes die Grundlage des Gottesdienstes darstellen soll. Allerdings wünschen sich viele Bischöfe, dass sich Gottesdienstleiter an Sonntagen an der Leseordnung für Eucharistiefeiern orientieren." Sie sieht darin eine Chance für das Verständnis der Bibel. "Man kann auch einmal eine längere Passage aus einem biblischen Buch lesen und so den Mitfeiernden die Möglichkeit eröffnen, sich in das Wort Gottes einzuhören."
Auch in der Eucharistiefeier kann aber dem Verständnis sperriger oder unverständlicher Bibeltexte auf die Sprünge geholfen werden, sagt sie. "Es reichen oft schon ein paar einleitende Sätze, um den Kontext einer Lesung anzudeuten oder sie für heutige Ohren leichter zugänglich zu machen. Ein bisschen Experimentieren kann da hilfreich sein."
Das lohnt sich auch deshalb, weil so eine Leseordnung nicht so schnell revidiert wird: Die heutige Leseordnung in der katholischen Kirche stammt von 1969 und wurde lediglich 1981 revidiert, seitdem besteht sie unverändert. Andere Kirchen im deutschen Sprachraum, etwa einige reformierte, haben dagegen gar keine Leseordnung. Das ist auch nicht immer ein Vorteil. "In manchen Kirchen wünschen sich die Pfarrpersonen sogar eine – jedenfalls zur Orientierung." Trotz vieler offener Fragen: Ganz ohne eine Leseordnung geht es anscheinend auch nicht.