Osnabrücker Studie: Einblicke ins Dunkel und entlarvte Narrative
"122 Beschuldigte – mehr als 400 Betroffene", überschrieb die Universität Osnabrück ihre Pressemitteilung zur Vorstellung des Abschlussberichts über sexualisierte Gewalt im Bistum Osnabrück. Damit legte sie das Ausmaß sexuellen Missbrauchs durch Kleriker der Diözese von 1945 bis in die Gegenwart offen – vorbehaltlich einer wohl deutlich größeren Dunkelziffer.
Die bereits im Zwischenbericht von 2022 festgestellten Versäumnisse der Bistumsverantwortlichen unter den Bischöfen seit 1945, so die Autoren, hätten sich bestätigt. Der im Bistum nach wie vor geschätzte Bischof Franz-Josef Bode trat im März 2023 vorzeitig zurück. Ihm hatte der Zwischenbericht Pflichtverletzungen "im niedrigen einstelligen Bereich" bescheinigt, die "fahrlässig, aber nicht vorsätzlich" gewesen seien.
Das Besondere der Osnabrücker Studie sei die "bisher einzigartige Form der Betroffenenbeteiligung" als Mitglieder der Steuerungsgruppe. Als "Co-Forschende" hätten sie maßgeblichen Einfluss gehabt auf Ansatz und Methodik der Studie, so die Historikerin Siegrid Westphal, Co-Leiterin des Projekts. Max Ciolek, Karl Haucke und Katharina Kracht hatten selbst Missbrauch erlitten, allerdings nicht im Bistum Osnabrück selbst.
"Einblicke" in das Erleben von Betroffenen
Ciolek war es gewesen, der als Mitglied des Betroffenenrates beim Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs an die Osnabrücker herantrat und seine Mitarbeit anbot. "Unsere Mitwirkung hat die Sichtweise der Forschenden klar verändert", sagte Ciolek der KNA bei der Vorstellung der Studie.
Der Mitarbeit der Drei seien vor allem zwei für die Missbrauchsforschung neue Aspekte zu verdanken, so Westphal: 1. die Analyse von "Narrativen" – also deutender Formulierungen und Aussagen – rund um das Thema. Insbesondere in diesem sehr ausführlichen Teil bietet die Studie an etlichen Stellen quasi als Randbemerkung eingeklinkte persönliche Kommentare von jeweils einem der drei "Co-Forscher".
Der zweite neuartige Aspekt der Osnabrücker Studie sind sogenannte "Einblicke" in das Erleben von Beteiligten. Als verdichtete Erzählungen sollen sie "charakteristische Erfahrungen, Problemlagen und Dilemmata schildern, die in verschiedenen Tatkontexten unabhängig voneinander zu beobachten sind" – sowohl bei Opfern, Angehörigen, Tätern, Beschuldigten wie auch bei Bistumsverantwortlichen. Diese "mittelbaren Zeugnisse" basieren auf Befragungen beteiligter Personen und externer Experten sowie Akten. Sie weisen über den Einzelfall hinaus und sollen gleichzeitig notwendige Anonymität und Persönlichkeitsrechte wahren.
Abschlussbericht im Wortlaut
Der Abschlussbericht der Universität Osnabrück zu sexualisierter Gewalt durch Kleriker im Bistum Osnabrück kann auf der Internetseite der Universität abgerufen werden.
Im letzten Punkt musste das Osnabrücker Forscherteam nachbessern. Nach Veröffentlichung des Zwischenberichts im September 2022 waren einzelne Personen, Fälle und Pfarrgemeinden in der recht überschaubaren Diözese trotz Anonymisierung schnell bekannt geworden. In der aktuellen Fassung des Zwischenberichts wurden daher einzelne Stellen geschwärzt, "weil die Möglichkeit besteht, dass Rechte einer der genannten Personen verletzt worden sind".
Narrative, so Studienkoordinator Jürgen Schmiesing, hätten oft dazu beigetragen, sexualisierte Gewalt – von verbalen Grenzverletzungen bis zu schwerer körperlicher Gewalt – zu verharmlosen, wegzuschauen oder nicht zu reagieren. "In vielen Fällen", so die Studie, "lässt sich beobachten, dass die Anbahnung und Begehung sexualisierter Gewalt nicht erkannt oder als ein vermeintliches harmloses Verhalten gedeutet wurden. Solche gezielten oder unbewussten (Um-)Deutungen sorgten dafür, dass die Gewalt überhaupt erst ermöglicht und in vielen Fällen auch nicht bald beendet wurde. Oft trugen solche (Um-)Deutungen auch zur Verharmlosung, Verdeckung oder Vertuschung der Tat bei."
Abhängig davon, wer die Erklärungen vertritt (Betroffene, Beschuldigte, Kirchenleitung, Umfeld), und wie das gesellschaftliche Umfeld dachte, gibt es unterschiedliche Ansätze für derartige Narrative. Diesen widmet die Studie insgesamt gut 140 Seiten.
Pathologisierung und Kriminalisierung von Homosexualität
So wurden Beschuldigte oft pathologisiert und Vorwürfe sexualisierter Gewalt als Ergebnis krankhafter Zustände dargestellt. Ihnen wurde etwa undifferenziert Pädophilie, pathologisierte Homosexualität, Zölibatsprobleme oder eine sexuelle Entwicklungsstörung unterstellt. Mitunter finden sich solche Diagnosen auch in psychologischen oder medizinischen Gutachten. Allerdings änderten sich Zuschreibung und Wertung über die Jahrzehnte.
"Die Pathologisierung und Kriminalisierung von Homosexualität sowie die damit zusammenhängende Verknüpfung mit Pädophilie spiegelt sich in den untersuchten Fällen deutlich wider. (...) Nicht selten reichte in Gemeindekreisen das Gerücht, der Priester sei 'schwul' (ein '175er') völlig aus, um die Gerüchte um dessen sexuelle Übergriffe an Minderjährigen zu umreißen", heißt es in der Studie. Bis in die 1970er Jahre seien Taten "häufig ausschließlich unter dem Stichwort 'Homosexualität' diskutiert worden, während der Begriff Pädophilie noch gar nicht auftrat oder vehement verneint wurde".
Der Zölibat wurde zur Pathologisierung von Beschuldigten herangezogen, "weil mit dem Zölibat auch die Unterdrückung eines natürlichen sexuellen Triebempfindens verbunden wird". Disziplinübergreifend werde aber mehrheitlich die Position vertreten, dass kein direkter kausaler Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und einer zölibatären Lebensweise besteht. Diese können Missbrauch allenfalls begünstigen, wenn sie die sexuelle Entwicklung von Priestern weitergehend behindert oder Personen mit Entwicklungsstörungen prinzipiell anzieht.
Umgekehrt wurden auch Betroffene pathologisiert, indem deren Aussagen insbesondere bei Anschuldigungen und vor Gericht diskreditiert wurden: Diese selbst oder gleich deren gesamte Familie seien "schwierig", "hysterisch" oder schlicht "Psychopathen". Mitunter sei die Glaubwürdigkeit von Betroffenen so sehr relativiert worden, dass es zu einer völligen Täter-Opfer-Umkehr kam.
Anders gelagerte Narrative entstanden im Umfeld von Fürsorge und Erziehung durch Kleriker. Insbesondere eine von einzelnen Klerikern aufgezwungene Sexualaufklärung nebst Hinweisen und Übungen zur Körperhygiene – von Eltern als unangenehm vernachlässigt und in Schulen erst später thematisiert – unterlag zeitgenössischen Vorstellungen und Wertungen: von extrem rigide und tabuisiert bis extrem liberal.
"Den Beschuldigten war es in diesem Sinne möglich, das Thema 'Aufklärung' mit Inhalten zu besetzen, die letztlich der eigenen Stimulation dienten. Fast immer leiteten die Beschuldigten in solchen Fällen von ihren Erläuterungen über das Funktionieren des menschlichen Geschlechtslebens über zur Frage, ob der Betroffene schon 'so weit' oder 'reif' sei. Regelmäßig mündete diese Frage zur 'Überprüfung' in den genitalen Missbrauch der Betroffenen, wobei Masturbationshandlungen meist den Einstieg bildeten."
Streben nach Nähe Teil des Narrativs guter Jugendseelsorge
Auch wurde den Forschern von vermeintlichen "medizinischen Hilfeleistungen" bei kirchlichen Ferienfreizeiten berichtet. Diese ermöglichten "übermäßig engen Körperkontakt mit den Betroffenen in einer Art und Weise, die gegebenenfalls auch dem Umfeld gegenüber vertretbar erscheinen konnte". Meist handelte es sich um kleinere Behandlungen wie das Verabreichen von Zäpfchen, das Eincremen mit Salben, Massagen oder bestimmte eingehende körperliche Untersuchungen zu angeblich diagnostischen Zwecken im Rahmen der Ersthilfe oder Abklärung von Erkrankungen.
Ein weiteres Narrativ entstand aus dem "Klischee von 'Liebesbeziehungen' zwischen (Nachhilfe-)Lehrer und Schülerinnen (...), das in Form von Literatur und Film eine geradezu popkulturelle Dimension besitzt". Das Engagement von Geistlichen als Nachhilfelehrer in alten Sprachen sowie Musik oder anderen Fächern sei nach außen eher positiv aufgefallen.
Weiter widmet sich die Studie dem über die Jahrzehnte ebenfalls unterschiedlichen Verständnis von Nähe und Distanz in der Seelsorge: "In den späten 1960er und 1970er Jahren galt eine ausgeprägte Nähe zwischen einem Geistlichen und Kindern sowie Jugendlichen als Ausweis guter Jugendarbeit." Dabei zitieren die Autoren einen Geistlichen, der "bei Jugendfahrten darauf Wert gelegt (hatte), mit den Jugendlichen im gleichen Schlafsaal zu schlafen" und sich auch beim gemeinsamen Duschen nichts dachte. "Das ausdrückliche Streben nach Nähe war Teil des Narrativs engagierter Jugendseelsorge."
„Wahr ist, dass Tausende von Priestern Theologie gelernt haben – und sonst nichts. Sie wurden in die Jugendpastoral geschickt, ohne dafür ausgebildet zu sein“
Karl Haucke kommentiert an dieser Stelle: "Ich halte diese Einlassungen für ein Märchen, das auch heute noch beweisen soll, wie richtig, nämlich dem Zeitgeist entsprechend, damals alles war. Die Argumentation entspricht deutlich dem von Papst Benedikt propagierten Narrativ von der Mitschuld der 68er. Wahr ist, dass Tausende von Priestern Theologie gelernt haben – und sonst nichts. Sie wurden in die Jugendpastoral geschickt, ohne dafür ausgebildet zu sein."
Schließlich behandelt die Studie Narrative vermeintlicher Nichtverantwortlichkeit von Vorgesetzten. Diese habe vor allem der Entlastung der Institution Kirche sowie der Abwehr etwaiger Forderungen von Betroffenen gedient. Dabei wird einerseits die schwierige Unterscheidung von kirchlich-beruflichem wie privatem Lebensbereich von Klerikern behandelt, die derzeit auch bei einem Kölner Gerichtsprozess um die Amtshaftung der Kirche eine Rolle spielt.
Auch der kanonische Rechtsgrundsatz der "salus animarum suprema lex" (can. 1752 CIC/1983), der Schutz des Seelenheils als höchstes Rechtsgut kommt als Vertuschungsmotiv zur Sprache – um kein öffentliches Ärgernis zu erregen und das Ansehen der Kirche zu schützen. Fazit der Studie: "Spätestens durch die massenhafte Aufdeckung der Missbrauchstaten ist allerdings deutlich geworden, dass diese Abwägung moralisch ebenso falsch wie pastoraltheologisch kurzsichtig ausfiel, wenn man auf die Folgen für die Kirchenbindung blickt."
"Einblicke" orientieren sich an Fragen von Betroffenen
Die von den Forschern formulierten "Einblicke" orientieren sich vor allem an Fragen von Betroffenen. Zur Frage "Warum ich?" gibt es etwa diesen Einblick in die Jugendarbeit: "G erinnert sich an die ersten Zeltlager, damals ging er noch zur Grundschule. Sein älterer Bruder hatte ihn vorher schon gewarnt, der Pfarrer wäre nicht ganz sauber und würde sich immer bestimmte Jungen ausgucken. Die müssten dann eklige Sachen mit ihm machen. Was das genau heißen sollte, konnte oder wollte sein Bruder ihm aber nicht sagen. Im Zeltlager bekam er es dann selbst zu spüren. G merkte bald, dass der Pfarrer ihn auf dem Kieker hat – wegen jeder Kleinigkeit musste er zum Pfarrer ins Zelt. Der redete auf ihn ein, erzählte von Gott und Liebe und davon, dass Strafen auch mal nötig seien. Dabei fasste er G an und spielte auch an sich selbst herum – G verstand das damals nicht. (...Aber) das Zeltlager war doch immer ein Highlight in dem kleinen Ort, da wurde wirklich was geboten. Alle seine Freunde fuhren mit. G wollte kein Außenseiter sein und zuhause herumsitzen. Also Zähne zusammenbeißen und durch."
Zur Frage "Was macht er mit mir?" liest sich ein Einblick so: "M (...) erinnert sich, dass der Geistliche beim Kommunion- oder Musikunterricht immer wieder Gelegenheiten schuf, um junge Mädchen an sich zu ziehen und sie zu berühren. Der Vater einer Freundin warnte den Pfarrer, so etwas nicht noch einmal mit seiner Tochter zu machen – er lässt die Tochter in Ruhe, aber aufgehört hat er nicht."
Auch die kontrovers debattierten Zahlungen zur Anerkennung des Leids werden beleuchtet: "T öffnet den Brief des Bistums. Schon vor Monaten hat sie die schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens völlig fremden Personen erzählt. (...) Das hat sie große Überwindung gekostet, aber für das "Verfahren für Leistungen in Anerkennung des Leids" ist es angeblich notwendig. Schließlich musste sie einen schriftlichen Antrag stellen und alles noch mal aufschreiben. Erst jetzt – ein halbes Jahr später – hat sie einen Zwischenbescheid erhalten. Lapidar heißt es darin, man habe ihren Antrag nun weitergeleitet und müsse mit einer mehrmonatigen Bearbeitungszeit bei der zuständigen Kommission in Bonn rechnen. (...) Das Schreiben ist ein Formbrief, den das Bistum wohl an alle Betroffenen geschickt hat. T ist fassungslos (...)"
In einer Stellungnahme des Bistums würdigte Generalvikar Ulrich Beckwermert vor allem die entwickelten Narrative und Einblicke; diese gäben wichtige Impulse für Prävention und Bildungsarbeit. Laut Heinz-Wilhelm Brockmann, externer Sprecher der Monitoring-Gruppe zum diözesanen Schutzprozess, könnten sie zu klugem und entkrampftem Umgang mit Sexualität und sexualisierter Gewalt beitragen.