Nach Vorwürfen gegen früheren Essener Bischof neuer Ansatz der Aufarbeitung

Missbrauchsstudie untersucht ganzes Leben von Kardinal Hengsbach

Veröffentlicht am 21.10.2024 um 14:00 Uhr – Lesedauer: 

München/Hamburg ‐ Heiliger oder Täter? Soziologen und Historiker wollen die Missbrauchsvorwürfe gegen den früheren Essener Kardinal Franz Hengsbach untersuchen. Am Ende der Studie soll auch eine neue Biografie des Geistlichen stehen.

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Es soll nicht nur um die mutmaßlichen Missbrauchstaten eines hohen Kirchenmanns gehen – sein ganzes Leben soll unter die Lupe genommen werden: Mit einer soziologisch-historischen Studie wollen Forscher die Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen den früheren Essener Bischof, Kardinal Franz Hengsbach (1910-1991), wissenschaftlich aufarbeiten. Die Studie ist auf drei Jahre angelegt, wie die verantwortlichen Wissenschaftler am Montag in einer Online-Pressekonferenz mitteilten.

Frühere Aufarbeitungsstudien hätten häufig bestimmte Regionen wie zum Beispiel ein Bistum untersucht, sagte der Hamburger Historiker Thomas Großbölting. "Diesmal wird eine Biografie im Vordergrund stehen. Wir hoffen, dass wir mit dieser neuen Form der Untersuchung noch mal einen innovativen Akzent setzen können." Die Bistümer Essen und Paderborn hatten vor einem Jahr zwei Missbrauchsvorwürfe gegen den von vielen verehrten und bis heute vor allem als Anwalt der Arbeiter und Bergleute im Ruhrgebiet populären Hengsbach bekannt gemacht. Sie beziehen sich auf die 1950er- und 1960er-Jahre, waren aber erst später gemeldet und zunächst für unplausibel erklärt worden. Mittlerweile seien sieben weitere Hinweise auf mögliche sexualisierte Gewalt beim Bistum Essen eingegangen, sagte Generalvikar Klaus Pfeffer.

Die Beschuldigungen beziehen sich zum einen auf Hengsbachs Amtszeit als erster Bischof des damals neu gegründerten Ruhrbistums Essen (1958-1990), zum anderen auf die Zeit davor als Priester und Weihbischof im Erzbistum Paderborn (bis 1958). Hengsbach hatte darüber hinaus viele weitere wichtige Rollen in der katholischen Kirche inne: Er war Militärbischof (1961-1978), Generalsekretär und -assistent im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK, 1947-1968) und Vorsitzender des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat. Alle fünf Institutionen haben die Studie gemeinsam in Auftrag gegeben. Beauftragt wurden das Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München und die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Beide waren schon an mehreren kirchlichen Missbrauchsstudien beteiligt.

"Nicht nur die Produktion einer Skandalgeschichte"

Der sozialwissenschaftliche Teil der Studie wolle die aktuellen Meldungen im Bistum Essen und den Umgang der Bistumsverantwortlichen damit aufarbeiten, sagte die Soziologin Helga Dill. Es gehe aber auch darum, ob und inwieweit Hengsbach in seinen anderen Tätigkeitsfeldern Missbrauch oder Vertuschung nachgewiesen werden könne.

Der historische Teil wolle einen Beitrag zur Bewertung der Person Franz Hengsbach leisten, der über die Missbrauchsvorwürfe hinausgeht, so der Historiker David Rüschenschmidt. Leitfragen seien etwa, wie sich Hengsbach zu gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen positionierte, welches Priesterbild er hatte und wie er über Sexualmoral dachte. "Unsere Intention ist nicht nur die Produktion einer Skandalgeschichte." Vielmehr solle eine historische Biografie entstehen.

Die Forscher baten alle Menschen, die selbst sexualisierte Gewalt durch Hengsbach erlebt haben, sich bei ihnen zu melden. Auch an den Aussagen von Zeitzeugen, die den Geistlichen persönlich erlebt haben, seien sie interessiert. Die Studie kostet nach Angaben der Forscher 785.000 Euro. Abschlussergebnisse wollen sie im Herbst 2027 präsentieren. Vorher sollen bereits Zwischenergebnisse veröffentlicht werden. (KNA)