Theologe Miggelbrink: "Heilige sind Schutzwall gegen Klerikalismus"
Am 1. November gedenkt die katholische Kirche aller ihrer Heiligen – auch derer, die es nicht auf die offizielle Liste der Kanonisierten geschafft haben. Im Interview mit katholisch.de erklärt Ralf Miggelbrink, Professor für Systematische Theologie an der Universität Duisburg-Essen, warum es einen Hunger nach Vorbildern gibt. Er identifiziert einen Nachholbedarf, beispielsweise bei weiblichen Heiligen und solchen aus anderen Kulturen und verrät, warum ihm Heilige angesichts des kirchlichen Bodenpersonals oft als Trost dienen.
Frage: Herr Professor Miggelbrink, Johannes Paul II. war mit 482 lange Rekordhalter bei Heiligsprechungen, Franziskus hat ihn mit über rund 900 Heiligsprechungen inzwischen aber überholt. Warum gibt es aktuell so viele Heiligsprechungen?
Miggelbrink: Ich habe mich im Gegenteil schon immer gefragt, warum wir so wenige Heilige haben. Wenn man Heiligsprechung als ‚Anerkennung von Menschen in ihrem vorbildhaften Leben‘ versteht, sollte es doch eigentlich mehr Vorbilder geben. Es gibt bei den Heiligen ein großes Gendergap und Nachholbedarf bei anderen Kulturen und Kontinenten. Die meisten Heiligen sind männliche weiße Europäer, keine Frauen, US-Indigene oder Afrikaner. Es stand und steht Johannes Paul II. und Franziskus sicher vor Augen, dass es da einen Ausgleich geben muss.
Frage: Trotzdem gibt es die Kritik, dass eine gerade inflationäre Zahl an Heiligsprechungen die Bedeutung der Heiligkeit aushöhlt…
Miggelbrink: Die Anwendung der Inflations-Metapher auf Heilige finde ich problematisch. Inflation bedeutet Entwertung. Aber etwas, das in einer großen Menge da ist, wird nicht automatisch entwertet. Ich hoffe sogar, dass es noch sehr, sehr viel mehr Heilige gibt. Wir können sie nur nicht alle überall auf der Welt mit Namen und Biografie verehren. Da kommt die Kirche an Leistungsgrenzen. In regionalen Kontexten ist das schon leichter. Aber wie gesagt: Ich glaube nicht, dass die aktuelle Praxis irgendwie gefährlich ist für die Bedeutung der Heiligsprechungen insgesamt.
Frage: Gibt es unter Gläubigen einen Hunger nach Vorbildern?
Miggelbrink: In der Kirche wird viel auf abstrakte Formeln gebracht – nehmen Sie die Dogmatik, das Glaubensbekenntnis. Gläubige haben aber das Bedürfnis nach einer konkreten Gestalt, nach Plastizität. Das wird durch die Heiligen sehr gut bedient. Gleichzeitig ist das Wissen über Heilige oft eher dürftig. Nehmen Sie den Heiligen Antonius. Der wird im norddeutschen Raum oft angerufen, aber die wenigsten wissen wohl, dass er im dritten und vierten Jahrhundert als Einsiedler in der Wüste gelebt hat und eigentlich gar nicht viel zu tun hatte mit der norddeutschen Region.
Frage: Beim Heiligsprechungsverfahren müssen auch Wunder nachgewiesen werden. Franziskus hat 2013 den Italiener Antonio Primaldo und seine 800 Gefährten zusammen an einem einzigen Tag heiliggesprochen. Wie kann das Verfahren bei einer solchen Masse aufrechterhalten werden?
Miggelbrink: Bei diesem Beispiel handelt es sich um Märtyrer, die gemeinsam angerufen werden. Die Wunder gehen sozusagen auf deren gemeinsames Konto. Aber es stimmt, die Voraussetzung der Wunder ist schwierig. Sie kommen mir vor wie eine Art Staatsexamen, die die Heiligen bestehen müssen (lacht). Im Ernst: Das ist eben eine Schutzbestimmung, dass es nachvollziehbar bleibt, warum bestimmte Menschen in der Kirche als heilig verehrt werden.
Frage: Was passiert, wenn später ans Licht kommt, dass es auch problematische Aspekte an einer Person gab?
Miggelbrink: Das kommt durchaus vor – denken Sie an den heiligen Josemaria Escriva, den Gründer des Opus Dei. Er steht heute unter anderem wegen seines Verhältnisses zur Franco-Diktatur und Vorwürfen von Machtmissbrauch im Opus Dei in einem zwiespältigen Licht. Als äußerste Möglichkeit gibt es in solchen Fällen die Entkanonisierung, also jemanden von der Liste der Heiligen zu streichen. Dadurch wird aber die kirchliche Autorität infrage gestellt. Daher ist die übliche Vorgehensweise der Trick des Vergessens. Statt zu benennen, dass es eine irrtümliche, übersteigerte Wertschätzung für jemanden gegeben hat, wird die Heiligenverehrung einfach nicht mehr forciert.
„Es gibt bei den Heiligen ein großes Gendergap und Nachholbedarf bei anderen Kulturen und Kontinenten. Die meisten Heiligen sind männliche weiße Europäer, keine Frauen, US-Indigene oder Afrikaner.“
Frage: Zeigen Missbrauchsskandal und Klerikalismus nicht, dass eine Überhöhung von Personen generell problematisch ist?
Miggelbrink: Viele Heilige waren einfache Leute aus dem Volk – und bilden damit eine Art Schutzwall gegen den Klerikalismus. Sie sind Vorbilder, an denen sich auch Katholiken orientieren können, die mit der Amtskirche und deren Vertretern nicht zurechtkommen. Für mich war dieser heilige Himmel immer eine trostreiche Vorstellung angesichts der Kirchenbeamten, mit denen wir zu tun haben: Ich bin mit den Bischöfen nicht allein und mit manch aufgeblasenem Kollegen.
Frage: Wie stehen Sie dann zu heiligen Päpsten?
Miggelbrink: Ich finde es nicht sinnvoll, dass wir ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert plötzlich anfangen, alle Päpste heilig zu sprechen. Die Päpste taugen insofern nicht als Vorbild, als die allerwenigsten Menschen eine ähnliche Lebenssituation haben. Päpstliche Vorbilder sind nur schwer nachahmbar. Und wir hatten gerade das Stichwort Klerikalismus: Durch die Heiligsprechungen wird das Papstamt weiter überhöht.
Frage: Gerade Johannes Paul II. wurde ja sehr schnell heiliggesprochen, inzwischen zeigt sich, dass er möglicherweise Fehler bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals gemacht hat…
Miggelbrink: Bei Johannes Paul II. ist die Heiligsprechung in einem Tempo betrieben worden, das jeder Vernunft entbehrt. Es war abzusehen, dass der Hype nach seinem Tod irgendwann abflacht und auch die negativen Seiten seines Pontifikates in den Blick kommen. Das ist kirchengeschichtlich auch notwendig, aber so wird nun eben die Heiligkeit diskreditiert. Die Konsequenz sollte sein, mit den Heiligsprechungen länger zu warten.
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