Gibt es Heiligkeit nur durch Reinheit, Leiden und Opferbereitschaft?

Theologe Wintzek zu Allerheiligen: "Es braucht politische Heilige!"

Veröffentlicht am 01.11.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Ist Heiligenverehrung noch zeitgemäß? Ja, sagt der Mainzer Dogmatiker Oliver Wintzek und rät, an Allerheiligen den Blick vor die eigene Haustür zu richten. Ein katholisch.de-Interview über inflationäre Heiligsprechungen, Kirchenpolitik und die Zukunft der Heiligenverehrung.

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"Hochfest Allerheiligen" – was sperrig klingt, bedarf einiger Erklärung: Ohne die Grundlagen katholischer Heiligenverehrung bleibt das Fest fremd. Der Mainzer Systematik-Professor Oliver Wintzek wirft im Interview einen ungewohnten Blick auf das Fest, die katholische Heiligenverehrung und überkommene Frömmigkeitsformen.  

Frage: Herr Professor Wintzek, ist es noch zeitgemäß, Heilige zu verehren und Menschen heiligzusprechen, um sie damit zum objektiven Vorbild zu erheben?

Wintzek: Wir sollten zunächst eine allzu oft verinnerlichte Form der Frömmigkeit hintenanstellen und uns von eingeübten Sprach- und Bildwelten verabschieden. Ich denke hier an Gemälde und Skulpturen von Heiligen oder auch etliches im traditionellen Liedgut, wo uns verzückt-entrückte fromme Ausnahme-Athletinnen und -Athleten vor Augen geführt werden. Zur Frage der Zeitgemäßheit kann jedoch jenes Heilgenlied einen hilfreichen Einstieg ermöglichen: "Ihr Freunde Gottes allzugleich" (GL 542). Die klassische Definition von Freund ist jemand, der dasselbe will und dasselbe nicht will, wie sein Gegenüber. Bei Heiligen ist das Gott. Ich halte Heilige – verstanden als Übersetzer und Ins-Werk-Setzerinnen dessen, was Gott will – für sehr zeitgemäß, sonst fehlte Gott, der sich nur menschlich bekundet. Wer indes festlegt, wer als Freund oder Freundin Gottes in diesem Sinne gelten könnte, ist nicht unproblematisch, da dadurch ja auch gewissermaßen festgestellt wird, was Gottes Wille ist.

Frage: Und was will Gott?

Wintzek: Wenn das so einfach wäre … Das ist wie die "Suchbezeichnung Gott" nicht fix und lässt sich – wenn überhaupt – nur ausmachen, wenn dies am Puls der jeweiligen Zeit erfolgt. Deswegen gibt es in der Kirche auch recht verschiedene Typen von Heiligen: Die neutestamentlichen Heiligen wie etwa Petrus und Paulus, Märtyrer wie die heilige Lucia – um auch eine der unterrepräsentierten Frauen zu nennen –, Missionsheilige wie der heilige Martin oder Bonifatius, Mönchsheilige wie Benedikt, Theologenheilige wie Thomas von Aquin und Reformheilige wie Franziskus, Ignatius oder Philipp Neri. Zudem gibt es eine Gruppe, die ich sehr kritisch sehen muss: kirchenpolitische Heilige.

Bild: ©Privat

Oliver Wintzek studierte in Freiburg, Jerusalem und Rom und habilitierte sich an der Universität Freiburg im Fach Fundamentaltheologie. Seit 2020 ist er Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Katholischen Hochschule Mainz. Zusätzlich arbeitet er als Kooperator an der Mannheimer Jesuitenkirche.

Frage: Was meinen Sie damit?

Wintzek: Meine These ist: Es geht es um gegenmoderne Entweltlichungs- und moraline Reinheitsphantasien. Ein Beispiel ist der sprichwörtliche Pfarrer von Ars, Jean-Marie Vianney, der ein spezielles Priesterbild transportieren soll, das im "Jahr des Priesters" 2009 unter Benedikt XVI. eindrucksvoll in Szene gesetzt wurde – in direkter Bezugnahme auf Vianney. Ein reaktionäres Kirchenbild in Opposition zu den Errungenschaften der Modere soll etwa Pius X. transportieren. Nah an der Gegenwart muss Josemaría Escrivá, der Gründer des "Opus Dei" erwähnt werden. Auch mit ihm wird eine bestimmte Form von Kirche sozusagen göttlich legitimiert. So verhält es sich zweifelsohne auch bei Johannes Paul II. Mit dessen Heiligsprechung soll ein sehr eindeutiges Moralverständnis und eine sehr eindeutige Geschlechteranthropologie als sakrosankt gelten und der weiteren Diskussion entzogen werden. Man muss somit bei der Fülle der durchaus divergenten Heiligen durchschauen, was damit propagiert werden soll, oder – um im Bild der Freundschaft zu bleiben – welche Form der Gottesfreundschaft normativ in die Kirche hineinwirken soll. Das sieht man nicht zuletzt an Kirchenpatrozinien. Sie lassen erkennen, welche Vorstellungen des Kirchlich-Christlichen in der Bauzeit zeitgeistbedingt gepusht werden sollten.

Frage: Sie sagen, dass Heiligenverehrung nicht immer unschuldig ist und dahinter kirchenpolitische Interessen stehen. Oft erzählen Heiligengeschichten von Jungfräulichkeit, besonderer Reinheit, großem Leiden oder einer hohen Opferbereitschaft. Welche Kategorien würden Sie ergänzen?

Wintzek: Ich würde nicht nur ergänzen, sondern ich würde manche Kategorien, die etwa bei den inflationären Heiligsprechungen durch Johannes Paul II. leitend waren, als zumindest suboptimal bezeichnen. An ihnen zeigt sich eine überwiegende moralisierende Frömmigkeit. Wie Doris Reisinger gerade gezeigt hat, steht bei den jüngeren Heiligsprechungen zudem der weiße Mann im Fokus, der im besten Fall Priester oder Ordensmensch ist. Auch damit wird eine entweltlichte Frömmigkeit stark gemacht, die der Kirche gehörig auf die Füße fällt oder noch fallen dürfte.

Frage: Und was ist die Alternative?

Wintzek: Es sollte darum gehen, Vorbilder im Gottesglauben zu finden und stark zu machen, die mitten in der Welt stehen. Nur haben solche Personen in Bezug auf die Heiligsprechung – die ja nicht vom Himmel fällt – keine Lobby. Ich finde: Es braucht politische Heilige, wenn man möchte Heilige der Caritas, die für eine erneuerte solidarische Gesellschaft stehen.

Bild: ©KNA

An den "inflationären Heiligsprechungen" (482) von Johannes Paul II. zeige sich "eine überwiegend moralisierende Frömmigkeit", sagt Oliver Wintzek. Damit werde eine "entweltlichte Frömmigkeit" stark gemacht, "die der Kirche gehörig auf die Füße fällt oder noch fallen dürfte."

Frage: Was sind das für Menschen?

Wintzek: Vielleicht Sie, vielleicht Ich, vielleicht die Leserinnen und Leser. Aber bitte nicht als verzückt blickende Ausnahmegestalten, sondern als Menschen, die in und für die Kirche einfordern, dass sie am Puls der Zeit bleibt. Die Kirche muss gegenwartskompatibel sein. Damit verböten sich solche Modernisierungs-Blockade-Heilige wie zum Beispiel Pius X., auf den sich heute auch nur noch die Piusbrüder beziehen. Die Kirche ist ein Player in unserer offenen Gesellschaft, bei der es kein "Zurück zu" gibt, keinen Indietrismus, wie Papst Franziskus es nannte.

Frage: Gibt es denn schon Heilige, die diesen traditionellen Mustern nicht entsprechen?

Wintzek:  Das ist schwierig. Am ehesten fallen mir Reformheilige wie der schon genannte Franz von Assisi ein. Das waren durchaus revolutionäre Typen, mit einer Frömmigkeit am Puls der Zeit, die zu ihrer Zeit wirklich innovativ war. Sie haben der Kirche Zukunftspotentiale gezeigt und waren damit den offiziellen Kirchenvertretern meistens ziemlich zuwider. Ignatius wurde mit seiner neuen, modern individuellen Frömmigkeit bekanntlich von der Inquisition verdächtigt.

Frage: Das ist ja aber schon lange her …

Wintzek: Ein jüngeres Beispiel ist sicherlich Óscar Romero in Lateinamerika. Das war eine heikle Phase im Pontifikat von Johannes Paul II. Der Papst forcierte einen Antikommunismus, das bedeutete auch, dass alles, was irgendwie nach sozialer Gerechtigkeit roch, gefährlich erschien. Romeros Heiligsprechung ließ dann auch lange auf sich warten. Er ist eine Revolutionsgestalt im besten Sinne und vor allen Dingen eine Gestalt, die beständig verehrt wurde und als Vorbild galt – ohne die päpstliche Heiligsprechung. Durch den Schub der Verehrung der Gläubigen bekam er das Gütesiegel der Heiligkeit. Eine offizielle Feststellung der Heiligkeit allein reicht bestimmt nicht. Ich wage die These, dass 99 Prozent derer, die von Johannes Paul II. heiliggesprochen wurden, keine allzu große Rezeptionsgewalt auf sich vereinen.

Bild: ©Cristian Gennari/Romano Siciliani/KNA

Ein Priester mit einem Bild von Oscar Romero bei dessen Heiligsprechung 14. Oktober 2018. Romero war von 1977 bis zu seiner Ermordung 1980 Erzbischof der Hauptstadt San Salvador. Er war Wunschkandidat der Militärdiktatur, entwickelte sich jedoch als Erzbischof zu einem Befürworter der Befreiungstheologie. Wegen seines Einsatzes für die arme Landbevölkerung El Salvadors und seines Märtyrertods wurde er bereits kurz nach seiner Ermordung von den Salvadorianern als Heiliger verehrt. Papst Franziskus sprach ihn 2018 heilig.

Frage: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang Allerheiligen?

Wintzek: Allerheiligen sollte uns anregen zu fragen, auf welche Heiligen wir eigentlich blicken oder blicken wollen. "Alle Heiligen" ist ja schön gesagt, aber wäre es nicht am Puls der Zeit, wenn wir Vorbilder für Gottesgläubigkeit zuallererst in unserem unmittelbaren Umfeld ausmachten? Ich meine damit – vorzugsweise lebende – Menschen christlichen Glaubens, die in und für die Gegenwart innovativ ihren Glauben leben. Das würde bedeuten, nicht darauf zu warten, dass es irgendwann für diese Menschen ein römisches Gütesiegel gibt, sondern den Blick auf markige, zukunftsweisende Personen zu richten. Da fielen mir durchaus Gestalten ein, die im Sinne der genannten Reformheiligen in Frage kämen. Damit verlagert sich der Blick, was die Heiligen angeht, von den Generationen vor uns auf die Gegenwart.

Frage: Und das sind dann "Heilige"?

Wintzek: Der Begriff Heiliger hat bekanntlich einen signifikanten Bedeutungswandel durchgemacht. Die paulinische Basis des Begriffs, erinnert daran, dass Heilige die Christgläubigen der Gegenwart sind. Das ist nicht so sehr moralisch gemeint, sondern ergibt sich aus ihrer Bindung, ihrem Glauben und ihrem Vertrauens an den schlechthin Heiligen, an Gott selbst - und da sind wir wieder bei den Freunden Gottes.

Frage: Meinen Sie damit das, was der Papst meint, wenn er davon spricht, dass jeder und jede zur Heiligkeit berufen sei, "nicht als Kopie der offiziellen Heiligen, sondern als je eigenes Original"?

Wintzek: Durchaus, auch wenn ich mich nicht des päpstlichen Sprechs bedienen würde. Es ist nicht egal wie du dein Leben führst. Auch fromme Lebensfundamente können durchaus problematisch sein, wenn es nur um individuelle Erbauung geht. Ich halte es stattdessen mit einer der Welt zugewandten Heiligkeit, die Gottes Weltzugewandtheit auf je eigene Weise in Werk setzten will. "Propter nos homines et propter nostram salutem" – "für uns Menschen und zu unserem Heil", wie es treffend im Glaubensbekenntnis heißt. Es geht mithin um eine sozial-revolutionäre Heiligkeit, die daran festhält, dass es Gott um eine neue, eine erlöste Welt geht – und da ist offensichtlich noch viel Luft nach oben.

Frage: Das heißt: Fürsprecher und Fürsprecherinnen finden sich vor der Haustür?

Wintzek: Hoffentlich genau dort. Die Idee der Fürsprache durch Heilige meint ja eine Idee der Solidarität. Diachron durch die Zeiten – wie man sich das auch immer vorstellen mag – und vor allem synchron im Hier und Jetzt. Ich halte es namentlich in Bezug auf die Fürbitte der Heiligen mit Immanuel Kant. Er schreibt in seiner Religionsschrift, das Bittgebet diene nicht der Ersetzung, sondern der Förderung der Tugendgesinnung. Da sind wir erneut bei der synchronen Solidarität im Hier und Jetzt. Unser engagiertes Bezugnehmen auf einen für uns entschiedenen Gott, macht uns zu Freundinnen und Freunden Gottes. Darum geht es an Allerheiligen – jedenfalls mir.

Von Benedikt Heider