Du bist Petrus
Am 18. Juli 1870 war es soweit: Das Konzilsdokument "Pastor aeternus" hält fest, dass der Papst "unfehlbar" sprechen kann – allerdings nur dann, wenn er "in Ausübung seines Amtes" eine Definition einer "Glaubens- und Sittenlehre" vornimmt (Kap. 4, Das unfehlbare Lehramt des Römischen Bischofs, 3074-3075). Doch wie kam es dazu?
Bereits zwei Jahre zuvor, am 29. Juni 1868, hatte Papst Pius IX. das Erste Vatikanische Konzil einberufen. Von Beginn an war klar: Ein bestimmendes Thema sollte die Abwehr von modernen Entwicklungen sein, die die Kirche als Irrtümer betrachtete – wie zum Beispiel der Forderung, dass sich der Papst mit dem Liberalismus und der heutigen Zivilisation versöhnen müsse. Oder auch der These, dass es jedem Menschen frei stünde, zu welcher Religion er sich bekenne. Zur Abwehr brauchte es Dogmen – also Sätze, die von der katholischen Kirche durch lehramtliche Autorität festgesetzt werden. Um aber in entscheidenden Fragen für die Gläubigen möglichst rasch Klarheit schaffen zu können, forderte ein großer Teil der eingeladenen Bischöfe, Beratungen über ein ganz bestimmtes Dogma aufzunehmen: Der Papst sollte "unfehlbar" sprechen können. Papst Pius IX. nahm diesen Antrag gerne an.
Eine Gewissensfrage
Bei den Beratungen in der Konzilsaula war man sich jedoch nicht einig. Ein Fünftel der Konzilsväter mobilisierte gegen ein Unfehlbarkeitsdogma: Fast alle Bischöfe aus Deutschland und Österreich, auch Würdenträger aus Frankreich und der Schweiz. "Es muss die komplexe Gemengelage beachtet werden, in der theologische, kirchliche, sozialpsychologische und politische Belange aufeinandertrafen", sagt Julia Knop, die in Münster den Lehrstuhl für Dogmatik vertritt, katholisch.de.
Die Mehrheit der Konzilsväter sei der Meinung gewesen, dass der Papst auf die Kompetenz des Bischofskollegiums und den Glauben der Gesamtkirche angewiesen sei. Sie wollten aber dennoch eine "letzte Instanz" schaffen, die – sollte es unter den Bischöfen Differenzen geben – "nicht uneinig" sein konnte. Diese Rolle sollte dann dem Papst zufallen. Um nicht gegen den Entwurf stimmen zu müssen, verließen die rund 60 Gegner schlussendlich noch vor der Abstimmung die Stadt. Dadurch konnte das Dogma vom Konzil fast einstimmig angenommen werden.
Die Konzilsväter begründen die Unfehlbarkeit des Papstes mithilfe eines "göttlichen Beistandes, der ihm im heiligen Petrus verheißen wurde". Untermauert wird dies oft durch eine Bibelstelle aus dem Matthäusevangelium (Mt 16,18f.). Dort spricht Jesus zu seinem Jünger Simon Petrus: "Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen."
Weiter spricht Jesus davon, Petrus – und damit nach katholischem Verständnis auch den Päpsten – "die Schlüssel des Himmelreichs" auszuhändigen. Die Bischöfe legten jedoch ebenfalls fest, dass es dem Pontifex nicht möglich sei, zu jedem frei gewählten Thema eine unfehlbare Wahrheit zu verkünden. Seine Macht, unfehlbar zu sprechen, beschränkt sich daher auf Themen der "Glaubens- und Sittenlehre".
Kritik vom Dogmatiker Hans Küng
Der Tübinger Dogmatiker Hans Küng, dem die Deutsche Bischofskonferenz 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis entzog, sieht diese Beschränkung nicht. Er sagt: "Wenn der Papst nur will, so kann er alles auch ohne die Kirche." Dem widerspricht die Dogmatikerin Knop: "Der Papst kann schon deshalb nichts ohne die Kirche, weil er in einer letztinstanzlichen Entscheidung auf den Glauben der Kirche verwiesen ist, den er bewahren, bezeugen und interpretieren muss." Auch sei eine solche Entscheidung immer Zeugnis des Glaubens, keine neue Inspiration, so Knop.
Der Theologe August B. Hasler deutet das Unfehlbarkeitsdogma dagegen ähnlich wie Küng. Er schreibt, dass jede Instanz fehle, die "eine Übereinstimmung der päpstlichen Entscheidungen mit der Schrift und der Tradition überprüfen und feststellen oder verneinen könnte". Zusätzlich sagt er, dass die Bibelstelle Mt 16,18f. ("Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen") von den meisten Exegeten nicht als Originalzitat Jesu angesehen würde – damit hinterfragt Hasler jedoch nicht nur das Unfehlbarkeitsdogma, sondern das Papstamt in Gänze.
Konkret angewandt wurde die Unfehlbarkeit des Papstes erstmals im Jahr 1950. Papst Pius XII. erklärte: "Wir verkünden, erklären und definieren es als ein von Gott geoffenbartes Dogma, dass die Unbefleckte, allzeit jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Ablauf ihres irdischen Lebens mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen wurde." Bei dieser einen Anwendung ist es bisher geblieben. Für Knop ist das nicht verwunderlich: "Solche unfehlbaren Definitionen fallen in den Bereich des außerordentlichen Lehramts", erläutert die Theologin. "Sie gehören also nicht zum alltäglichen Lehrformat." Außerdem definiere ein Dogma Grenzen: Es stecke, so die Theologin, das Feld des Katholischen ab, wenn dies "um der Einheit des Glaubens willen absolut nötig erscheint". Beispielsweise dann, wenn ein schwerwiegender theologischer Konflikt besteht.
Es gibt noch zwei weitere Lehrsätze, die von einigen Theologen als unfehlbar betrachtet werden, obwohl sie schon vor dem Ersten Vatikanischen Konzil verkündet wurden: zum einen das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens (Pius IX., 1854), zum anderen der Lehrsatz über die sofort beseligende Gottesschau der Heiligen (Benedikt XII., 1336) – damit vertrat die Kirche die Meinung, dass verstorbene Heilige direkt nach dem Tod Gott begegnen sollen, und nicht erst mit dem Jüngsten Gericht nach Ende der Geschichte. "Wie viele Dogmen man jedoch zählt, hängt davon ab, welche Definition von 'Dogma' man zugrunde legt", so Knop. "Ganz unabhängig davon wäre es eine grobe Verkürzung, wollte man den Glauben auf die Annahme formal definierter Dogmen reduzieren."
Wie steht Papst Franziskus zur Unfehlbarkeit?
Die Diskussionen um das Unfehlbarkeitsdogma sind seit seiner Festschreibung nie abgeebbt. Direkt nach der Verkündung des Lehrsatzes im Jahr 1870 spaltete sich eine Gruppe von Gläubigen ab. Sie gründeten die Alt-Katholische Kirche, die eine unfehlbare Instanz der Kirche nicht kennt.
Von Papst Franziskus jedenfalls sind wohl eher keine unfehlbaren Lehrentscheidungen zu erwarten. Er betont nicht "die eigene Unfehlbarkeit", sondern spricht im Zuge der Unfehlbarkeit lieber über die Gläubigen: "Das Ganze der Gläubigen ist unfehlbar im Glauben. Es zeigt diese Unfehlbarkeit im Glauben durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes Gottes auf dem Weg." In die gleiche Kerbe schlägt der Pontifex, wenn er in "Evangelii gaudium" schreibt: "Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen." Das war zwar zumindest für eine Mehrheit der Bischöfe nie das Ziel eines Unfehlbarkeitsdogmas – als ein Signal kann es trotzdem verstanden werden.